Inhalt

VG München, Urteil v. 08.04.2021 – M 3 K 17.46885
Titel:

Abschiebungsverbot hinsichtlich Libyen

Normenkette:
AufenthG § 60 Abs. 5
Leitsatz:
Palästinenser gehören in Libyen einer Minderheit und damit einer besonders vulnerablen Personengruppe an. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl (Libyen), Abschiebungsverbot (bejaht), palästinensischer Staatsangehöriger, Abschiebungsverbot, Libyen, Lebensverhältnisse, Gesundheitsversorgung, vulnerable Personengruppe
Fundstelle:
BeckRS 2021, 19850

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Der Bescheid des Bundesamts für ... vom 1. August 2017 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. 
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Libyens vorliegen.
II. Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid des Bundesamtes für ... (Bundesamt), mit dem sein Asylbegehren abgelehnt wurde.
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Der Kläger, nach eigenen Angaben palästinensischer Staatsangehöriger und sunnitischen Glaubens, reiste ebenfalls nach eigenen Angaben am 15. Mai 2017 aus Österreich auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 17. Mai 2017 einen Asylantrag.
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Bei seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 19. Juli 2017 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er Libyen wegen der dort herrschenden Unsicherheit und wegen der Diskriminierung als Palästinenser verlassen habe. Er habe mit seinen Eltern in Adschdabiya / Libyen gelebt. Als der Krieg in Libyen ausgebrochen sei, sei er im März 2011 nach Syrien ausgereist. Als der Krieg in Syrien ausbrach, sei er im Oktober 2011 nach Adschdabiya zurückgekehrt. Im Jahr 2015 hätten die Unruhen Adschdabiya erreicht. Er sei daraufhin mit seiner Mutter und seinen zwei Schwestern nach Misrata umgezogen. Von dort habe er Libyen verlassen.
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Der Kläger trug vor, schon zu Zeiten Gaddafis sei die Lage nicht gut gewesen, aber man habe sich sicher gefühlt. Nach der Revolution habe es keine Sicherheit mehr gegeben; jeder hätte Waffen tragen dürfen und es sei chaotisch gewesen. Es habe keine Regierungspolizei mehr gegeben, sondern unterschiedliche Milizen. Bei Kontrollen habe man diesen Milizen Geld geben müssen oder man sei verhaftet worden. Es habe willkürliche Entführungen gegeben und viele Menschen seien einfach umgebracht und auf die Straße geworfen worden. Des Weiteren werde der Kläger als Ausländer in Libyen diskriminiert. Er habe als Ausländer einen Ausweis tragen müssen und habe die Stadt nicht verlassen dürfen, in der er gelebt habe. Im Jahr 2015 habe er sich in Adschdabiya an der Universität eingeschrieben. Nach seinem Umzug nach Misrata hätte er aufgrund der dortigen Ausländerfeindlichkeit nicht an der dortigen Universität weiterstudieren können. Bei einer Kontrolle seiner Mutter und der Schwestern habe man die unverheiratete Schwester mitnehmen wollen, weil sie Palästinenserin sei.
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Auf dem Weg nach Misrata im Jahr 2015 Milizen hätten den Kläger verhaften wollen, weil er kein Libyer sei. Bei einer Rückkehr befürchte der Kläger, entführt oder getötet zu werden und die Gegend von Tripolis / Libyen sei besonders unsicher. Der Kläger habe die zwölften Klasse abgeschlossen und angefangen zu studieren. Er habe Leute im eigenen Auto gegen Bezahlung gefahren, wofür er keine offizielle Lizenz gehabt habe. In Libyen lebten seine Mutter und seine zwei Schwestern in Misrata. Mit diesen stehe er in Kontakt. In Libyen lebten weitere Verwandten mütterlicherseits, da seine Mutter aus Libyen stamme, aber er habe keinen Kontakt zu ihnen. Sein Vater lebe in Osnabrück und habe einen Asylantrag gestellt.
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Mit Bescheid vom 1. August 2017, zugestellt am 3. August 2017, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1), auf Asylanerkennung (Ziff. 2) sowie auf subsidiären Schutz (Ziff. 3) ab und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Ziff. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, anderenfalls wurde ihm die Abschiebung zuvorderst nach Libyen angedroht (Ziff. 5). Das gesetzliche Einreiseverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 6). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Der Kläger hat am 11. August 2017 Klage beim Verwaltungsgericht München erhoben und beantragte zuletzt sinngemäß:
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1. Der Bescheid des Bundesamts (Az. 7128551-998) vom 1. August 2017 wird in den Ziffern 4 bis 6 aufgehoben.
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2. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht.
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Zur Begründung wurde auf die Angaben gegenüber dem Bundesamt Bezug genommen.
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Das Bundesamt äußerte sich nicht zur Klage.
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Mit Schriftsatz vom 19. März 2021 erklärte die Beklagte ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Mit Schriftsatz vom 22. März 2021 erklärte auch der Kläger sein Einverständnis hierzu und nahm seine Klage teilweise zurück.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Vorliegend konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (101 Abs. 2 VwGO).
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Die Entscheidung ergeht gem. § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
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Das Verfahren war einzustellen, soweit der Kläger mit der Klage ursprünglich auch die Zuerkennung subsidiären Schutzes und die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erstrebt hat. Insoweit wurde die Klage durch den Schriftsatz vom 22 März 2021 zurückgenommen. Die Verfahrenseinstellung und Kostenentscheidung musste insoweit nicht gesondert durch Beschluss erfolgen. Vielmehr konnte darüber gemeinsam im Urteil über den anhängig gebliebenen Streitgegenstand entschieden werden (vgl. BVerwG vom 06.02.1963 - V C 24/61 - juris).
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Die Klage ist in ihrem verbliebenen Umfang zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Libyens nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
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Die Regelung des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit (vgl. z.B. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017, 3 A 140/16 - juris Rn. 53 m.w.N.). Ein Abschiebungsverbot infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen extremer Gewalt in Betracht, und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen.
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Für eine Verletzung des Art. 3 EMRK reicht der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, allein nicht aus. Art. 3 EMRK erfasst zwar auch Gefahren, die nicht vom Staat oder staatsähnlichen Organisationen ausgehen (BVerwG, U.v. 13.6.2013 - 10 C 13/12 - juris Rn. 25). Aus der Menschenrechtskonvention leitet sich aber kein Recht auf Verbleib in einem Konventionsstaat ab, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 23 ff.). Soweit die schlechten humanitären Bedingungen - wie in Libyen - nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkte oder indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen, ist entsprechend der Rechtsprechung des EGMR davon auszugehen, dass die Fähigkeit des Betroffenen berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen - etwa Nahrung, Hygiene und Unterkunft sowie seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 a.a.O., juris Rn. 25; EGMR, U.v. 28.6.2011 - 8319/07 - BeckRS 2012, 08036 - Rn. 282, 283).
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Vorliegend sind die unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Libyen keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern beruhen auf einer Vielzahl von Faktoren, darunter die allgemeine politische und wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage. Es ist nicht festzustellen, dass in Libyen ein Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trägt, insbesondere, dass er etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
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Für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, Urt. v. 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 26).
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Vorliegend ist unklar, auf welchen Ort insoweit abzustellen ist, da Abschiebungen nach Libyen aus westlichen Staaten in den letzten Jahren praktisch nicht stattgefunden haben. Das Auswärtige Amt führt im Lagebericht vom 11. Februar 2021 aus, es existierten keine funktionierenden bilateralen Rückübernahmeabkommen zwischen EU-Staaten und Libyen. Bereits im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 3. August 2018 heißt es, dass Abmachungen mit Ministerien und deren Behörden grundsätzlich wenig belastbar seien. Ergänzende Verhandlungen mit den Milizen seien notwendig. Aus Frankreich sei die Rückführung eines Gefährders unter erheblichem Aufwand bekannt, Italien habe 2017 zwei libysche Staatsangehörige zurückgeführt. Abschiebungen aus Deutschland habe es nicht gegeben.
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Zudem ist die Reisefreiheit im Inland eingeschränkt. Reisen im Land ist durch Kampfhandlungen vielerorts weiterhin sehr gefährlich, dazu kommen schlechte bzw. unbefestigte Straßen und mangelnde Sicherheitsstandards von Fahrzeugen, die zu einer hohen Unfallrate führen. Die Infrastruktur im Land hat unter den Kriegswirren erheblich gelitten. In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen wie insbesondere die wichtigste Verbindungsstrecke von West nach Ost entlang der Küste gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig willkürliche Kontrollen durchführen. Überlandstraßen und Autobahnen wie auch Grenzübergänge sind zeitweise gesperrt (vgl. zum Ganzen: Länderinformationsblatt Libyen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich v. 25. September 2020; Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020: Libya, https://www.btiproject.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_LBY.pdf, Auswärtiges Amt, Libyen: Reise- und Sicherheitshinweise,
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https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/libyensicherheit/219624).
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Nach dem Vorstehenden kann weder ein Ankunftsort einer Abschiebung bestimmt werden, noch ist davon auszugehen, dass der Kläger tatsächlich in der Lage sein wird von einem solchem Ankunftsort in seine Herkunftsregion zurückzukehren. Deshalb ist davon auszugehen, dass der Kläger nach seiner Abschiebung auf kein familiäres bzw. soziales Netzwerk bauen kann und sich somit in einer vergleichbaren Situation wie die besonders vulnerablen Gruppe der Binnenflüchtlinge befinden wird.
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Für die Lebensverhältnisse in Libyen ist mangels anderer Anhaltspunkte auf die allgemeine Situation im gesamten Land abzustellen (vgl. hierzu auch VG Berlin, U. v. 15.9.2020 - 19 K 63/20 A -, juris Rn. 25 ff.). …
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Libyen ist seit der Revolution im Jahr 2011 von einem Bürgerkrieg betroffen und hat einen beispiellosen Prozess des gewaltsamen Staatszerfalls erlebt. Libyen ist seitdem ein fragmentiertes, fragiles Land mit eingeschränkter Staatlichkeit und gespaltenen Institutionen. Die Regierung des Nationalen Einvernehmens (RNE) unter Premierminister Sarraj ist nur eingeschränkt handlungsfähig. Insbesondere ist es ihr nicht gelungen, das staatliche Gewaltmonopol wiederherzustellen. Vom ost-libyschen Benghazi aus agiert eine dem General Haftar nahestehende Parallelregierung. Seit dem 15 März 2021 ist eine Übergangsregierung unter Ministerpräsident Abdul Hamid Dbaiba vereidigt. Sie soll die international anerkannte Regierung mit Sitz in Tripolis und die Gegenregierung mit Sitz im Osten des Landes ablösen und Libyen zu landesweiten Wahlen am 24. Dezember führen.
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Viele Regionen und Städte werden von bewaffneten Gruppen kontrolliert, die sich einer staatlichen Aufsicht verweigern. Die Folgen des Konflikts und der eingeschränkten Handlungsfähigkeit der RNE wirken sich weiter auf Schutz und Versorgung großer Bevölkerungsgruppen aus: Laut Vereinten Nationen (VN) bedurften 2020 ca. 900.000 Menschen in Libyen humanitärer Hilfe. Vorläufigen Angaben der VN zufolge wird die Zahl im Jahr 2021 u. a. aufgrund der Folgen der bewaffneten Auseinandersetzungen und der COVID-19-Pandemie bei etwa 1,3 Millionen Personen liegen. Die Menschenrechtslage in Libyen hat sich nicht verbessert und ist gleichbleibend schlecht. Menschenrechte werden weder staatlich effektiv geschützt noch gefördert, die Einwirkungsmöglichkeiten der RNE sind zum Teil begrenzt. Gewalt und Straflosigkeit sind verbreitet. Ein einheitliches und funktionierendes Justizsystem steht nur begrenzt zur Verfügung. Die Zivilbevölkerung sowie Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten sind Menschenrechtsverletzungen durch staatliche wie nichtstaatliche Akteure häufig schutzlos ausgesetzt. Es kommt zu Angriffen auf Kritikerinnen und Kritiker, Oppositionelle, politische Gegnerinnen und Gegner, Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger, Journalistinnen und Journalisten, Juristinnen und Juristen, religiöse Führer sowie (angebliche) ehemalige Anhängerinnen und Anhänger Gaddafis. Es liegen Berichte zu Entführungen, Menschenhandel, Freiheitsberaubungen, Tötungsdelikten, Folter und Unterdrückung der Meinungsfreiheit in allen Landesteilen vor. Zivilisten werden häufig Opfer bewaffneter Auseinandersetzungen, insbesondere bei unpräzisen Waffeneinsätzen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. Februar 2021; Länderinformationsblatt Libyen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich v. 25. September 2020; Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020: Libya, https://www.btiproject.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_LBY.pdf; NZZ, Die neusten Entwicklungen - Bürgerkrieg in Libyen, https://www.nzz.ch/international/libyen-konflikt-die-neusten-entwicklungen-und-hintergruende-ld.1477595 (Stand: 29.März 2021)).
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Die Gesundheitsversorgung ist wegen des bewaffneten Konflikts, der immer wieder zu bewaffneten Übergriffen auf und Zerstörung von Gesundheitseinrichtungen führt (vgl. OHCHR/UNSMIL, Libya: Health-Care under Attack, 22. Mai 2018), wegen der konfliktbedingten Wirtschaftskrise, des Medikamentenmangels und Krankenhausschließungen in einem sehr prekären Zustand und wird bereits seit 2017 und damit vor der Großoffensive durch General Haftar als mangelhaft bezeichnet (vgl. BfA, Länderinformationsblatt, S. 20 m.w.N.). UNSMIL berichtet von einer deutlichen weiteren Verschlechterung des Gesundheitssektors in der zweiten Jahreshälfte 2019. Etwa ein Viertel der Gesundheitseinrichtungen seien wegen des Konflikts oder Elektrizitätsmangels geschlossen worden, in vielen weiteren sei es zu Unterbrechungen gekommen (vgl. UN Security Council, UNSMIL Report of the Secretary General, 15. Januar 2020, S. 13), wobei in unmittelbaren Konfliktregionen mehr als 80% der Gesundheitseinrichtungen geschlossen waren (vgl. Australian Government, DFAT, Rn. 2.20). Die schlechte Sicherheitslage, Straßensperrungen und Verzögerungen an Checkpoints (s. bereits o.) verhindern häufig den Zugang zu Gesundheitseinrichtungen. Es kommt gehäuft zu Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen, Plünderungen und Wegnahme von medizinischer Ausrüstung und Gewalt gegenüber Personal (vgl. OHCHR/UNSMIL, Libya: Health-Care under Attack, 22. Mai 2018). Das Bundesamt beschreibt das libysche Gesundheitssystem in seinem Länderreport als „praktisch nicht funktionierend“ (vgl. Bundesamt, Länderreport 19. Libyen, Stand: 10/2019, S. 2; s.a. UNHCR, Returns to Libya, Rn. 30: am Rande des Zusammenbruchs). Hilfsorganisationen haben nur eingeschränkt Zugang zu den betroffenen Gebieten (vgl. European Commission, European Civil Protection and Humanitarian Aid Operations, Libya, 21. Oktober 2019, S. 1). Nach einer Umfrage der IOM hatten Ende 2015 80% der Befragten keinen Zugang zu regulärer Gesundheitsversorgung (vgl. Humanitarian Policy Group, Protection of Displaced Libyans, August 2019, S. 13), nach Angaben der World Health Organisation 1,3 Millionen (vgl. Australian Government, DFAT, Rn. 2.20). Auch nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes hat sich die medizinische Grundversorgung 2014-2020 stark verschlechtert und herrschen begrenzte finanzielle und personelle Ressourcen, auch durch Abwanderung von häufig nicht-libyschem Fachpersonal sowie einem Mangel an Medikamenten, grundlegender Ausstattung und medizinischem Gerät (Lagebericht, S. 15 f.).
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Binnenvertriebene sind von der angespannten Lage besonders betroffen (vgl. UNGA, IDP Report, Rn. 18 ff.), auch, weil sie aufgrund ihrer Herkunftsregion an ihrem neuen Aufenthaltsort häufig als Gegner der lokalen Machthaber angesehen werden (vgl. UNHCR, Returns to Libya, Rn. 13). Gleiches gilt für den Kläger, wenn er in einen anderen Landesteil als seiner Heimatregion zurückkehrt. Sowohl Binnenvertriebene als auch Rückkehrer haben große Schwierigkeiten, ihre Grundbedürfnisse zu decken (IOM, Libya IDP and Returnee Report. November-December 2019, 2020, S. 12). Wie schwierig es für in Libyen vom bewaffneten Konflikt betroffene Personen ist, in vermeintlich sichere Landesteile auszuweichen, lässt sich zusammenfassend aus der Lage der Binnenvertriebenen ableiten, wie sie die UN-Sonderberichterstatterin zur Menschenrechtslage der Binnenvertriebenen in ihrem Bericht über ihren Besuch in Libyen schildert (vgl. UNGA, IDP Report), Rn. 38 ff.): Viele Binnenvertriebene, die ständige Unsicherheit in ihrer Herkunftsregion erlebten, müssten die schwierige Entscheidung treffen, nicht in ihre Häuser zurückzukehren, was insbesondere Binnenvertriebene aus dem Osten des Landes betreffe. Diese sähen sich jetzt, nach ihrer Vertreibung, noch größeren Verletzungen ausgesetzt. Viele der Binnenvertriebenen, mit denen die Sonderberichterstatterin sprach, hätten davon berichtetet, sich auch in den Städten, in denen sie jetzt lebten, unsicher zu fühlen und dort tägliche Diskriminierung zu erleben, die ihre Möglichkeiten, für sich und ihre Familien das Überleben zu sichern, einschränke. Mehrere IDPs berichteten der Sonderberichterstatterin, dass sie aufgrund des nach ihrer Vertreibung bestehenden Missbrauchsrisikos und angesichts des Fehlens von Schutz und Lebensgrundlagen ernsthaft darüber nachdächten, das Land zu verlassen bzw. dass einige sich schließlich auf gefährliche Migrationsrouten begeben hätten, um Schutz außerhalb des Landes zu finden. Während des Besuchs sei vielfach von Festnahmen und Inhaftierungen von IDPs, der Anwendung von Folter und schlechten Haftbedingungen berichtet worden.
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Staatenloser Palästinenser stellen in Libyen eine besonders vulnerable Personengruppe dar (VG Berlin, U.v. 18.8.2020 - 19 K 69.19 A -, juris Rn. 53; VG Chemnitz, U.v. 1.11.2018 - VG 7 K 3509/16.A -, juris Rn. 33; VG Ansbach, U.v. 29. März 2018 - VG AN 10 K 16.32482 -, juris Rn. 37), die aufgrund ihrer sozialen Stellung den Folgen des bewaffneten Konflikts besonders schutzlos ausgeliefert ist. Denn anders als viele Libyer können Palästinenser nicht auf den Schutz eines bestimmten Stammes zurückgreifen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Palästinensische Flüchtlinge. Themenpapier, 31. Oktober 2017; im Folgenden: SFH, Palästinenser, S. 12). Der sich aus der Stammeszugehörigkeit ergebende Schutz des Einzelnen ist in Libyen mangels funktionierender staatlicher Strukturen aber von ganz besonderer Bedeutung (vgl. Mohamed Ben Lamma, The Tribal Structure in Libya: Factor for Fragmentation or Cohes…, September 2017. S. 3 ff). Palästinenser sind damit besonders bedroht, Opfer von Gewalt, Entführungen oder Diebstahl zu werden (vgl. SFH, Palästinenser, S. 12). Auch ist für Palästinenser die Bewegungsfreiheit in Libyen in besonderem Maße eingeschränkt. Besteht schon allgemein die Gefahr willkürlicher Inhaftierung an den über das ganze Land verteilten offiziellen und inoffiziellen Checkpoints, so ist diese für Migranten und Palästinenser besonders hoch (vgl. Lifos/Swedish Migration Agency, Thematic Report: Palestinians & Syrians in Libya, 23. Februar 2016, S. 20). Hieraus folgt, dass für Palästinenser die Möglichkeiten, ein durch den Konflikt gefährdetes Gebiet kurzfristig zu verlassen, erheblich verringert sind.
32
Angesichts der beschriebenen Rahmenbedingungen in Libyen ist aufgrund der besonderen individuellen Umstände des Klägers vorliegend davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer Abschiebung nach Libyen tatsächlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Da weder ein Ankunftsort der Abschiebung bekannt ist noch davon auszugehen ist, dass der Kläger tatsächlich in seine Heimatregion zurückkehren kann, dürfte die Situation des Klägers insoweit mit der Situation von Binnenvertriebenen vergleichbar sein. Zudem ist seine in Libyen verbliebene Familie bereits aus ihrer Heimat Adschdabiya nach Misrata geflohen, auch insoweit ist der Kläger als Binnenflüchtling anzusehen. Binnenflüchtlinge gehören aufgrund fehlender sozialer Netzwerke und Einnahmemöglichkeiten sowie dem Misstrauen, das ihnen als Fremden entgegenschlägt, zur Gruppe der besonders vulnerablen Personen (BFA-Länderinformation, S. 112 ff.). Weiterhin gehört der Kläger als Angehöriger der Minderheit der Palästinenser einer weiteren besonders vulnerablen Personengruppe an (vgl. o.). In einer seit einem Jahrzehnt des Konflikts zerrütteten Gesellschaft hängt die Möglichkeiten des Einzelnen, sich ein Leben - zumindest am Rande des Existenzminimums - aufzubauen, jedoch stark vom familiären Hintergrund, persönlichen Verbindungen und Netzwerken ab. Insgesamt sind deshalb hier nach Abwägung der maßgeblichen Einzelfallumstände im Falle des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V. m. Art. 3 EMRK zu bejahen.
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Da der Klage hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG stattzugeben ist, sind auch die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben (Nrn. 5 und 6 des Bescheids; vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG).
34
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 - 10 B 60/08 - juris). Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.