Titel:
Grenzbebauung und Abstandsflächenrecht
Normenkette:
BayBO Art. 6 Abs. 1, Art. 63 Abs. 1
Leitsätze:
1. Eine Baugenehmigung unter Verstoß gegen das im Verfahren zu prüfende Abstandsflächenrecht ist eine Verletzung nachbarschützenden Rechts. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wird vom nachbarschützenden Recht abgewichen, ist die Abweichungsentscheidung vollständig darauf zu überprüfen, ob eine atypische Grundstückssituation vorliegt. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ist die Abweichungsentscheidung rechtswidrig erfolgt, ist die gesamte Baugenehmigung rechtswidrig. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abstandsfläche bei Grenzanbau, Abweichung rechtswidrig, Baugenehmigung, Abstandsfläche, Grenzwand, nachbarschützendes Recht
Fundstelle:
BeckRS 2021, 2142
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2019 (Az.: …*) wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsschuldnerin kann durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% der festgesetzten Kosten die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin wendet sich gegen die Baugenehmigung für ein Mehrfamilienhaus auf dem Nachbargrundstück.
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Die Klägerin ist Miteigentümerin des Grundstücks FlNr. …Gemarkung …, …Straße … in …, das entlang der westlichen Grundstücksgrenze mit einem Wohnhaus sowie nördlich anschließend einer Garage bebaut ist. Die Klägerin ist weiter Miteigentümerin des Wegegrundstücks FlNr. …, das nördlich ihres Anwesens von West nach Ost verläuft. Südlich angrenzend an das Wegegrundstück und unmittelbar westlich des Grundstücks der Klägerin liegt das Baugrundstück FlNr. …, …Straße … Dieses war bisher mit einem soweit ersichtlich profilgleich an das Gebäude der Klägerin angebauten Wohngebäude sowie nördlich davon einer Garage bebaut, sowie mit einem entlang der westlichen Grundstücksgrenze verlaufenden eingeschossigen Nebengebäude. Westlich angrenzend an das Baugrundstück folgt das Grundstück FlNr. …, das mit zwei Wohnhäusern (* …Straße …und …*) sowie einem soweit ersichtlich profilgleich an das Nebengebäude auf dem Baugrundstück angebauten Nebengebäude entlang der östlichen Grundstücksgrenze bebaut ist. Südlich angrenzend an das Baugrundstück und das Grundstück FlNr. … liegt das Grundstück FlNr. …, dessen Eigentümer die Siedlervereinigung „…e.V. ist. Südlich des Baugrundstücks sowie des Grundstücks der Klägerin liegt das Grundstück FlNr. …, das sich im Eigentum der Stadt … befindet und als Zufahrt zu den genannten Grundstücken dient.
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Mit Bescheid vom 22. Mai 2019 erteilte die Beklagte der Beigeladenen auf ihren Bauantrag vom 23. November 2018 hin die Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit fünf Wohneinheiten. In Nr. 2 des Bescheids wurden Abweichungen zugelassen gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO von Art. 6 Abs. 2 BayBO wegen Nichteinhaltung der erforderlichen seitlichen Abstandsflächen der Dachgauben zum Nachbargrundstück FlNr. …, von Art. 6 Abs. 3 BayBO wegen Nichteinhaltung der erforderlichen seitlichen Abstandsflächen zwischen den Dachgauben auf dem Baugrundstück, sowie nach Art. 63 Abs. 1 von Art. 6 Abs. 2 BayBO wegen Nichteinhaltung der nach Art. 6 Abs. 5 bzw. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen zum Nachbargrundstück FlNr. … wegen nicht profilgleichen Anbaus nach Osten. Auf den Inhalt des der Klägerin am 28. Mai 2019 zugestellten Bescheids wird verwiesen. Nach den den Genehmigungsstempel tragenden Plänen soll an der östlichen Grundstücksgrenze an das dort vorhandene Wohnhaus der Klägerin ein zweigeschossiges Wohngebäude mit ausgebautem 45 GradSatteldach angebaut werden, an das sich nach Norden hin ein zweigeschossiger Anbau mit nach Westen geneigtem Pultdach, an den entsprechenden Anbau an das Wohngebäude auf dem Grundstück der Klägerin angrenzend anschließt. Die östliche Giebelwand des Hauptgebäudes, die an die westliche Giebelwand des Wohngebäudes der Klägerin gebaut werden soll, weist eine Wandhöhe von ca. 5,90 m sowie eine Firsthöhe von 11,40 m auf, während die Wandhöhe der westlichen Giebelwand des Wohngebäudes der Klägerin ca. 3,40 m und die Firsthöhe 8,57 m beträgt. Die Breite der Grenzwand beim Bauvorhaben beträgt ca. 14,10 m, an die sich im Norden der 3 m breite Anbau und im Süden eine ca. 3,40 m bis 3,80 m hohe und 3,00 m breite Grenzwand als Begrenzung der davor gelegenen Terrasse anschließen, welche unmittelbar an die östliche Außenwand des dort vorhandenen Wintergartenanbaus an das Wohngebäude der Klägerin mit ebenfalls 3,00 m Breite angrenzt.
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Nach den genehmigten Plänen sollen weiter im südlichen Grundstücksbereich zwei Carports sowie ein Stellplatz mit Zufahrt von Süden her sowie im nördlichen Grundstücksbereich ein Carport direkt an der westlichen Grundstücksgrenze und ein weiterer Stellplatz mit Zufahrt jeweils vom Norden her errichtet werden.
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Mit einem am 24. Juni 2019 beim Gericht eingegangenen Schreiben erhob die Klägerin Klage gegen die der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung und beantragte zugleich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Im gleichen Schreiben erhoben auch die Siedlervereinigung „…“ e.V. (AN 9 K 19.01220 und AN 9 S 19.01219) als Eigentümer des Grundstücks FlNr. …sowie Frau* …(AN 9 K 19.01229 und AN 9 S 19.01228) als Eigentümerin des Grundstücks FlNr. …Klage gegen die Baugenehmigung und beantragten die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klagen. Zur Begründung wurde gemeinsam vorgetragen, das genehmigte Gebäude füge sich nicht in die Umgebung ein, es biete dem Bauherrn die Möglichkeit, fünf Wohneinheiten zu erstellen, dies sei für den Siedlungscharakter tödlich, fast die ganze Grundstücksfläche werde überbaut oder für Stellplätze zugepflastert, man müsse realistisch von acht Pkws ausgehen. Die Nachbarn seien nicht gegen eine Nachverdichtung, aber ein etwas kleineres Wohngebäude mit drei Wohneinheiten jeweils im EG, 1. OG und Dachgeschoss würde sich besser einfügen, auch sei die Zufahrt nicht sauber geregelt, für drei Parkplätze sei die Zufahrt von Süden her über eine Spielstraße vorgesehen, was die Unfallgefahr für Eltern/Kinder erhöhe.
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Zur weiteren Klagebegründung verwiesen die Kläger noch auf Besprechungsprotokolle und Schreiben mit dem Thema Nachverdichtung.
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Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Baugenehmigung der Beklagten vom 22. Mai 2019 (Az.: …) aufzuheben.
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Mit Beschluss vom 24. Juni 2019 wurde die Bauherrin zum Verfahren beigeladen, mit Schriftsatz vom 1. Juli 2019 bestellte sich der Beigeladenenvertreter und beantragte,
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Zur Begründung wurde mit Schriftsatz vom 27. Dezember 2019 auf die Ausführungen der Beklagten verwiesen.
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Mit Schreiben vom 16. Juli 2019 beantragte die Beklagte,
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Zur Begründung wurde ausgeführt, die angefochtene Baugenehmigung sei rechtmäßig und verletzte die Kläger nicht in ihren Rechten. Das Vorhaben füge sich nach § 34 Abs. 1 BauGB ein, dies gelte sowohl hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung wie hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung. Das Vorhaben halte sich auch hinsichtlich Kubatur, Grundflächenzahl, Zahl der Geschosse und Höhe des Gebäudes im Rahmen dessen, was in der näheren Umgebung vorhanden sei, vergleichbare Gebäude gebe es zum Beispiel mit den Anwesen* …Straße* …sowie* … bis …, eine Vergleichbarkeit hinsichtlich der überbauten Grundstücksfläche sei gegeben mit den Anwesen* …Straße …, … sowie …, … In der näheren Umgebung seien zahlreiche Gebäude an einer Grundstücksgrenze angebaut, auch die überbaubare Grundstücksfläche halte sich im vorhandenen Rahmen. Die Zahl der Wohneinheiten sei kein Kriterium i.S.d. § 34 BauGB, es handele sich hier um Wohnnutzung. Eine Verletzung eines Gebietsprägungserhaltungsanspruchs gebe es hier nicht, dies ergebe sich schon daraus, dass es sich lediglich um ein Mehrfamilienhaus mit fünf Wohneinheiten handele. Die Abstandsflächen des Bauvorhabens nach Süden und Norden lägen auf dem Baugrundstück selbst, die Rechte der Siedlervereinigung und von Frau … seien insofern nicht tangiert. Zum Grundstück der Klägerin FlNr. … müssten nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO keine Abstandsflächen eingehalten werden, weil schon bislang an der Grenze ein Gebäude vorhanden sei und auch das Gebäude auf dem Nachbargrundstück selbst an der Grundstücksgrenze errichtet sei. Das Vorhaben müsse auch nicht profilgleich angebaut werden, das Gebot der Rücksichtnahme sei hier ebenfalls nicht verletzt. Hinsichtlich der Stellplätze werde auf § 12 Abs. 1 und 2 BauNVO verwiesen, die Zufahrt zu den drei Stellplätzen im Süden erfolge über eine öffentlich gewidmete Gemeindestraße.
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Mit Beschluss der Kammer vom 9. Januar 2020 wurde die aufschiebende Wirkung der Klägerin gegen den Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2019 angeordnet. Auf den Inhalt der Entscheidung wird verwiesen.
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Mit Beschluss der Kammer ebenfalls vom 9. Januar 2020 wurden die Anträge der Siedlervereinigung „…“ e.V. und der Frau …abgelehnt (AN 9 S 19.01219 und AN 9 S 19.01228). Rechtsmittel gegen die Beschlüsse der Kammer im einstweiligen Rechtsschutz wurden nicht eingelegt, die Siedlervereinigung „…“ e.V. sowie Frau … nahmen in der Folge die Klagen zurück.
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Mit Schreiben vom 10. August 2020 teilte die Beklagte auf Anfrage des Gerichts mit, die Beigeladene habe der Bauordnungsbehörde am 31. Juli 2020 mitgeteilt, dass sie beabsichtige, bis Ende September zu entscheiden, ob sie den Bauantrag für das streitgegenständliche Bauvorhaben zurückziehe; zurückgenommen worden sei zugleich ein im Jahr 2020 eingereichter Tekturantrag für das Vorhaben. Zu einem Verkauf des Baugrundstücks sei der Beklagten nichts bekannt.
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Mit Schreiben vom 21. Oktober 2020 wurde den Parteien Gelegenheit gegeben, sich zur Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter zu äußern und zugleich angefragt, ob ohne mündliche Verhandlung entschieden werden könne.
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Mit Schreiben vom 29. Oktober 2020 erklärte die Beklagte ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung sowie mit der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter.
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Mit Schreiben vom 29. Oktober 2020 teilte die Beklagte dem Gericht mit, dass ihr bekannt sei, dass ein Verkauf des Grundstücks stattgefunden habe, die Baugenehmigung sei demgegenüber noch nicht zurückgegeben worden.
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Die Klägerin teilte mit Schreiben vom 4. November 2020, vertreten durch den Vorsitzenden des Siedlerverein „…“ e.V., Herrn …, mit, dass mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung Einverständnis bestehe. Zugleich wurde eine schriftliche Vollmacht für Herrn …vorgelegt. Nachdem das Gericht die Klägerin und deren damaligen Vertreter darauf hingewiesen hatte, dass die Voraussetzungen des § 67 Abs. 2 VwGO für eine Vertretung durch Herrn* …hier nicht gegeben seien, trat dieser mit Schreiben vom 24. Dezember 2020 als Vertreter der Klägerin zurück.
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Mit Beschluss der Kammer vom 13. Januar 2021 wurde der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
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Mit Schreiben vom 14. Januar 2021 teilte der Einzelrichter den Beteiligten mit, dass nach dem Verzicht auf mündliche Verhandlung durch die Klägerin und die Beklagte in nächster Zeit eine Entscheidung durch den Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung ergehen werde.
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Nachdem die Beigeladene auf mehrere Anfragen des Gerichts hin nicht erklärt hatte, ob sie das Bauvorhaben weiterverfolgt oder die Baugenehmigung zurückgeben werde, teilte die Beklagte letztmalig mit Schreiben vom 29. Januar 2021 mit, dass die Baugenehmigung bisher noch nicht zurückgegeben worden sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten hingewiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Die Entscheidung konnte hier nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung ergehen, da die Parteien auf eine solche wirksam verzichtet haben.
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Die Klage ist begründet, weil der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2019 rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt.
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Die angefochtene Baugenehmig ist rechtswidrig, weil sie unter Verstoß gegen das im Verfahren zu prüfende Abstandsflächenrecht erging, dabei handelt es sich um eine Verletzung nachbarschützenden Rechts zu Lasten der Klägerin.
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Rechtsgrundlage für die die Baugenehmigung ist hinsichtlich der Abstandsflächen Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 BayBO i.V.m. der Abstandsflächensatzung der Beklagten, die Abstandsflächen gehören auch zum Prüfprogramm im Baugenehmigungsverfahren.
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Entgegen der Auffassung der Beklagten ist bezüglich der östlichen Außenwand des genehmigten Wohngebäudes sowie der diese fortsetzenden südlichen Grenzwand eine Abstandsfläche einzuhalten, da hier kein Fall des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO gegeben ist. Zwar ist auf dem Grundstück der Klägerin ein grenzständiges Wohngebäude mit Wintergarten vorhanden, an das im Norden eine ebenfalls grenzständige Garage unmittelbar anschließt. Das genehmigte Bauvorhaben überragt aber dieses vorhandene Gebäude der Klägerin im Bereich der grenzständigen Giebelwand sowie der nach Süden anschließenden Grenzwand deutlich. Die Grenzwand des geplanten Gebäudes überragt im Süden die östliche Grenzwand des Gebäudes der Klägerin um ca. 2,30 m, der Dachfirst des genehmigten Gebäudes überragt den Dachfrist des vorhandenen Gebäudes der Klägerin um mehr als 2,80 m. Wegen der um ca. 2,60 m breiteren Giebelwand sowie den beiden auf der nördlichen und südlichen Dachfläche geplanten Dachgauben erreicht das genehmigte Gebäude im Bereich der Giebelwand eine Dimension, die das vorhandene Gebäude deutlich überragt und dominiert, sodass von einem profilgleichen oder annähend profilgleichen Anbau nicht in die Rede sein kann. Ein solcher profilgleicher Anbau ist lediglich im Bereich der nördlichen Anbauten an die jeweiligen Querbauten gegeben, während im Süden die geplante und genehmigte Grenzwand gleicher Breite den grenzständigen Wintergarten der Klägerin um 0,80 m bis ca. 1,30 m überragt.
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Die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO sind auch nicht deshalb erfüllt, weil in der näheren Umgebung auf praktisch allen Grundstücken einseitige Grenzbebauung in Form von aneinandergebauten Wohnhäusern vorhanden ist. Die hier homogene Bebauungsstruktur in der näheren Umgebung des Baugrundstücks, die mangels planerischer Festsetzungen nach § 34 Abs. 1 BauGB die überbaubare Grundstücksfläche bestimmt, ist praktisch durchgehend bestimmt von profilgleich aneinander gebauten Gebäuden, wobei bei den wenigen seitlich versetzten Grenzwänden zumindest die Firsthöhe übereinstimmt. Das hier genehmigte Gebäude würde aber im Fall seiner Errichtung, im Gegensatz zum ursprünglich auf dem Baugrundstück vorhandenen Gebäude, wohl nicht den Eindruck eines einheitlichen Gebäudes zusammen mit dem Wohngebäude der Klägerin erwecken, sondern wegen des dieses deutlich überragenden Grenzgiebels und der weitaus größeren Kubatur in Verbindung auch mit der gegenüber dem Wintergarten erhöhten Grenzmauer den Eindruck zweier selbständiger Gebäude erwecken, die an der Grenze unmittelbar aneinander anschließen. Damit läge hier kein Doppelhaus vor, so dass für die östliche Grenzwand des geplanten Gebäudes Abstandsflächen nach Osten einzuhalten sind.
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Die Baugenehmigung erweist sich im Hinblick auf die Abstandsflächen auch nicht deshalb als rechtmäßig, als die Beklagte Abweichungen gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO zugelassen hat von den gem. Art. 6 Abs. 1 und 2 BayBO erforderlichen Abstandsflächen zum Grundstück der Klägerin mit der Gebäudewand ebenso wie von den seitlichen Abstandsflächen der Dachgauben. Die nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 BayBO i.V.m. Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO zugelassenen Abweichungen sind demnach rechtswidrig.
31
Da von nachbarschützendem Recht abgewichen wird, ist die Abweichungsentscheidung auch im Rahmen des Nachbarrechtsbehelfs vollständig zu überprüfen. Vorliegend fehlt es aber an der tatbestandlichen Voraussetzung einer atypischen Grundstückssituation (vgl. BayVGH, U.v. 9.11.2017 - 2 B 17.1742 - juris, B.v. 5.11.2015 - 15 B 15.1372 - juris). Eine solche atypische Fallgestaltung ergibt sich hier weder aus einem besonderen Grundstückszuschnitt noch aus einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder auf dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation wie etwa der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris). Keine dieser möglichen Fallgestaltungen liegt hier vor, das Baugrundstück wie das Grundstück der Klägerin weisen hier einen rechteckigen Zuschnitt auf und sind ebenso wie die sie umgebenden Grundstücke mit kleineren, einseitig grenzständigen Wohnhäusern bebaut.
32
Da hier eine atypische Situation nicht gegeben ist, kann aber eine Abweichung von den Maßgaben des Art. 6 BayBO nicht rechtmäßigerweise erfolgen, da jede Verkürzung der Abstandsflächen zu einer Verschlechterung der Nachbarsituation führt.
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Auch aus dem mit der BayBO-Novelle 2018 eingeführten Regelung in Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO ergibt sich nichts anderes. Selbst wenn man aus der Gesetzesbegründung herleiten wollte, dass der Gesetzgeber Erleichterungen für Abweichungen beim Abstandsflächenrecht ermöglichen wollte, so liegt eine der Fallgestaltungen, auf die der Gesetzgeber in der Begründung abstellt, hier ersichtlich nicht vor: Es handelt sich weder um eine Umnutzung des vorhandenen Gebäudes noch um ein Aufstocken eines solchen, sondern um einen vollständigen Neubau, der weitaus größer und höher an der Grenze errichtet werden soll als das vorher vorhandene Altgebäude.
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Das genehmigte Bauvorhaben hält somit die erforderlichen Abstandsflächen zum Grundstück der Klägerin nicht ein und die Erteilung der Abweichung erfolgte rechtswidrig, damit ist die gesamte Baugenehmigung rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, da eine Aufteilung der Baugenehmigung in einen teilweise profilgleichen Anbau und einen weiteren Teil nicht möglich erscheint.
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Damit war der Klage stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, der Streitwert ergibt sich aus § 52 Nr. 1 GKG. Da sich die Baugenehmigung als voraussichtlich rechtswidrig erwiesen hat, entspricht es billigem Ermessen, dass der Beigeladene seine Kosten selbst trägt.
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Die vorläufige Vollstreckbarkeit wurde gemäß §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11 i.V.m. 711 ZPO angeordnet.