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VG München, Beschluss v. 26.04.2021 – M 3 S 21.50207
Titel:

Recht auf Selbsteintritt nach der Dublin III-VO wegen schwerer und fortwährender Erkrankung der Ehefrau eines Antragstellers

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a, § 75 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5
Dublin III-VO Art. 2 lit. g, Art. 9, Art. 10, Art. 11, Art. 16, Art. 17, Art. 18
GRCh Art. 7
Leitsatz:
Bei dem Grundrecht zum Schutz von Ehe und Familie aus Art. 7 GRCh, dessen Bezug sich hier in der schwerwiegenden Krankheit der Ehefrau und dem Recht auf Schutz der Familie des Ehegatten äußert, ist eine Ermessensreduzierung auf Null und damit eine Pflicht zum Selbsteintritt nach Art. 17 Dublin III-VO anzunehmen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Abschiebungsanordnung nach Rumänien, Keine systemischen Mängel, Gemeinsame Rückkehrprognose, Schwerwiegende Erkrankung, Ehefrau, Selbsteintritt, Schutz von Ehe und Familie, Ermessensreduzierung auf Null, keine systemischen Mängel, schwerwiegende Erkrankung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 19881

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 3. März 2021 angeordnete Abschiebung nach Rumänien.
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Der Antragsteller, nach eigenen Angaben Staatsangehöriger Afghanistans, reiste am 9. Dezember 2020 in das Bundesgebiet ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für ... (Bundesamt) am 4. Januar 2021 Kenntnis erlangte. Am 3. Februar 2021 stellte er einen förmlichen Asylantrag.
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Eine Eurodac-Abfrage ergab unter anderem einen Eurodac-Treffer der „Kategorie 1“, wonach der Antragsteller einen Antrag auf internationalen Schutz in Rumänien gestellt hat.
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Das Bundesamt richtete am 17. Februar 2021 ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) der VO (EU) Nr. 604/2013 an Rumänien. Mit Schreiben vom 2. März 2021 sagte der rumänische Staat die Übernahme des Antragstellers zu.
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Der Antragsteller gab in seiner Anhörung gegenüber dem Bundesamt am 5. März 2021 an, dass er über Iran, Türkei, Griechenland, Serbien, Rumänien, Ungarn, Slowakei und Tschechien nach Deutschland gereist sei.
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Mit Bescheid vom 3. März 2021 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Rumänien an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz auf 9 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Am 15. März 2021 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht München Klage gegen den Bescheid erhoben (M 3 K 21.50206) und zugleich sinngemäß beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
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Zur Begründung führte der Antragsteller im Wesentlichen an, dass die Bundesrepublik nach Art. 10 der VO (EU) Nr. 604/201 für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig sei, da über den Asylantrag der Ehefrau des Antragstellers noch nicht entschieden worden sei. Es bestünde ein unabdingbares Abhängigkeitsverhältnis der Ehefrau vom Antragsteller. Die Ehefrau leide an einer Krebserkrankung, die regelmäßige Untersuchungen und Nachsorge erfordere. Außerdem würde das rumänische Asylverfahren unter erheblichen systematischen Mängeln leiden. Die andauernde COVID-19-Pandemie würde die Lage zunehmend verschlimmern.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die vom Bundesamt übermittelten Behördenakten - inklusive der Akte zu der Ehefrau des Antragstellers - Bezug genommen.
II.
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Der nach § 34 a Abs. 2 Satz 1 und § 75 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung ist begründet, da nach summarischer Prüfung Erfolgsaussichten der in der Hauptsache erhobenen Klage bestehen und die Interessensabwägung insoweit zugunsten des Antragstellers ausfällt.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts einerseits und das private Aussetzungsinteresse, also das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu.
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Die Abschiebungsanordnung des Antragstellers nach Rumänien gemäß § 34a AsylG dürfte sich als rechtswidrig erweisen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG).
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Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Die Voraussetzungen hierfür liegen aller Voraussicht nach nicht vor.
17
Vorliegend wäre aufgrund der Angaben des Antragstellers i.V.m. den Erkenntnissen über den in Rumänien bereits gestellten und nach den Angaben Rumäniens auch abgelehnten Asylantrag an sich der in der Bundesrepublik Deutschland gestellte Asylantrag i.S.v. § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG unzulässig und vielmehr Rumänien der hierfür zuständige Mitgliedstaat gemäß Art. 18 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29. 6.2013, S. 31) - im Folgenden: Dublin III-VO. Die rumänischen Behörden haben der Wiederaufnahme entsprechend mit Schreiben vom 14. Dezember 2020 zugestimmt.
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Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens ist hier aber aufgrund der besonderen Umstände dieses Einzelfalls nach Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO voraussichtlich auf die Antragsgegnerin übergegangen. Danach kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den Kriterien der Dublin-III VO nicht für die Prüfung zuständig ist. Hier besteht voraussichtlich zwingend die Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO. Bei besonderer Schutzbedürftigkeit kann sich das Ermessen der Behörde zu einem Anspruch des Asylsuchenden auf Selbsteintritt verdichten.
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Aufgrund seiner besonderen Situation hat der Kläger im vorliegenden Fall auch einen Anspruch darauf, dass sein Asylantrag in Deutschland geprüft wird. Im Hinblick auf den Charakter dieser Vorschrift als Ermessensnorm (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a. - Rn. 65) kann ein Kläger zwar allenfalls ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung nach § 40 VwVfG haben. Bei der Anwendung dieser fakultativen Bestimmung steht den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen zu (EuGH, U.v. 10.12.2013 - C-394/12 - Rn. 57) Das Ermessen verdichtet sich aber dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt, wenn jede andere Entscheidung unvertretbar wäre. Eine solche Fallkonstellation ist u.a. anzunehmen, wenn im Fall der Überstellung eine in den persönlichen Umständen des Betroffenen wurzelnde Grundrechtsverletzung gegeben wäre. Denn die Vorschriften in der Dublin-Ill VO für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats dienen als organisatorische und somit nicht individualschützenden Regelungen nicht nur lediglich der zügigen Bearbeitung von Asylanträgen, sondern können auch dem Grundrechtsschutz dienen, soweit sie nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln. Dann hat der Asylsuchende ein subjektives Recht auf Prüfung seines Asylantrags durch den danach zuständigen Mitgliedstaat und kann eine hiermit nicht im Einklang stehende Entscheidung des Bundesamts erfolgreich angreifen (BayVGH, U.v. 3.12.2015 - 13a B 15.50124 - juris Rn. 22 f.; BVerwG, U.v. 16.11.2015 - 1 C 4.15 - juris Rn 24 f.).
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Eine solche Fallkonstellation liegt hier aufgrund der schweren und fortwährenden Erkrankung der Ehefrau des Antragstellers, für die deshalb ein Abschiebungsverbot festgestellt wurde, vor. Für den Antragsteller als Ehemann und somit als Familienangehöriger im Sinn von Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO ergibt sich die Pflicht zum Selbsteintritt aus den unionsrechtlichen Grundrecht zum Schutz von Ehe und Familie (Art. 7 GR-Charta). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind die in der GR-Charta verankerten Grundrechte bei der Auslegung und Anwendung der Dublin-Vorschriften zu berücksichtigen (EuGH, U.v. 6 6.2013 - C-648/11 - NVwZ-RR 2013, 735 Rn. 50 ff.). Zwar ist der Antragsgegnerin zuzugeben, dass die Eheleute mit größerem zeitlichen Abstand nach Deutschland einreisten, daraus lässt sich aber nicht schließen, dass hier keine schützenswerte Familie i.S.v. Art. 7 GR-Charta vorliegt. Das Bestehen der Ehe an sich dürfte aufgrund des insoweit übereinstimmenden Vortrags und der vorgelegten Dokumente und Fotos unstreitig sein. Die kurzzeitige räumliche Trennung der Eheleute beruht auf ökonomischen Sachzwängen, da die Ehegatten nur einer Person die Weiterreise nach Deutschland per Flugzeug finanzieren konnten. Dies kann dem Antragsteller aber nicht zum Nachteil angerechnet werden. Vielmehr ist der in Art. 9, 10 und 11 Dublin-III VO zum Ausdruck kommende Gedanke tragend, dass die Asylverfahren u.a. von Ehegatten grundsätzlich gemeinsam in einem Mitgliedstaat durchgeführt werden soll, auch wenn die Einreise mit zeitlichen Abstand erfolgte.
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Bei dem hier vorliegenden Grundrechtsbezug, der sich hier in einer schwerwiegenden Krankheit der Ehefrau und dem Recht auf Schutz der Familie des Ehegatten äußert, ist eine Ermessensreduzierung auf Null und damit eine Pflicht zum Selbsteintritt anzunehmen. Das ergibt sich aus den Wertungen der Dublin III-VO selbst, die sich nicht nur auf rein verfahrenstechnische Regelungen beschränkt. Die gesonderte Erwähnung von Personen, die wegen Krankheit auf die Unterstützung von Verwandten angewiesen sind (Art. 16 Dublin III-VO) zeigt, dass der Unionsgesetzgeber die Ermessensausübung dort einschränken will, wo Grundrechte berührt sind. In einem solchen Fall besteht grundrechtsbedingt die Pflicht zum Selbsteintritt, welche ein subjektives Recht vermittelt (BayVGH, U.v. 3.12.2015 - 13a B 15.50124 - juris Rn. 25; Vollrath in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 7. Edition, Stand: 01.01.2021, Rn. 4 f.; Hruschka In: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Auflage 2020, Rn. 194; Nestler/Vogt, Dublin-III reversed - Ein Instrument zur Familienzusammenführ…, ZAR 2017, 21/28). Der hier maßgebliche Schutz von Ehe und Familie (Art. 7 GR-Charta) ist in der Systematik des Dublin-III-VO angelegt wie die in Art. 8-10 Dublin-III-VO geregelten Fällen zeigen. Zudem ist die Herstellung der Familieneinheit ausweislich des 14. Erwägungsgrundes eine „vorrangige Erwägung“ der Mitgliedstaaten. Deshalb ist das Ermessen der Antragsgegnerin bei der Anwendung des Art. 17 Abs. 1 Dublin-III VO voraussichtlich auf Null reduziert und besteht somit eine Pflicht zum Selbsteintritt.
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Da die Klage in der Hauptsache hinsichtlich der streitgegenständlichen Nummer 3 des Bescheids somit erfolgversprechend ist, überwiegt das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheids des Bundesamtes das öffentliche Vollzugsinteresse.
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Dem Antrag ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
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Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.