Inhalt

VGH München, Beschluss v. 21.07.2021 – 15 ZB 21.30628
Titel:

Fehlen einer ladungsfähigen Anschrift

Normenketten:
VwGO § 82, 117 Abs. 2 Nr. 1 § 173 S. 1
AsylG § 78
ZPO § 130 Nr. 1
Leitsatz:
Die Pflicht, eine ladungsfähige Anschrift anzugeben, gilt auch für Anträge auf Zulassung der Berufung. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylsuchender aus dem Jemen, Dublin-Verfahren (Griechenland als Zielland), Antrag auf Zulassung der Berufung, Absetzen des Klägers ins Ausland (Frankreich), Pflicht zur Angabe einer ladungsfähigen Anschrift, fehlendes Rechtsschutzbedürfnis
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 25.03.2021 – RN 11 K 20.31566
Fundstelle:
BeckRS 2021, 20932

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gründe

I.
1
Der Kläger, nach eigenen Angaben ein jemenitischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit, wendet sich gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. September 2020, mit dem sein (Folge-) Antrag auf Abänderung eines bestandskräftig gewordenen („Dublin“-) Bescheids vom 8. Mai 2019 bezüglich der Feststellung von Abschiebungsverboten gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgelehnt wurde. Er trägt vor, ihm drohe im Falle einer Überstellung nach Griechenland eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK. Mit Urteil vom 25. März 2021 wies das Verwaltungsgericht Regensburg die vom Kläger erhobene Klage ab, mit der er beantragt hatte, den Bescheid vom 10. September 2020 aufzuheben sowie hilfsweise die Beklagte zu der Feststellung zu verpflichten, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und / oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen. Hiergegen ließ der Kläger über seinen Bevollmächtigten einen Antrag auf Zulassung der Berufung stellen.
2
Mit E-Mail vom 25. Juni 2021 teilte die Regierung von Niederbayern (Zentrale Ausländerbehörde) dem Verwaltungsgerichtshof mit, der Kläger sei untergetaucht. Nach weiteren von der Regierung von Niederbayern hierzu mit Telefax vom 28. Juni 2021 übermittelten Unterlagen hatte sich der Kläger zuletzt am 25. Mai 2021 Post in der von ihm vormals bewohnten Gemeinschaftsunterkunft abgeholt; seitdem befinde er sich nicht mehr im Haus. Am 7. Juni 2021 stellte Frankreich an die Bundesrepublik Deutschland für den Kläger ein Wiederaufnahmegesuch nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO).
3
Mit Schreiben vom 29. Juni 2021, das dem Bevollmächtigten des Klägers laut Empfangsbekenntnis am 1. Juli 2021 zugegangen ist, forderte der Verwaltungsgerichtshof Letzteren auf, bis zum 16. Juli 2021 eine aktuelle ladungsfähige Anschrift des Klägers mitzuteilen. Gleichzeitig erhielten die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zu der Frage, ob ein unbekannter Aufenthaltsort des Klägers Konsequenzen für das laufende Berufungszulassungsverfahren hat. Mit Schriftsatz vom 1. Juli 2021 teilte die Beklagte mit, dass sich der Kläger weiterhin in Frankreich aufhalte; dem Übernahmeersuchen Frankreichs sei nicht stattgegeben worden. Der Klägerbevollmächtigte hat sich auf das Schreiben des Gerichts vom 29. Juni 2021 nicht geäußert.
II.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unzulässig. Er erfüllt nicht mehr die gesetzlichen Formanforderungen (im Folgenden 1.). Zudem ist das erforderliche Rechtsschutzinteresse entfallen (unten 2.).
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1. Das Fehlen einer ladungsfähigen Anschrift stellt einen Verstoß gegen die zwingende Verfahrensvorschrift gemäß § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO dar, wonach dem Gericht die aktuelle ladungsfähige Anschrift eines Antragstellers / Klägers bekannt gegeben werden muss (vgl. auch § 173 Satz 1 VwGO i.V. mit. § 130 Nr. 1 ZPO).
6
Die Pflicht, eine ladungsfähige Anschrift anzugeben, gilt auch für Anträge auf Zulassung der Berufung. Zum einen umfasst der Anwendungsbereich von § 130 Nr. 1 ZPO alle vorbereitenden Schriftsätze. Zum anderen gelten gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Regeln des Teils II der Verwaltungsgerichtsordnung - und damit § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO - für das Berufungsverfahren entsprechend. Für den Inhalt einer Berufungsschrift gilt zudem nach § 173 Satz 1 VwGO, § 519 Abs. 4 ZPO wiederum die Anforderung in § 130 Nr. 1 ZPO zur Angabe der Anschrift. Die Regelungen zum Berufungsverfahren sind auf das Verfahren auf Zulassung der Berufung zu übertragen. Die gesetzgeberischen Ziele gelten für beide Verfahren gleichermaßen (OVG RhPf, B.v. 6.2.2020 - 7 A 11512/19 - juris Rn. 5). Die Obliegenheit, dem Gericht die aktuelle ladungsfähige Anschrift eines Klägers bekannt zu gegeben, gilt auch dann, wenn zwar in der Klageschrift zunächst eine ladungsfähige Anschrift genannt wurde, eine neue Adresse des Klägers jedoch im Laufe des Verfahrens unbekannt geworden ist. Die Angabe einer - aktuellen - ladungsfähigen Anschrift, unter der der Kläger tatsächlich zu erreichen ist, ist nicht nur formal im Hinblick auf die im späteren Urteil gem. § 117 Abs. 2 Nr. 1 VwGO aufzunehmenden Angaben zur Wohnanschrift (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2007 - 19 ZB 06.2329 - InfAuslR 2008, 131 = juris Rn. 6), sondern auch deshalb erforderlich, um den Kläger zu individualisieren und seine Erreichbarkeit für das Gericht sicherzustellen. Es soll dadurch darüber hinaus auch gewährleistet werden, dass der Kläger nach entscheidungserheblichen Tatsachen befragt werden und sich im Fall des Unterliegens seiner Kostentragungspflicht nicht entziehen kann. Dem steht nicht entgegen, dass bestimmte Verfahren wegen ihres Streitgegenstands gerichtskostenfrei sind. Es kann nicht nach Streitgegenständen differenziert bewertet werden, welchen Inhalt ein Schriftsatz haben muss. Weil die Angabe der Anschrift nicht nur Zwecken der Ladung, sondern - wie aufgezeigt - auch anderweitigen Interessen dient, greift die Pflicht zur Angabe der Anschrift auch dann, wenn der Kläger durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten wird (BayVGH, B. v. 12.5.2005 - 10 ZB 04.1600 - juris Rn. 3; B.v. 23.3.2016 - 19 CS 15.2696 - juris Rn. 3; B.v. 13.11.2018 - 15 B 18.32145 - juris Rn. 5; OVG RhPf, B.v. 6.2.2020 a.a.O. juris Rn. 6 f.; ThürOVG, B.v. 6.6.2019 - 3 ZKO 412/18 - juris Rn. 4).
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Nach der Mitteilung der zuständigen Ausländerbehörde ist der Kläger vorliegend seit einigen Wochen unbekannten Aufenthalts. Seine ursprünglich benannte Anschrift ist folglich nicht mehr aktuell. Sein Prozessbevollmächtigter vermochte es auf die Anfrage des Senats nicht, eine aktuelle Adresse seines Mandanten zu benennen. Sie lässt sich auch nicht anderweitig auf einfache Weise ermitteln. Gründe, wonach dem Kläger die Preisgabe einer neuen Anschrift unmöglich oder unzumutbar wäre, wurden nicht benannt und sind nicht erkennbar. Insbesondere rechtfertigt die Befürchtung, der Kläger könne nach Griechenland überstellt werden, nicht, seinen Aufenthalt geheim zu halten (OVG RhPf, B.v. 6.2.2020 a.a.O. juris Rn. 12). Anhaltspunkte dafür, dass die Pflicht zur Angabe der Anschrift aus sonstigen Gründen ausnahmsweise entfallen könnte (vgl. BVerwG, B.v. 14.2.2012 - 9 B 79.11 u.a. - NJW 2012, 1527 = juris Rn. 11 m.w.N.), sind nicht ersichtlich. Dem Klägerbevollmächtigten ist auch seitens des Gerichts gemäß § 82 Abs. 2 VwGO eine angemessene Frist zur Ergänzung der Angaben gesetzt worden (zu diesem Erfordernis vgl. BayVGH, B.v. 3.2.2016 - 10 ZB 15.1413 - NVwZ 2016, 623 = juris Rn. 5; B.v. 9.5.2016 - 10 ZB 15.677 - juris Rn. 5; B.v. 7.5.2018 - 19 CE 18.364 - juris Rn. 8 f.; B.v. 13.11.2018 a.a.O. juris Rn. 5).
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2. Dem Kläger fehlt für eine Entscheidung über seinen Zulassungsantrag in der Sache zudem seit dem Zeitpunkt seines unbekannten Aufenthalts das Rechtsschutzbedürfnis, das in jedem Verfahrensstadium - mithin auch im Rechtsmittelverfahren - zu prüfen ist (im Fall des „Untertauchens“ im Berufungsverfahren: BayVGH, B.v. 13.11.2018 - 15 B 18.32145 - juris Rn. 4; OVG MV, U.v. 2.1.2012 - 3 L 255/06 - juris; im Berufungszulassungsverfahren: BayVGH, B.v. 3.2.2016 - 10 ZB 15.1413 - NVwZ 2016, 623 = juris Rn. 3; B.v. 9.5.2016 a.a.O. juris Rn. 3 ff.; ThürOVG, B.v. 6.6.2019 - 3 ZKO 412/18 - juris Rn. 3; OVG RhPf, B.v. 6.2.2020 - 7 A 11512/19 - juris Rn. 14; im Beschwerdeverfahren: OVG NW, B.v. 21.11.2005 - 19 B 1147/05 - juris). Die Aufgabe der Unterkunft ohne Mitteilung im Sinne von § 10 Abs. 1 AsylG zum aktuellen Aufenthalt lässt den Schluss zu, dass der Kläger entweder sein Begehren nicht weiterverfolgen will oder er untergetaucht ist, was die Schutzwürdigkeit seines Rechtsschutzinteresses auch mit Blick auf § 33 Abs. 2 Nr. 2 AsylG in Frage stellt (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2010 - 20 B 10.30183 - juris Rn.13 m.w.N.; B.v. 13.11.2018 a.a.O. juris Rn. 4; ThürOVG, B.v. 6.6.2019 a.a.O. juris Rn. 3; SächsOVG, B.v. 10.5.2017 - 4 A 453/16.A - juris Rn. 4 m.w.N.). Allein die weiterbestehende anwaltliche Vertretung des Klägers gibt keinen Anlass, auf das Erfordernis der Adressenangabe zur Feststellung eines weiterbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses zu verzichten, wenn dem Kläger ein berechtigter Grund für die Verweigerung der Adressenangabe fehlt (BayVGH, B.v. 9.2.2001 - 21 B 99.32019 - juris Rn. 14 m.w.N.; B.v. 13.11.2018 a.a.O.; einschr. OVG Berlin-Bbg, B.v. 15.6.2020 - OVG 3 N 69.17 - juris Rn. 4).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).