Inhalt

VG München, Urteil v. 07.06.2021 – M 6 K 17.36480
Titel:

Abschiebungsverbot für alleinstehenden, gesunden Afghanen

Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen sind bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland nach Afghanistan die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK derzeit erfüllt. (Rn. 27 – 38) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Afghanistan, Folgen der Corona-Pandemie, Kein leistungsfähiges Netzwerk, Abschiebungsverbot bejaht, Afghane, Paschtune, Abschiebungsverbot, COVID-19-Pandemie, Arbeitsmarkt, Lebensverhältnisse, familiäres Netzwerk, schlechte humanitäre Bedingungen, Corona
Fundstelle:
BeckRS 2021, 19823

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. März 2017 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 3/4 und die Beklagte 1/4.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am … Mai 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier am … Dezember 2015 einen Asylantrag.
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Bei seiner Anhörung am … Dezember 2016 vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gab der Kläger im Wesentlichen an, in Afghanistan passierten
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überall Anschläge; wenn man morgens das Haus verließe, könne man nie sicher sein, ob man abends zurückkehren würde. In Afghanistan habe der Kläger keine Schule besucht, er könne lediglich ein wenig Dari lesen und schreiben sowie Paschto lesen. Er habe vier Jahre als Kfz-Mechaniker in einer Werkstatt gearbeitet sowie zwei Jahre vor der Ausreise als Taxifahrer. Er habe ein eigenes Taxi besessen. Er habe als Taxifahrer nicht so viel verdient. Zuerst seien es noch 1500 Afghani gewesen, zum Schluss aber nur 300 Afghani. Etwa 7 oder 8 Monate vor der Ausreise hätten zwei Freunde ihn mit dem Messer bedroht und die Herausgabe des Taxis verlangt; bei Erscheinen der Polizei seien sie aber weggelaufen. Zwei Jahre vor der Ausreise (zu Beginn seiner Tätigkeit als Taxifahrer) habe ein Corollafahrer ihn im Taxi verfolgt und in eine Seitengasse gedrängt, und da es zum Streit kam und dann alle laut gewesen seien, sei der Corollafaher weggefahren, aber der Antragsteller ginge davon aus, dass der Corollafahrer ihn eigentlich hatte überfallen wollen. Vor vier Jahren sei der Vater des Antrasgstellers bei einem Anschlag getötet worden, seitdem möge er Afghanistan nicht mehr. Außerdem sei der Antragsteller Zeuge gewesen, als das Mädchen Farkhunda getötet wurde. Bei Rückkehr nach Afghanistan befürchte der Antragsteller, er müsste mit den Leuten streiten. Er habe zudem kein Taxi mehr, da er dieses vor der Ausreise verkauft habe. Des Weiteren führt der Antragsteller an, er sei bei einem Psychiater in Behandlung. Er legte diverse Atteste vor, wobei es sich zweimal Arztberichte anlässlich von Einlieferungen in ein Krankenhaus in Folge von starker Alkoholisierung (am …05.2016 und am …09.2016) und einmal um einen Arztbericht bezüglich eines dreitägigen Krankenhausaufenthaltes wegen Mandelantzündung (...10.2017) handelt. Außerdem reicht der Antragsteller zwei Atteste, ausgestellt von Dr. A. / Gemeinschaftspraxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie am …12.2016 und am …12.2016., ein, worin ihm eine PTBS bescheinigt wird.
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In Afghanistan lebten noch zwei Brüder, zwei Schwestern, drei Onkel mütterlicherseits und zwei Onkel väterlicherseits sowie eine Tante väterlicherseits und zwei mütterlicherseits sowie der Rest der Großfamilie.
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Mit Bescheid vom 22. März 2017, zugestellt am 28. März 2017, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1) und auf Asylanerkennung (Ziffer 2) sowie auf Zuerkennung subsidiären Schutzes (Ziffer 3) ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Afghanistan oder einem anderen Staat angedroht, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).
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Auf die Begründung des Bescheids wird verwiesen.
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Am 3. April 2017 ließ der Kläger Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland beim Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben und beantragte sinngemäß,
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den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. März 2017 in der Ziffer 1) und den Ziffern 3) bis 6) aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Flüchtling anzuerkennen, hilfsweise dem Kläger subsidiären Schutz zuzusprechen, sowie weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf die Angaben beim Bundesamt verwiesen.
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Die Beklagte übersandte die Behördenakte in elektronischer Form; eine Antragstellung unterblieb.
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Mit Schriftsatz vom 6. November 2017 legte der Bevollmächtigte des Klägers eine Therapiebestätigung vor und kündigte einen Beweisantrag zum Nachweis der Tatsache an, dass beim Kläger eine längerfristige behandlungsbedürftige schwere psychiatrische Erkrankung vorliege.
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Mit Schriftsatz vom 7. Juni 2018 wurde der Bericht der Jugendhilfe im Strafverfahren vom 30. April 2018 vorgelegt.
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Mit Schriftsatz vom 4. Juni 2019 wird das Attest vom … April 2018 von Frau A. vorgelegt sowie abermals die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt.
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Mit Schreiben vom 21. Juni 2019 teilte die Beklagte mit, dass sie weiterhin keine Abschiebungsverbote beim Kläger erkenne.
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Mit Beschluss vom 28. April 2021 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Mit Schriftsatz vom 17. Mai 2021 führte die Bevollmächtigte des Klägers aus, dass dieser die Grundstufe eines Basis- und Alphabetisierungsprogramms besuche, aber nach wie vor Analphabet sei. Seinen Lebensunterhalt verdiene er in der Gastronomie und sichere mit seinem Einkommen das Überleben seiner Familien in Afghanistan, die er finanziell unterstütze. Seine Mutter sei verstorben. Seine Brüder betreiben ein Kleinlebensmittelladen und seien verheiratet und haben inzwischen sechs minderjährigen Kinder. Seine Schwester sei 17 Jahre alt und werde von Kläger mit 200-300 EUR unterstützt. Das Verhältnis zu seinen Brüdern sei nicht besonders gut.
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Zur mündlichen Verhandlung am 7. Juni 2021 erschien der Kläger und wurde informatorisch angehört. In der mündlichen Verhandlung beschränkte der Klägerbevollmächtigte die Klage auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG und nahm die Klage im Übrigen zurück. Die Beklagte war nicht vertreten.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung, die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Über den Rechtsstreit konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 31. Mai 2021 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). Die Beklagte wurde form- und fristgerecht geladen.
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Soweit die Klage zurückgenommen wurde (Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes), ist das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
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Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet.
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Soweit das Bundesamt das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten festgestellt, die Abschiebung nach Afghanistan angedroht und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot ausgesprochen hat, ist der streitgegenständliche Bescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Aus diesem Grund ist der streitgegenständliche Bescheid in den Nummern 4 bis 6 aufzuheben.
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1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit. Ein Abschiebungsverbot infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen ganz extremer Gewalt in Betracht und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen.
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Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 13). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen vielmehr ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreichen. Diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 11).
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2. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht - soweit ersichtlich - bislang davon aus, dass für alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige weiterhin im allgemeinen nicht die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gegeben sind (vgl. etwa BayVGH, B.v. 17.12.2020, 13a B 20.30957 - juris). Auch das Hamburgische Oberverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 25. März 2021 festgestellt, dass auch angesichts der Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die humanitären Verhältnisse in Afghanistan im Falle der Rückkehr eines jungen, erwachsenen, gesunden und alleinstehenden Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen dorthin die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK derzeit regelhaft nicht erfüllt sind (1 Bf 388/19.A).
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Demgegenüber geht der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg derzeit davon aus, dass angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK derzeit regelmäßig erfüllt sind, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen (VGH BW, U.v. 17.12.2020, A 11 S 2042/20 - juris). Besondere begünstigende Umstände können nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt.
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3. Unter Berücksichtigung der obigen Grundsätze und der aktuellen Erkenntnismittel (vgl. z.B. OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 94, 8.4.2021; Strategic situation report: Covid 19, No. 90, 4.2.2021, Strategic situation report: Covid 19, No. 89, 21.1.2021; Operational Situation Report, 14.1.2021; Bundesamt, Briefing Notes v. 12.4.2021, v. 22.2.2021; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan in der Fassung vom 14.1.2021; EASO, Country Guidance, Dezember 2020; IOM, Information on the socio-economic situation in the light of COVID 19 v. 23.9.2020; IFC, Acute Food Insecurity Analysis August 2020 - March 2021, 8.11.2020, abrufbar unter www.reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-ipc-acute-food-insecurity-analysis-august-2020-march-2021-issued und Eva-Catharina Schwörer, Gutachten v. 30.11.2020: Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die in Lage in Afghanistan) geht der erkennende Einzelrichter davon aus, dass im Fall des Klägers ein besonderer Ausnahmefall schlechter humanitärer Bedingung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG zu bejahen ist:
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Die ohnehin schon schlechte wirtschaftliche Situation in Afghanistan hat sich aufgrund der Covid-19-Pandemie in den letzten Monaten drastisch verschärft, der afghanische Arbeitsmarkt ist extrem angespannt und die Lebenshaltungskosten sind stark gestiegen (vgl. z.B. OCHA, Strategic situation report: COVID-19, No. 90 v. 4.2.2021; BAMF, Briefing Notes v. 22.2.2021; EASO, Country Guidance: Afghanistan, Dezember 2020; IOM, Information on the socio-economic situation in the light of COVID-19 v. 23.9.2020). Nach Einschätzung von OCHA waren im Jahr 2020 bis zu 14 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe (u. a. mit Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan in der Fassung v. 14.1.2021, S. 22), für das Jahr 2021 schätzt OCHA die Anzahl auf 18,4 Millionen und damit sechsmal so hoch wie vor vier Jahren (vgl. OCHA, Strategic situation report: COVID-19, No. 94 v. 8.4.2021, S. 3; zur Erweiterung humanitärer Hilfsangebote vgl. OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report v. 3.6.2020 u. v. 14.1.2021). Dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich zufolge haben eine Reihe von U.S.-Wirtschafts- und Sozialentwicklungsprogrammen ihre Ziele für das Jahr 2020 aufgrund Covid-19-bedingter Einschränkungen nicht erreicht (Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 09.04.2021, S. 326). Insbesondere besteht in Afghanistan eine dramatisch verschlechterte Ernährungslage ähnlich der Dürre im Jahr 2018. OCHA schätzt die akute Lebensmittelunsicherheit im Zeitraum November 2020 bis März 2021 auf 16,9 Millionen betroffene Menschen (OCHA, Strategic situation report: COVID-19, No. 89 v. 21.1.2021; so auch Schwörer, Gutachten v. 30.11.2020: Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Lage in Afghanistan, S. 13). Die Preise für Lebensmittel sind um durchschnittlich 10 bis 23% gestiegen, während das Einkommen der „einfachen Arbeiterhaushalte“ Covid-19-bedingt wegen eingeschränkter Erwerbsmöglichkeiten um rund 18 bis 19% gesunken ist (OCHA, Strategic situation report: COVID-19, No. 89 v. 21.1.2021, S. 2). Rund die Hälfte aller Afghanen ist so arm, dass sie ohne die kostenlosen Lebensmittel der UN verhungern würden (Schwörer, Gutachten v. 30.11.2020: Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Lage in Afghanistan, S. 13). In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% ausgegangen, auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert werde und bedingt durch die Covid-19-Krise mit einer wirtschaftlichen Rezession (-8% des BIP) zu rechnen sei (siehe Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan in der Fassung v. 14.1.2021, S. 22ff). Die afghanischen Grenzen sind ausweislich des aktuellen Länderinformationsblatts Afghanistan des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl alle offen, was den normalen Handel mit Lebensmitteln erleichtere. Insgesamt würden in den kommenden Monaten zwar keine signifikanten zusätzlichen negativen Auswirkungen auf die Ernährungsunsicherheit erwartet, aber die anhaltenden Auswirkungen der Covid-19-Pandemie seien in Afghanistan immer noch sichtbar (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 09.04.2021, S. 330).
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Nach dem aktuellen Bericht von EASO (Country Guidance Afghanistan, S. 167 ff.) vom Dezember 2020 sei der Hauptfaktor hinsichtlich des Zugangs zu Nahrungsmitteln die Fähigkeit einer Person, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, was bei Vertriebenen besonders schwierig sein könne. 72% der afghanischen städtischen Bevölkerung lebe in Slums oder unzureichenden Unterkünften. Etwa 70% der Bevölkerung Kabuls lebe in informellen Siedlungen. Die afghanischen Großstädte böten jedoch gerade für Alleinstehende die Option relativ billigen Wohnens in sog. „Teehäusern“. Unter Berufung auf eine Untersuchung der Zentralen Statistikbehörde Afghanistans (Afghanistan Living Conditions Survey - ALCS) wird ausgeführt, der Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Anlagen habe sich bedeutend verbessert. Jedoch bleibe der Zugang zu Trinkwasser für viele Afghanen ein Problem, die sanitären Anlagen seien weiterhin schlecht. Für Rückkehrer sei das erweiterte familiäre Netzwerk überaus wichtig, um Zugang zu Arbeit und Unterkunft zu erhalten. Viele Rückkehrer ohne familiäre Netzwerke würden sich in den Großstädten in der Annahme niederlassen, dass die Sicherheitslage und die Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu bestreiten, dort besser seien. Zum Teil würden nach Afghanistan abgeschobene Personen in der Anfangsphase auch Reintegrationshilfen erhalten. Angesichts der allgemeinen Lage sei es generell - vorbehaltlich individueller Umstände - zwar nicht unzumutbar, sich in den Großstädten Kabul, Herat oder Mazar-e-Sharif niederzulassen. In diesem Zusammenhang sei jedoch der Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk oder finanziellen Mitteln von besonderer Bedeutung.
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Auch dem österreichischen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zufolge spielen neben den Fähigkeiten, die sich Rückkehrende im Ausland angeeignet haben, die persönlichen Kontakte eine wichtige Rolle und ist die Arbeitssuche ohne Netzwerke schwierig (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 09.04.2021, S. 335). Ungelernte Arbeiter erwirtschaften danach ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte, wobei der Durchschnitt für einen ungelernten Arbeiter unterschiedlich sei und für einen Tagelöhner etwa 5 USD pro Tag betrage. Zwar sei während der Covid-19-Pandemie die Situation für Tagelöhner schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch Sperr- und Restriktionsmaßnahmen negativ beeinflusst worden seien, kleine und große Unternehmen böten aber in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 09.04.2021, S. 336).
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Schwer getroffen worden seien allerdings insbesondere der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte und die Armutsqote dort nunmehr 45,5% betrage (World Bank Group, Afghanistan Development Update April 2021, S. 9). Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums sei nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der Covid-19-Pandemie erhole (Bundesamt, Briefing Notes v. 12.4.2021, S. 2).
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Insgesamt handelt es sich um eine dynamische Entwicklung. Schwörer geht in ihrem Gutachten davon aus, dass es nach der festgestellten Ineffektivität der „Lockdown“-Anordnungen der Regierung im Frühjahr 2020 nicht mehr zu Schließungen von Hotels und Teehäusern kommen werde und es für Rückkehrer ohne Netzwerk zwar schwerer aber nicht unmöglich sei, ein Dach über dem Kopf zu finden. Etwa 65% der Einwohner Kabuls lebten in Mietobjekten, wobei selbst in informellen Siedlungen die Bewohner einen kleinen Betrag Miete für ihr Stück Land bezahlen müssten. Die Qualität einer Behausung sei nicht eine Frage des Netzwerks sondern eine Frage des Geldes. Die Frage, ob ein Rückkehrer Zugang zu einer Behausung hat, die Minimalstandards entspricht, sei deshalb eine Frage seiner wirtschaftlichen Lage. Weiter werde allerdings teilweise aktuell vermutet, dass es unmöglich sei, ohne ein Netzwerk eine Anstellung zu finden: bei der hohen Zahl an Arbeitssuchenden Afghanen würden verwandte Außenstehenden vorgezogen (Eva-Catharina Schwörer, Gutachten v. 30.11.2020: Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die in Lage in Afghanistan, S. 12, 16).
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4. Unter Berücksichtigung all dessen ist im Hinblick auf die individuellen Voraussetzungen und die konkrete Lebenssituation des Klägers davon auszugehen, dass für ihn in Afghanistan ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vorliegt, indem die humanitären Gründe gegen eine Ausweisung „zwingend“ sind. Das Gericht ist aufgrund einer Gesamtschau der Umstände und des in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnenen Gesamteindrucks davon überzeugt, dass dieser bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
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Angesichts der beschriebenen Auswirkungen der Corona-Pandemie und des durch die Vielzahl der aus Pakistan und dem Iran zurückkehrenden Flüchtlinge aktuell noch verschärften Verdrängungswettbewerbs auf dem afghanischen Arbeitsmarkt - dürfte der Kläger gegenwärtig nicht imstande sein, eine Arbeit zu finden und sich damit zumindest ein Existenzminimum zu sichern. Nach Auffassung des erkennenden Einzelrichters liegt auch kein hinreichend tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk vor, von welchem nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung zu erwarten ist (vgl. VGH BW, U.v. 17.12.2020, A 11 S 2042/20 - juris).
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Es handelt sich um einen Grenzfall, der einer sorgfältige Betrachtung aller maßgeblichen Umstände bedarf.
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Einerseits verfügt der Kläger im Heimatland über ein gewisses familiäres Netzwerk. Der Kläger hat jedenfalls noch zwei Brüder und eine Schwester in Afghanistan. Zudem ist der Kläger körperlich gesund und arbeitet in Deutschland als Barkeeper. In Afghanistan arbeitete der Kläger als Mechaniker und Taxifahrer.
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Demgegenüber hat der Kläger in Afghanistan keine Schule besucht und war nur gering alphabetisiert. Zudem sind der Vater und die Mutter des Klägers verstorben. Zu seinen Brüdern hat er kaum noch Kontakt. Diese haben jeweils eigene Familien mit einer Vielzahl von Kindern, die sie versorgen müssen. Seinen glaubhaften Angaben zufolge lebt die Schwester des Klägers davon, dass dieser hier in der Bundesrepublik Deutschland Geld verdient und nach Hause schickt. Der Kläger hat seitens der Familie oder anderer sozialer Netzwerke nicht mit nennenswerter Unterstützung zu rechnen, eher ist die Familie auf die finanzielle Unterstützung des Klägers angewiesen.
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Das Gericht geht unter Zugrundelegung der oben genannten Erkenntnismittel davon aus, dass der Kläger aktuell nicht in der Lage wäre, eine Existenzgrundlage zu erwirtschaften. Er verfügt ferner bei Gesamtbetrachtung des Einzelfalls und umfassender Würdigung der familiären Situation weder über ein tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk noch kann er nachhaltige Unterstützung durch Dritte erwarten oder verfügt über ausreichend Vermögen, sodass nach derzeitiger Erkenntnismittellage von einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen auszugehen ist.
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5. Ob daneben auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner abschließenden Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (grundlegend: BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140,319 Rn. 16 f.).
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Nach alledem war der Klage hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG stattzugeben. Dementsprechend waren auch die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben (Nrn. 5 und 6 des Bescheids; vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG).
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO bzw. - soweit die Klage zurückgenommen wurde - § 155 Abs. 2 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 - 10 B 60.08 - juris). Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung.