Titel:
Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug bei Visumsverstoß
Normenketten:
VwGO § 102 Abs. 2
AufenthG § 6 Abs. 3, § 29 Abs. 1, § 30 Abs. 1, § 39 S. 1 Nr. 3
GG Art. 6 Abs. 1
Leitsätze:
1. Das Visumsverfahren als wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung soll nur diejenigen Ausländer begünstigen, die im Schengen-Verfahren zutreffende Angaben gemacht haben. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aufgrund der behördlichen Begleitungspflicht der Ausländerbehörde darf diese auf nachträglich eingetretene Sachlagenänderungen, die eine Ermessensausübung notwendig machen, reagieren und ihr Ermessen im Klageverfahren erstmals ausüben. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
3. Allein der Umstand, dass Eheleute möglicherweise eine vorübergehende Trennung für die übliche Dauer des Visumsverfahrens hinnehmen müssen, reicht auch unter Berücksichtigung des Schutzes der Ehe durch Art. 6 GG nicht aus, um wegen Unzumutbarkeit von der Durchführung des Visumsverfahrens abzusehen. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufenthaltserlaubnis, serbische Staatsangehörige, Familiennachzug, Eheschließung vor Einreise, Ohne erforderliches Visum eingereist, mehrfache Ablehnung von Terminverlegungsanträgen wegen Terminkollision des Prozessbevollmächtigten, Visumsverstoß, Serbien, Positivstaatler, Ermessensausübung, Ausreisehindernis
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 23.06.2021 – 10 ZB 21.1235
Fundstelle:
BeckRS 2021, 20863
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin ist serbische Staatsangehörige und begehrt eine Aufenthaltserlaubnis.
2
Die 33-jährige Klägerin heiratete am 21. März 2016 in Frankreich den kosovarischen Staatsangehörigen B.B. (Band I, Bl. 16; Band III, Bl. 4 Behördenakte). Der Ehemann der Klägerin erhielt am 18. März 2018 eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 18 Abs. 3 AufenthG. Nach eigenen Angaben reiste die Klägerin am 14. September 2018 ohne Visum aus Serbien kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein und zog zu ihrem Ehemann nach Freiburg im Breisgau (Band I, Bl. 6 Behördenakte).
3
Am 18. Oktober 2018 stellte die Klägerin bei der Ausländerbehörde der Stadt Freiburg i. Br. einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug (Band I, Bl. 5 ff. Behördenakte) und erhielt am 6. Dezember 2018 eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG (Band II, Bl. 10 Behördenakte). Auf das fehlende Visumsverfahren sowie den fehlenden Nachweis von Sprachkenntnissen wies die Stadt Freiburg i. Br. die Klägerin hin (Band I, Bl. 37; Band III, Bl. 11 Behördenakte). Im Folgenden nahm die Klägerin an mehreren Deutschkursen teil, bestand jedoch nach eigener Aussage die Prüfungen nicht (Band III, Bl. 3, 5 11 Behördenakte).
4
Am 31. Januar 2020 zog die Klägerin mit ihrem Ehemann in den Landkreis Mühldorf am Inn (Band III, Bl. 15). Die Ausländerbehörde verlängerte die Fiktionsbescheinigung bis zum 30. September 2020 (Band III, Bl. 31 Behördenakte).
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Mit Schreiben vom 16. April 2020 hörte die Ausländerbehörde die Klägerin zur beabsichtigten Ablehnung ihres Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzugs an und setzte eine Frist bis zum 5. Mai 2020 (Band III, Bl. 44 Behördenakte).
6
Mit Bescheid vom 25. Mai 2020 lehnte die Ausländerbehörde den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels vom 18. Oktober 2018 (Nr. 1) ab. Die Klägerin wurde verpflichtet, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe zu verlassen (Nr. 2). Bei nicht fristgerechter Ausreise wurde die Abschiebung nach Serbien oder in einen anderen Staat, in den die Klägerin einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, angedroht (Nr. 3). Im Falle einer Abschiebung werde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gegen die Klägerin erlassen, das auf die Dauer von zwei Jahren befristet werde. Die Frist beginne mit der Ausreise (Nr. 4). Die sofortige Vollziehung der Nr. 5 des Bescheids wurde angeordnet (Nr. 5). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Klägerin den nach § 30 Abs. 1 Satz 1 AufenthG geforderten Sprachnachweis auf dem Niveau A1 nicht erbracht habe und ein Ausnahmetatbestand des § 30 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nicht greife. Weiter sei die Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt. Erforderlich für den beabsichtigten längerfristigen Aufenthalt zum Familiennachzug wäre ein nationales Visum gemäß § 6 Abs. 4 AufenthG gewesen. Die Ausnahmeregel des § 39 Nr. 3 AufenthG liege nicht vor, da ein strikter Rechtsanspruch der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mangels Sprachnachweises gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht im Raum stehe. Ein Absehen vom Visumserfordernis nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG sei nicht möglich, weil die Anspruchsvoraussetzungen für die Erteilung eines Titels nicht erfüllt seien. Auch ein Absehen vom Visumsverfahren wegen Unzumutbarkeit aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG komme nicht in Betracht, da die Nachholung nicht unzumutbar sei. Die Regelung sei prinzipiell eng auszulegen, da die Durchführung des Visumsverfahrens nach der amtlichen Begründung der Regelfall bleiben solle. Das wichtigste Steuerungsinstrument der Zuwanderung, das Visumsverfahren, solle dadurch nicht unterlaufen werden. Erforderlich sei eine Güterabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Hierbei sei zu beachten, dass die Nachholung des Visumsverfahrens stets mit allgemein bekannten und deshalb auch vom Gesetzgeber in der Regelung des AufenthG berücksichtigten Unannehmlichkeiten verbunden sei. Vor allem aber gelte es, dem Eindruck bei anderen Ausländern entgegenzuwirken, man könne durch eine Einreise stets vollendete Tatsachen schaffen. Die lange Wartedauer auf einen Termin bei der Deutschen Botschaft in Belgrad könne nicht für einen Ausnahmefall sprechen, da ansonsten andere ähnlich betroffene Personen, die sich an den regulären Weg hielten, erheblich benachteiligt würden. Allein der Umstand, dass die Eheleute eine vorübergehende Trennung für die übliche Dauer des Visumsverfahrens hinnehmen müssten, reiche für die Annahme besonderer Umstände auch unter Berücksichtigung des Schutzes der Ehe durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht aus. Die Ehe der Klägerin sei vor der Einreise im März 2016 geschlossen worden. Es habe daher die Möglichkeit bestanden, sich vor der Einreise in die Bundesrepublik über die Voraussetzungen zu informieren und einen Termin bei der Deutschen Botschaft in Serbien zu vereinbaren. Die Klägerin habe stattdessen die Möglichkeit der visumsfreien Einreise genutzt, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Es könne nicht darauf vertraut werden, im Bundesgebiet zu bleiben. Auf die weitere Begründung wird Bezug genommen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
7
Mit Schriftsatz vom 9. Juni 2020, eingegangen bei Gericht am selben Tag, erhob der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Klage gegen diesen Bescheid und beantragte,
Der Bescheid der Beklagten vom 25. Mai 2020 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
8
Gleichzeitig beantragte er, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen bzw. wiederherzustellen (M 4 S 20.2524).
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Der Klägerbevollmächtigte trug zur Begründung des Eilantrags im Wesentlichen vor, alleiniger Grund für die Ablehnung sei das fehlende A1-Zertifikat für die deutsche Sprache, das die Klägerin derzeit wegen der Coronapandemie unverschuldet nicht beibringen könne. Ziffer 5 des Bescheids beziehe sich auf sich selbst. Allein deshalb sei der Bescheid rechtswidrig und aufzuheben. Die Klägerin sei zumindest in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG verletzt.
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Die Ausländerbehörde legte mit Schreiben vom 23. Juni 2020 die elektronischen Akten vor und beantragte, den Eilantrag abzulehnen. Sie trug zur Begründung im Wesentlichen vor, dass die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt seien. Die Klägerin halte sich seit September 2018 in Deutschland auf, habe jedoch eine Teilnahmebestätigung für einen Deutschkurs erstmalig vom 14. Januar 2019 bis zum 24. Januar 2019 vorgelegt, so dass nicht ins Gewicht falle, dass sie ab März 2020 keinen Integrationskurs habe besuchen können. Die Vorlage der Sprachnachweise sei jedoch, selbst bei Vorlage in der Zukunft, nicht entscheidend: Für die Beurteilung, wann die Voraussetzungen eines Rechtsanspruchs entstanden seien, sei auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem das zentrale Merkmal der jeweiligen Anspruchsnorm, das den Aufenthaltszweck kennzeichne - im vorliegenden Fall die Eheschließung - erfüllt worden sei. Für das Eingreifen der Begünstigung des § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV reiche es nicht aus, wenn lediglich das letzte für den Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis noch fehlende Tatbestandsmerkmal nach der Einreise erfüllt werde. Die Nummer 5 des Bescheids werde zurückgenommen. Im Übrigen werde auf die Ausführungen im Bescheid vom 25. Mai 2020 verwiesen.
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Am 1. August 2020 zog die Klägerin in den Landkreis Freising (Bl. 174 der vom Landratsamt Freising vorgelegten Papierakte; im Folgenden: BA)
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Mit Schriftsatz vom 10. August 2018 begründete der Klägerbevollmächtigte die Klage neben den bereits im Eilantrag vorgetragenen Gründen im Wesentlichen damit, dass der Klägerin seitens des Beklagten stets suggeriert worden sei, dass ihr Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit der Beibringung des Sprachnachweises positiv verbeschieden werde. Sie genieße daher Vertrauensschutz.
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Mit Schreiben vom 11. August 2020 beantragte die Ausländerbehörde unter Bezugnahme auf die Ausführungen in der Stellungnahme im Eilverfahren vom 23. Juni 2020,
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Mit weiterem Schriftsatz vom 19. August 2020 trug der Klägerbevollmächtigte vor, dass die Klägerin den Sprachtest A1 bestanden habe. In der Anlage wurde ein „telc language test Ergebnisbogen, Deutsch-Test für Zuwanderer“ vom 23. Juli 2020 vorgelegt. Demnach hat die Klägerin in der Prüfung vom 3. Juli 2020 das Ergebnis „A2 nicht erfüllt“. In einem beigelegten, an die Klägerin gerichteten undatierten Schreiben ohne explizite Absenderangabe wird erläutert, dass die Klägerin das Ergebnis „A1 bestanden“ erzielt habe.
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Die Ausländerbehörde teilte dem Gericht mit Schreiben vom 9. November 2020 mit, dass die Zuständigkeit für die Gerichtsverfahren nach Rücksprache mit dem Landratsamt Freising beim Landratsamt Mühldorf a.I. verbleibe.
16
Ab dem 18. November 2020 verlängerte das Landratsamt Freising die Grenzübertrittsbescheinigung der Klägerin regelmäßig, zuletzt bis zum 21. März 2021 (Bl. 207, 217, 221, 235 BA).
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Mit Schreiben vom 1. März 2021, zugegangen bei den Beteiligten am 2. März 2021, bestimmte das Gericht den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 23. März 2021 und forderte den Beklagtenvertreter auf mitzuteilen, wie lange aktuell eine Terminvergabe bei der Deutschen Botschaft in Serbien mit und ohne Vorabzustimmung dauere.
18
Mit Schriftsatz vom 11. März 2021 trug die Ausländerbehörde vor, dass derzeit von der Klägerin kein Antrag auf Erteilung eines Visums bzw. Eintrag auf der Termin-Warteliste der Deutschen Botschaft in Serbien vorliege. Aktuell betrage die Wartezeit von der Registrierung auf der Termin-Warteliste bis zur Antragsabgabe beim Nachzug zum ausländischen Partner ca. zwei bis zweieinhalb Jahre. Es werde seitens der Botschaft davon ausgegangen, dass sich die Wartezeit gegen Ende des Jahres halbiere, da derzeit eine neue Botschaft bezogen werde und dann mehr Schalter zur Antragsannahme zur Verfügung stünden. Kürzere Wartezeiten seien bei der Vorlage einer Vorabzustimmung gegeben.
19
Das Landratsamt Freising legte am 12. März 2021 die dort geführte Behördenakte in Papierform vor.
20
Die Terminverlegungsanträge des Klägerbevollmächtigten vom 2., 10. und 19. März 2021, wurden mit gerichtlichen Beschlüssen vom 4., 18. und 22. März 2021 abgelehnt. Auf den Inhalt der Beschlüsse wird Bezug genommen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
21
Die Streitsache wurde am 23. März 2021 mündlich verhandelt. Für die Klagepartei erschien niemand. Auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wird Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, auch im Eilverfahren, sowie die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
22
Die Klage hat keinen Erfolg.
23
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Klagepartei in der mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten fristgerecht geladen und darauf hingewiesen wurden, dass auch beim Ausbleiben eines Beteiligten ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, § 102 Abs. 2 VwGO. Auf die ablehnenden Beschlüsse des Gerichts vom 4., 18. und 22. März 2021 hinsichtlich der Terminverlegungsanträge der Klagepartei wird verwiesen.
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Der Bescheid der Beklagten vom 25. Mai 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung des Vorliegens eines Anspruchs ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung (BVerwG, U.v. 11.01.2011 - 1 C 23/09 - juris Rn. 17; BVerwG, U.v. 16.11.2010 - 1 C 17/09 - Beckonline Rn. 16).
25
Das Gericht verweist auf die zutreffende Begründung des Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs. 5 VwGO).
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Ergänzend wird ausgeführt:
27
1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu ihrem Ehemann nach den §§ 29 Abs. 1, 30 Abs. 1 AufenthG, da die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht vorliegt. Die Klägerin ist nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist.
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Ob die Klägerin mit der Vorlage der Bescheinigung vom 27. Juli 2020 den Erwerb einfacher Sprachkenntnisse nach § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nachgewiesen hat, was der Beklagte bezweifelt, kann vorliegend dahinstehen. Denn selbst wenn man zu Gunsten der Klägerin hiervon ausgehen sollte, hat sie dennoch keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels zum Familiennachzug.
29
Die Klägerin erfüllt nicht die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, wonach der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist sein muss (1.1.). Die Klägerin kann ihre Aufenthaltserlaubnis auch nicht wegen § 39 S. 1 Nr. 3 AufenthV abweichend von § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG im Bundesgebiet beantragen (1.2.). Der Beklagte hat ermessensfehlerfrei entschieden, nicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG von der Durchführung des Visumsverfahrens abzusehen (1.3.).
30
1.1. Welches Visum im Sinn von § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG als das erforderliche Visum anzusehen ist, bestimmt sich nach dem Aufenthaltszweck, der mit der im Bundesgebiet beantragten Aufenthaltserlaubnis verfolgt wird (BVerwG, U.v. 11.01.2011 - 1 C 23/09 - juris Rn. 20 m.w.N.), vorliegend beantragt die Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug.
31
Die Klägerin ist vorliegend visumsfrei in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Sie gehört als serbische Staatsangehörige zu den sog. Positivstaatlern gemäß Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Anlage II der Verordnung (EU) 2018/1806 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind und ist somit nur für einen Aufenthalt, der 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen nicht überschreitet, von der Visumpflicht befreit.
32
Die Klägerin beabsichtigte nach Ansicht des Gerichts bereits vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland den langfristigen Familiennachzug zu ihrem in Deutschland lebenden Ehemann. Sie hat eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis beantragt. Für diesen Aufenthaltszweck ist ein für einen längeren Aufenthalt erforderliches Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum), das vor der Einreise erteilt wird (§ 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) und der Zustimmung der zuständigen Ausländerbehörde bedarf (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthV), erforderlich, § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Ein solches besaß die Klägerin nicht bei Einreise.
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1.2. Die Klägerin ist auch nicht berechtigt, ihren Aufenthaltstitel gemäß § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV im Bundesgebiet einzuholen.
34
Danach kann ein Staatsangehöriger eines in Anhang II der Verordnung (EU) 2018/1806 aufgeführten Staates, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder ein gültiges Schengen-Visum für kurzfristige Aufenthalte besitzt, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach der Einreise entstanden sind, es sei denn es handelt sich um einen Anspruch nach den §§ 16b, 16e oder 19e des Aufenthaltsgesetzes.
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Die Klägerin ist zwar Staatsangehörige eines in Anhang II der Verordnung (EU) 2018/1806 aufgeführten Staates und ihr Aufenthalt war im Zeitpunkt der Antragstellung auch noch rechtmäßig. Die Klägerin stellte den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels am 18. Oktober 2018, mithin innerhalb der 90 Tage nach ihrer erfolgten Einreise am 14. September 2018, in deren Zeitraum sie sich rechtmäßig nach Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Anlage II der Verordnung (EU) 2018/1806 in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten durfte. Ihr Aufenthalt galt daher bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt, § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG.
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§ 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV setzt jedoch voraus, dass die zentrale Tatbestandsvoraussetzung der begehrten Aufenthaltserlaubnis - hier die Eheschließung - nach der (letzten) Einreise des Ausländers in die Bundesrepublik Deutschland erfüllt wird. Die Vorschrift soll nur diejenigen Ausländer begünstigen, die im Schengen-Visumverfahren zutreffende Angaben gemacht haben und bei denen sich auf Grund nach der Einreise eingetretener neuer Umstände der Aufenthaltszweck geändert hat. Sie soll nicht den Versuch honorieren, einen von Anfang an beabsichtigten Daueraufenthalt in Deutschland unter Umgehung der nationalen Visumvorschriften durchzusetzen. Andernfalls würde die bewusste Umgehung des Visumverfahrens folgenlos bleiben und dieses wichtige Steuerungsinstrument der Zuwanderung entwertet. Dieser Regelungszweck kommt in der Begründung der Neufassung der Vorschrift durch das Richtlinienumsetzungsgesetz durch das Beispiel der Eheschließung im Ausland deutlich zum Ausdruck (BVerwG, U.v. 11.1.2011 - 1 C 23/09 - juris Rn. 24 ff.).
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Die Klägerin hat die Ehe vor ihrer letzten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland geschlossen.
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1.3. Die Ausländerbehörde hat auch ermessensfehlerfrei entschieden, nicht gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG von der Durchführung des Visumsverfahrens abzusehen. Diese Vorschrift eröffnet der Ausländerbehörde ein Ermessen, vom Visumserfordernis abzusehen, wenn entweder die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erfüllt sind oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Ermessensfehler des Beklagten sind nicht ersichtlich (§ 114 VwGO).
39
1.3.1. Unter einem Anspruch im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG ist grundsätzlich nur ein strikter Rechtsanspruch zu verstehen. Ein solcher Rechtsanspruch liegt nur dann vor, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind (BVerwG, U.v. 10.12.2014 - 1 C 15/14 - NVwZ-RR 2015, 313).
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Ob die Klägerin die allgemeine Erteilungsvoraussetzung eines fehlenden Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfüllt, kann vorliegend dahinstehen. Ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse liegt bei einem nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften vor, § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Der Beklagtenvertreter trägt hierzu vor, dass die Klägerin ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG erfüllt, indem sie ohne das erforderliche Visum in die Bundesrepublik Deutschland einreiste, §§ 95 Abs. 1 Nr. 3, 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.
Eine Einschätzung über das Tatbestandsmerkmal der (fehlenden) Geringfügigkeit des Verstoßes kann vorliegend dahinstehen, da der Anspruch der Klägerin an weiteren Tatbestandsvoraussetzungen scheitert.
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Ein strikter Rechtsanspruch wäre - wenn man zu Gunsten der Klägerin davon ausgeht, dass kein Ausweisungsinteresse vorliegt und einfache Sprachkenntnisse mit dem undatierten, nicht adressierten Anschreiben zum „telc language test Ergebnisbogen“ nachgewiesen wurden - zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt der mündlichen Verhandlung somit gegeben. Der Beklagtenvertreter hat jedoch zulässigerweise und ermessensfehlerfrei das Absehen der Nachholung des Visumsverfahren abgelehnt. Eine Ermessensreduzierung auf Null ist nicht ersichtlich.
42
Die Ermessenserwägungen durften im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zu Gunsten der Klägerin ergänzt werden, § 114 S. 2 VwGO. Aufgrund der behördlichen Begleitungspflicht der Ausländerbehörde darf diese auf nachträglich eingetretene Veränderungen reagieren und, bei nach Anhängigkeit der Klage wegen einer Sachlagenänderung erstmals eingetretener Notwendigkeit einer Ermessensausübung, ihr Ermessen im Lauf des Klageverfahrens erstmals ausüben (BVerwG; U.v. 13.12.2011 - 1 C 14.10 - ZAR 2012, 300, auf beckonline Rn. 8; BVerwG, U.v. 07. 04. 2009 - 1 C 17/08 - juris Rn. 41 f.). Dies hat der Beklagte für den Fall, dass das Gericht seiner Auffassung, dass der Sprachnachweis nicht erbracht wurde und ein Ausweisungsinteresse vorliege, nicht folgt, hilfsweise getan.
43
Die Ermessenserwägungen des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung, mit Verweis auf den streitgegenständlichen Bescheid unter den Erwägungen zu § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG begegnen keinen rechtlichen Bedenken. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte im vorliegenden Fall dem Interesse der Allgemeinheit an dem wirksamen Funktionieren der Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland ein höheres Gewicht beimisst als dem Interesse der Klägerin, bei ihrem Ehemann, mit dem sie bereits im März 2016 in Frankreich die Ehe geschlossen hat, zu leben. Die Erwägung, die faktische Umgehung des Visumverfahrens nicht durch eine Abweichung im Ermessenswege zu honorieren, ist ebenfalls nicht zu beanstanden (BVerwG, U.v. 11.1.2011 - 1 C 23/09 - juris Rn. 34).
44
1.3.2. Der Beklagte hat auch ermessensfehlerfrei abgelehnt, auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls wegen Unzumutbarkeit von der Durchführung des Visumsverfahrens abzusehen. Besondere Umstände des Einzelfalles, die die Durchführung eines Visumsverfahrens für die Klägerin unzumutbar machen, sind nicht ersichtlich, § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG. Die Klägerin befindet sich in einer mit einer Vielzahl von Fällen vergleichbaren Lage. Allein der Umstand, dass die Eheleute möglicherweise eine vorübergehende Trennung für die übliche Dauer des Visumsverfahrens hinnehmen müssen, reicht auch unter Berücksichtigung des Schutzes der Ehe durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht aus (BVerwG, U.v. 16.11.2010 - 1 C 17/09 - juris Rn. 27). Zwar steht vorliegend ein erheblicher Zeitraum von zwei bis zweieinhalb Jahren bis zu einer Visumserteilung im Raum. Allerdings ist glaubhaft vorgetragen, dass sich zum Ende des Jahres die restliche Wartezeit wegen Kapazitätserweiterung der Deutschen Botschaft in Serbien erheblich reduzieren wird. Daneben besteht für die Klägerin nach der Ausreise ebenfalls die Möglichkeit, ihren Mann erhebliche Zeiträume während der Wartezeit visumsfrei zu besuchen. Bei der Beurteilung der Unzumutbarkeit darf auch berücksichtigt werden, dass die Klägerin bislang keine Schritte zur Einleitung eines Visumsverfahrens eingeleitet hat, wie z.B. eine Eintragung in die Warteliste der Deutschen Botschaft.
45
Insbesondere ist vorliegend auch entgegen der Ansicht des Klägerbevollmächtigten kein besonderer Vertrauensschutz für die Klägerin entstanden. Der vormalige Bevollmächtigte der Klägerin wurde bereits kurz nach der Antragstellung vom 18. Oktober 2018 auf das Fehlen des erforderlichen Visums und die Notwendigkeit, dieses nachzuholen hingewiesen. Besondere vertrauensbildende Absprachen zwischen der Klägerin und der Stadt Freiburg i. Br. bzw. dem Beklagten sind nicht ersichtlich. Das kulante Zuwarten bis zu einer erforderlichen Unterlagenbeibringung vor einer Bearbeitung des klägerischen Antrags kann vorliegend nicht vertrauensbildend zu Gunsten der Klägerin gewertet werden.
46
Somit kann die Klägerin die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht abweichend von § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG im Bundesgebiet beanspruchen. Wegen der fehlenden Voraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG steht der Klägerin kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 29 Abs. 1, 30 Abs. 1 AufenthG zu.
47
2. Ein Anspruch der Klägerin ergibt sich ebenfalls nicht aus § 25 Abs. 5 AufenthG. Danach kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.
48
Für einen solchen Anspruch fehlt es bereits an einer entsprechenden Antragstellung bei der Ausländerbehörde und somit am Rechtsschutzinteresse für eine Klage. Unabhängig davon hätte ein solcher Antrag auch in der Sache keinen Erfolg, da nichts für eine tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise der Klägerin ersichtlich ist.
49
Andere Anspruchsgrundlagen für einen Aufenthaltstitel sind nicht ersichtlich.
50
3. Weder die im Bescheid gesetzte Ausreisefrist (Nr. 2) noch die Abschiebungsandrohung (Nr. 3) begegnet rechtlichen Bedenken.
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4. Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass es sich bei Nummer 4 des streitgegenständlichen Bescheids lediglich um einen Hinweis und nicht um einen Verwaltungsakt mit eigener Regelungswirkung handelt, so dass die Klage hiergegen unstatthaft ist.
52
Damit ist die Klage abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.