Titel:
Unbegründete Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Einzelfall
Normenketten:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Ein erwachsener taubstummer, im Übrigen gesunder und erwerbsfähiger Mann würde im Fall seiner Abschiebung nach Armenien keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Armenischer Asylbewerber armenischer Volks- und christlicher Religionszugehörigkeit, Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes und Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten, Sprach- und Gehörlosigkeit, Armenien, taubstumm
Fundstelle:
BeckRS 2021, 21989
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der dokumentenlose und nur seinen Angaben zu Folge am 13. Februar 1984 in * in Armenien geborene Kläger ist armenischer Staatsangehöriger unbekannter Volkszugehörigkeit christlicher Religionszugehörigkeit und hielt sich vor seiner Ausreise zuletzt in Artaschat in der Provinz Ararat auf (BAMF-Akte Bl. 78). Er reiste nach eigenen Angaben aus Armenien aus und u.a. über Russland und Griechenland am 30. Juni 2017 mit seiner Ehefrau und deren zwei Kindern, den Klägern im Parallelverfahren (Au 6 K 19.30297), unerlaubt nach Deutschland ein, wo er Asyl beantragte.
2
In seiner auf Armenisch geführten und vom älteren Kind in die Gebärdensprache übersetzten Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 10. September 2019 gab der sprach- und gehörlose Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 77 ff.), er habe in Armenien einen Personalausweis, einen Reisepass und einen Ausweis, dass er Invalide 2. Grades sei, gehabt und keine Probleme gehabt, diese Unterlagen zu bekommen; sie seien jedoch in einem durchsichtigen Paket gewesen und verloren gegangen (ebenda Bl. 78). Er habe 7-8 Jahre lang mit seiner Familie in Artaschat in einer Eigentumswohnung der Mutter seiner Ehefrau gewohnt (ebenda Bl. 79). Auch alle Unterlagen über die Reise seien verloren gegangen, die Flucht habe 10.000 $ gekostet und dafür habe die Ehefrau das Haus verkauft (ebenda Bl. 79). Sein Vater lebe noch in, er habe zu ihm keinen Kontakt mehr, Onkel und Tanten seien gestorben; der Kläger habe 8 Jahre lang eine Schule in * besucht, sei auch sehr gut in der Schule gewesen, sei krank gewesen und nach Moskau gebracht worden, wo er eine Spritze bekommen und danach alles verloren habe, was er im Kopf gehabt habe, auch sein Gehör (ebenda Bl. 80). Er habe auch keinen Beruf erlernt. Er habe sich um Arbeit bemüht, aber keine bekommen (ebenda Bl. 80), die wirtschaftliche Lage sei sehr schlecht gewesen, er habe nicht in Ruhe leben können und von der Rente gelebt, die aber sehr niedrig gewesen sei und er habe keine andere Unterstützung erhalten (ebenda Bl. 80).
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Zu seinen Fluchtgründen gab er an, das Leben sei schwer gewesen, über ihn sei gelacht worden, seine Rente sei niedrig gewesen und habe nicht zum Leben gereicht und die Kinder hätten Kindergarten und Schule besucht und seien dort auch ausgelacht worden; das seien alle seine Asylgründe (ebenda Bl. 81). Er habe niemals Probleme gehabt und habe sich ferngehalten von der Polizei, er sei ein gesetzestreuer Bürger (ebenda Bl. 81). Es habe aber ständig Streit mit seinen Freunden gegeben, die ihn betrogen hätten, sie hätten ihn dann aber nicht zur Arbeit gebracht, sondern woanders hin. Würde er zurückkehren, würde es wieder diese Streitigkeiten geben und er würde wieder ausgelacht und betrogen werden (ebenda Bl. 81). Wie viele Schulden er habe, wisse er nicht, es seien aber große Schulden; außer der Taubstummheit habe er nur Probleme mit dem Kopf, starke Kopfschmerzen, seit 6 Jahren; sie seien in ärztlicher Behandlung gewesen, hätten deswegen sogar Schulden gemacht, aber es habe nicht geholfen (ebenda Bl. 81).
4
Er sei auch in Deutschland in ärztlicher Behandlung und bekäme Medikamente, die ihm helfen würden; von den armenischen Medikamenten sei sein Zustand schlechter geworden (ebenda Bl. 81).
5
Seine Gründe würden auch für seine Kinder gelten; er wolle nichts ergänzen.
6
Auf dem Kontrollbogen bestätigte der Kläger, es habe bei der in armenischer und Gebärden-Sprache durchgeführten Anhörung keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben, das rückübersetzte Protokoll entspreche seinen Angaben und diese seien vollständig und entsprächen der Wahrheit (BAMF-Akte Bl. 76).
7
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 25. Februar 2019 den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) sowie auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG ab (Nr. 4). Die Abschiebung nach Armenien wurde angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen, weil der Kläger eine Verfolgung im Herkunftsstaat nicht habe glaubhaft machen können. Eine konkrete Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal habe er nicht erlitten. Weder die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse in Armenien noch der ständige Streit mit seinen Freunden oder dass er und seine Kinder dort ausgelacht oder von Freunden betrogen wurden, sei eine Verfolgungshandlung. Zudem habe er als Indiz gegen eine fluchtauslösende Diskriminierung im Heimatland sowohl von privater Seite als auch von staatlichen Stellen, z.B. im Form von Rentenzahlungen, Unterstützung erhalten. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Auch Abschiebungsverbote seien nicht ersichtlich. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Armenien würden nicht zu der Annahme führen, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Eine zu berücksichtigende Gefährdung ergebe sich nicht aus den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen in Armenien, wo sich die Versorgungslage in Armenien gebessert habe und Lebensmittel ausreichend zur Verfügung stünden mit einem breiten Warenangebot in- und ausländischer Herkunft. Zudem trügen umfangreiche ausländische Hilfsprogramme zur Verbesserung der Lebenssituation bei. Für den Teil der Bevölkerung, der sich aus finanziellen Gründen nicht mit den lebensnotwendigen Gütern eindecken könne, gebe es Unterstützung durch vorhandene Familienstrukturen, Hilfslieferungen von humanitären Organisationen oder durch Warensendungen und Geldzahlungen von Verwandten aus dem Ausland. Eine allgemein schwierige soziale und wirtschaftliche Lage begründe kein Abschiebungsverbot und müsse und könne vom Kläger ebenso wie von vielen seiner Landsleute ggf. unter Aufbietung entsprechender Aktivitäten bewältigt werden. Eine Rückkehr sei dem Kläger auch zumutbar. Vor der Ausreise aus Armenien habe der Kläger von der sehr niedrigen Rente gelebt, könne künftig zum Leben nötige Güter von humanitären Organisationen, wie z.B. Caritas Armenia, Mission Armenia, People in Need in Anspruch nehmen und sofern der Kläger wegen seiner Taubstummheit erwerbsunfähig sein sollte, sei ihm die Beantragung von Sozialhilfeleistungen für Behinderte in Armenien möglich und auch zumutbar, wie er sie nach eigener Aussage auch in der Vergangenheit in Armenien bereits erhalten habe. In der jüngsten Vergangenheit habe sich in Armenien ein Wandel hinsichtlich der Wahrnehmung und Unterstützung von Menschen mit Behinderungen vollzogen. Im Übrigen werde auf mögliche Rückkehr- und Starthilfen für freiwillige Rückkehrer nach Armenien nach dem REAG/GARP-Programm) verwiesen, die auch der Finanzierung eines einfachen Lebensunterhaltes die ersten Monate nach der Rückkehr nach Armenien dienten. Da dem Kläger vor der Ausreise gelungen sei, trotz finanzieller Probleme und Schulden den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu bestreiten, sei auch davon auszugehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Armenien zumindest das Existenzminimum sicherstellen und sich alsbald wieder in die armenische Gesellschaft integrieren werde. Für eine lebensbedrohliche Erkrankung sei nichts ersichtlich. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate sei angemessen. Schutzwürdige Belange seien nicht vorgetragen worden.
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Gegen diesen an ihn am 26. Februar 2019 zur Post gegebenen Bescheid ließ der Kläger am 28. Februar 2019 Klage erheben mit dem Antrag:
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und festzustellen, dass beim Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
Der Bescheid des Bundesamts vom 25. Februar 2019 wird aufgehoben, soweit er der o.g. Verpflichtung entgegensteht.
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Weiter begehrte er Prozesskostenhilfe und ließ zur Begründung ausführen, der Bescheid sei rechtswidrig, weil die Anhörung mit Hilfe des zehnjährigen Kindes als Gebärdendolmetscher rechtswidrig gewesen sei.
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Nach Wechsel der Bevollmächtigten wurde vorgetragen, die Kläger hätten in Armenien nur eine unter dem Existenzminimum von 116 Euro liegende Rente von 40 Euro monatlich erhalten; die Kläger könnten ihre Existenz nicht sichern. Später teilte die Ehefrau mit, sie habe sich vom Kläger getrennt. Behinderte würden in Armenien diskriminiert.
-, Dipl.-Sozialpädagogin, Eltern für Afrika e.V., Sozialpädagogische Stellungnahme vom 28.4.2021:
Die Familie werde von der Organisation im Rahmen der interkulturellen sozialpädagogischen Familienhilfe seit August 2018 betreut; für die Kinder bedeute die Gehörlosigkeit der Eltern, dass sie als Dolmetscher bei nahezu allen Angelegenheiten eingesetzt würden, was sie überfordere; zudem sei die psychische Erkrankung der Mutter belastend, die bereits zweimal in der Psychiatrie in Erlangen für mehrere Wochen stationär aufgenommen worden sei, wegen der dort nur bedingt möglichen Kommunikation habe sich ihr Zustand aber nicht verbessert. Sie habe nun ein eigenes Zimmer in einer nahegelegenen Unterkunft erhalten, da ein eigenes Zimmer innerhalb der Unterkunft bisher nicht zur Verfügung gestanden habe. Seit etwa vier Monaten leide das ältere Kind unter heftigen Angstattacken, fürchte, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden und sterben zu müssen und sei auch in der Schule nicht mehr in der Lage, dem Unterricht zu folgen. Es sei stationär in der Kinderklinik aufgenommen worden und sei nun in ambulanter Behandlung in der Kinderklinik.
-, Dipl.-Sozialpädagogin, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Sozialdienst für Hörgeschädigte, Stellungnahme vom 2. Juli 2018:
Ausführungen zur Betroffenheit von gehörlosen Menschen mit Flüchtlingshintergrund, die aufgrund massiver Kommunikationsprobleme besonders auf die Einbindung in ein gehörloses Umfeld angewiesen seien, also die räumliche Nähe zu gehörlosen Vereinen und gehörlosen Helfern wie in großen Orten. Auch die Kinder solcher Eltern bedürften einer besonderen Förderung.
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Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt, aber mitgeteilt, die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot lägen nicht vor. Der Kläger weise über seine Behinderung hinaus keine gefahrerhöhenden Umstände auf und habe in Armenien trotz der schwierigen Lage sich um seine Familie kümmern und eine Existenzgrundlage sichern können, auch unter Inanspruchnahme dort angebotener Unterstützung.
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Die Regierung von Schwaben als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.
15
Mit Beschluss vom 19. März 2020 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Mit der Ladung übersandte das Gericht eine aktuelle Erkenntnismittelliste. Mit Beschluss vom 19. April 2021 wurde der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der Klägerbevollmächtigten abgelehnt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten vorgelegte Behördenakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 25. Februar 2019 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
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Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen - den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG - muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
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Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
22
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16) entspricht.
23
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16).
24
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
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Aus dem schriftlichen und mündlichen Vorbringen des Klägers ist keine Verfolgung ersichtlich. Er hatte offensichtlich keine Probleme mit dem armenischen Staat und auch problemlos armenische Personaldokumente ausgestellt erhalten. Gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse spricht auch bereits die unbehelligte Ausreise mit eigenem, angeblich verlorenem Reisepass. Da in Armenien strenge Ein- und Ausreisekontrollen stattfinden und Reisedokumente auch unter Zuhilfenahme von UV-, Infrarot- und sonstigen Kontrollverfahren Seite für Seite kontrolliert werden, wird armenischen Staatsangehörigen bei Vorlage ge- oder verfälschter Visa oder Aufenthaltserlaubnisse die Ausreise untersagt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27.4.2020, S. 23; dort auch zu typischen Ausreisewegen; zur Ausstellung von Reisepässen usw. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH, Armenien: Organisierte Kriminalität und Schutzfähigkeit des Staates vom 28.1.2019, S. 8 f.). Im Allgemeinen ist daher eine unbehelligte Ausreise ein Indiz gegen das Vorliegen eines Haftbefehls oder einer Ausreisesperre sowie eines (landesweiten) staatlichen Verfolgungsinteresses.
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Dass er von Freunden ausgelacht und betrogen sein will, ändert an dieser Bewertung nichts, da diese keine territorial relevanten Verfolger sind, sondern private Dritte. Im Übrigen hat sich die politische Lage in Armenien durch die seit der Ausreise des Klägers erfolgte sog. „Samtene Revolution“ im April/Mai 2018 wesentlich geändert (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27.4.2020, S. 6, 7).
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2. Der Kläger hat aus diesen Gründen auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr nach Armenien ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
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Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Alle drei Gefahrensituationen müssen auf das zielgerichtete Handeln einer Person oder Gruppe im Sinne des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG zurückgehen; Defizite der allgemeinen Lebensumstände und Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems ohne zielgerichtete Anwendung auf den Ausländer (anders z.B. bei bewusster Vorenthaltung von verfügbarer Versorgung) genügen hierfür nicht (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 11.19 - juris Rn. 12 f.).
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3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
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a) Dem taubstummen Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
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Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. Die Gefahren müssen ein Mindestmaß an Schwere unter Berücksichtigung der Gesamtumstände aufweisen. Eine bloße Verschlechterung der Lebensumstände oder Verringerung der Lebenserwartung im Zielstaat gegenüber den Verhältnissen im Aufenthaltsstaat genügt nicht; es muss sich vielmehr um einen so außergewöhnlichen Fall handeln, dass humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 11.19 - juris Rn. 10 f.).
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Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
33
Da hier zwar eine Gehörlosigkeit als dauerhafte Behinderung des Klägers im Raum steht (vgl. unten), diese aber nicht behandelbar und auch nicht heilbar ist und auch keine lebensbedrohlichen Folgen im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG nach sich zieht, sondern der allgemeinen Existenzsicherung entgegenstehen soll, beansprucht § 60 Abs. 7 AufenthG keinen Vorrang. An den Nachweis einer solchen Erkrankung oder Behinderung sind wegen des verallgemeinerbaren normativen Anliegens und zwecks Gleichlaufs der beiden Abschiebungsverbote dieselben Anforderungen wie in § 60 Abs. 7 i.V.m. § 60 Abs. 2c AufenthG zu stellen (vgl. NdsOVG, B.v. 13.3.2020 - 9 LA 46/20 - Inf AuslR 2020, 307 f. m.w.N.).
34
aa) Der erwachsene, im Übrigen gesunde und erwerbsfähige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung nach Armenien keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären, wie die Beklagte ausgeführt hat.
35
Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer nach Armenien jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert.
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In Armenien ist ein breites Warenangebot in- und ausländischer Herkunft vorhanden. Auch umfangreiche ausländische Hilfsprogramme tragen zur Verbesserung der Lebenssituation von benachteiligten Gruppen bei. Die Gas- und Stromversorgung ist grundsätzlich gewährleistet. Leitungswasser steht dagegen in manchen Gegenden, auch in einigen Vierteln der Hauptstadt, insbesondere während der Sommermonate, nicht immer 24 Stunden am Tag zur Verfügung. Die Wasserversorgung wird jedoch laufend verbessert. Die durchschnittliche Wasserversorgung in der Hauptstadt dürfte bei etwa 95% liegen, dies entspricht 23 Stunden täglich (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27.4.2020, S. 18).
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Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung ist nach wie vor finanziell nicht in der Lage, seine Versorgung mit den zum Leben notwendigen Gütern ohne Unterstützung durch humanitäre Organisationen sicherzustellen. Nach Schätzungen der Weltbank für 2019 leben 22,2% der Armenier unterhalb der Armutsgrenze (2016: 29,4%). Das die Armutsgrenze bestimmende Existenzminimum beträgt in Armenien ca. 60.000 armenische Dram (AMD) (beim Kurs von 550 Dram/Euro im Februar 2019 ca. 110 Euro) im Monat, der offizielle Mindestlohn 55.000 AMD (= ca. 100 Euro). Das durchschnittliche Familieneinkommen ist dagegen mangels zuverlässiger Daten nur schwer einzuschätzen. Der Großteil der Armenier geht mehreren Erwerbstätigkeiten und darüber hinaus privaten Geschäften und Gelegenheitstätigkeiten nach (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27.4.2020, S. 18 f.).
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Ein Großteil der Bevölkerung wird finanziell und durch Warensendungen von Verwandten im Ausland unterstützt: 2017 wurde laut armenischer Zentralbank ein Betrag von etwa 1,494 Mrd. USD nach Armenien überwiesen. Davon flossen knapp 900 Mio. USD aus der Russischen Föderation nach Armenien. Aufgrund der wirtschaftlichen Lage in Russland, insbesondere der starken Abwertung des russischen Rubels, gehen die Überweisungen seit 2014 kontinuierlich zurück. Auch wenn aufgrund der wirtschaftlichen Lage weiterhin ein erheblicher Migrationsanreiz besteht, geht der Überhang an Ausreisenden zurück, u.a. aus der Hoffnung auf eine entscheidende Besserung der Lebensbedingungen nach der sog. „Samtenen Revolution“. Unter den Auswanderern befinden sich viele Hochqualifizierte, wie etwa Ärzte oder IT-Spezialisten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27.4.2020, S. 19). Für die Rückkehr stehen Reintegrationsprojekte im Herkunftsland Armenien zur Verfügung. 2018 sind mit Unterstützung der IOM (International Organization of Migration) etwa 650 ausgereiste Asylbewerber freiwillig nach Armenien zurückgekehrt (2017: 580). Seit Ende 2019 gibt es ein französisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt zwischen OFII und BAMF, das die Reintegration in Deutschland abgelehnter Asylbewerber unterstützt und ihnen eine wirtschaftliche Perspektive durch Kredite für Kleinstunternehmer bieten soll. Rückkehrer können sich auch an den armenischen Migrationsdienst wenden, der ihnen mit vorübergehender Unterkunft und Beratung zur Seite steht (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27.4.2020, S. 18 f., 20).
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Wie die Beklagte ausgeführt hat, werden für sich allein nicht existenzsichernde (Renten-)Einkommen regelmäßig durch familiäre Hilfen oder Hilfen karitativer Organisationen aufgestockt, an welche sich auch der Kläger wenden kann, sollte er keine (einfache) Arbeit finden. Von einem so außergewöhnlichen Fall, dass humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 11.19 - juris Rn. 10 f.), kann daher keine Rede sein. Die Situation des Klägers unterscheidet sich nicht grundlegend von jener anderer behinderter Rentenempfänger dort. Eine allgemeine Diskriminierung Behinderter, wie klägerseitig geltend gemacht, bedeutet für sich genommen noch keine Existenzgefahr.
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bb) Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung nach Armenien auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
41
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen, sondern grundsätzlich nach Ankunft in die Gesellschaft integriert. Rückkehrer aus Deutschland nutzen häufig die erworbenen Deutschkenntnisse bzw. ihre in Deutschland geknüpften Kontakte. Sie haben Zugang zu allen Berufsgruppen, auch im Staatsdienst, und überdurchschnittlich gute Chancen, Arbeit zu finden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27.4.2020, S. 21, 22 mit näheren Angaben zu Beratungszentren usw.). Staatliche Aufnahmeeinrichtungen für unbegleitete Minderjährige bestehen nicht. Es gibt jedoch zahlreiche Waisenhäuser, die durch Spenden aus dem Ausland z. T. einen guten Unterbringungs- und Betreuungsstandard gewährleisten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27.4.2020, S. 21). Auch für demente oder pflegebedürftige Senioren gibt es spezialisierte Einrichtungen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 30.10.2018 an das VG Augsburg).
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In Armenien finden die o.g. strengen Ausreisekontrollen für alle Personen statt, ebenso Einreisekontrollen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27.4.2020, S. 21, 23).
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b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers nicht vor, wie die Beklagte zutreffend erkannt hat.
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4. Nachdem sich auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.