Titel:
Erfolglose Klage eines Nachbarn gegen einen Bauvorbescheid für Umbau zur Wohnnutzung im Kerngebiet bei Zielsetzung im Bebauungsplan, der Verödung der Innenstadt entgegenzuwirken
Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
BayBO Art. 68, Art. 71
BauNVO § 7
BauGB § 9 Abs. 3 S. 2
Leitsätze:
1. Der Kerngebietscharakter geht nicht dadurch verloren, dass im Kerngebiet nach Maßgabe von Festsetzungen des Bebauungsplans oder ausnahmsweise Wohnungen zulässig sein können. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Bestreben, einer Verödung der Innenstädte außerhalb der Geschäftszeiten entgegenzuwirken, stellt einen nachvollziehbaren und gewichtigen planerischen Belang dar. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vorbescheid, Gebietserhaltungsanspruch, zulässige Festsetzung „Wohnnutzung“, im Kerngebiet, Teilbarkeit, materiell-rechtlich teilbar, Betriebsinhaber und Betriebsleiter, Aufsichts- und Bereitschaftspersonen, Zweckbestimmung des Kerngebietes, Belebung der Altstadt auch außerhalb der Geschäftszeiten, Vermeidung von Verödung, planerischer Belang, kein Verstoß gegen Rücksichtnahmegebot
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 10.11.2021 – 9 ZB 21.2061
Fundstelle:
BeckRS 2021, 18288
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Die Klägerin wendet sich gegen einen der Beigeladenen erteilten Vorbescheid vom 3. Mai 2019.
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Mit bei der Beklagten am 16. Mai 2018 eingegangenem Antrag beantragte die Beigeladene die Erteilung eines Vorbescheides für „Umbau und Aufstockung eines Betriebsgebäudes der … AG“ auf dem Grundstück FlNr. …, Gemarkung … Die Klägerin ist Eigentümerin der Grundstücke FlNrn. … und …, Gemarkung … Vorhabensgrundstück und Klägergrundstücke liegen im Geltungsbereich des einfachen Bebauungsplanes Nr. …, der dort als Gebietscharakter Kerngebiet (MK) festsetzt. Nach § 2 Nr. 1.2.3 des Bebauungsplans sind in den Kerngebieten des Bebauungsplanes Wohnungen ab dem 2. Obergeschoss zulässig.
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Folgende Fragen zum Vorbescheid wurden gestellt:
„ 1. Ist das dargestellte Vorhaben planungsrechtlich zulässig?
Ein Großteil der Wohnungen sind als Maisonette über zwei Geschosse geplant und bieten sowohl einen Außenwohnbereich auf der Südseite, sowie Burgblick im Norden. Lediglich die baurechtlich notwendigen barrierefreien Wohneinheiten orientieren sich jeweils immer nur zu einer Seite.
2. Kann der notwendige Kinderspielplatz abgelöst werden?
Begründung: Das Grundstück bietet keinen Platz um weitere Stellplätze oder einen Kinderspielplatz zu errichten. Um eine Wohnnutzung im Gebäude realisieren zu können muss der notwendige Kindespielplatz abgelöst werden.
3. Ist die dargestellte Teilaufstockung planungsrechtlich zulässig?
Begründung: Unter Bezugnahme auf die direkte Umgebung soll die nördliche Traufe angehoben und auf das Niveau des östlich angrenzenden Nachbar gebracht werden.
4. Ist die damit verbundene Anhebung der nördlichen Traufe abstandsflächenrechtlich zulässig?
5. Sind die dargestellten Maßnahmen aus Sicht des Denkmalschutzes zulässig? Zur Beurteilung der Teilaufstockung wurden zwei Fassadenstudien erstellt.
6. Der mit der neuen Nutzung verbundene Stellplatzbedarf soll mit der bestehenden Nutzung gegengerechnet bzw. abgelöst werden. Welche Bestandsnutzungen sollen hier zum Ansatz gebracht werden?
Begründung: Durch die Vorgeschichte des Gebäudes mit der deutschen Bundespost als genehmigende Behörde ist die baurechtlich genehmigte Nutzung des Gebäudes für uns nicht abschließend zu klären.“
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Mit Bescheid vom 3. Mai 2019 wurde für das Vorhaben „Umbau und Aufstockung des Betriebsgebäudes mit teilweiser Nutzungsänderung zu Wohnungen“ ein Vorbescheid mit dem Inhalt erteilt, dass das Vorhaben im Rahmen der gemäß Art. 71 BayBO gestellten Fragen nach Maßgabe der Bauvorlagen zulässig sei, wenn in dem zu stellenden Bauantrag die angegebenen Punkte beachtet bzw. erledigt würden. Alle übrigen einschlägigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften seien nicht geprüft worden (Ziffer 1 des Bescheides). In Ziffer 2 des Bescheides wurde eine Abweichung von Art. 6 Abs. 2 BayBO wegen Überschreitung der Mitte der öffentlichen Verkehrsfläche durch die erforderlichen Abstandsflächen der Aufstockung mit den Gauben nach Norden zugelassen. Zur Frage 1 des Vorbescheides wurde ausgeführt, dass das Vorhaben im Geltungsbereich des einfachen Bebauungsplanes Nr. … liege. Dieser setze im Bereich der Maßnahme den Gebietscharakter als Kerngebiet (MK) fest. Nach § 2 Nr. 1.2.3 der Satzung seien in den Kerngebieten des Bauungsplanes Wohnungen ab dem 2. Obergeschoss zulässig. Die ab dem 2. Obergeschoss geplante Wohnnutzung sei somit planungsrechtlich zulässig.
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Bezüglich des Nachweises des baurechtlich erforderlichen Kinderspielplatzes (Frage 2 zum Vorbescheid) könne eine Abweichung in Aussicht gestellt werden. Voraussetzung hierfür sei, dass auf dem Baugrundstück ohne unzumutbaren Aufwand ein Kinderspielplatz nicht hergestellt werden könne.
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Die Teilaufstockung (Frage 3 zum Vorbescheid) sei planungsrechtlich zulässig und füge sich wie dargestellt in die Umgebung ein.
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Für die aufgrund der Anhebung der Traufe und der neuen Gauben nicht eingehaltenen Abstandsflächen nach Norden wurde eine Abweichung erteilt (Frage 4 zum Vorbescheid). Die Anhebung der nördlichen Traufe sei somit, wie in den Deckblättern, abstandsflächenrechtlich zulässig. Der Aufstockung könne denkmalfachlich unter der Voraussetzung zugestimmt werden, dass das neue Geschoss eine Einheit mit der Fassade bilde und die Dachaufbauten sich ins Altstadtbild einfügten und sich unterordneten (Frage 5 zum Vorbescheid).
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Für das als „Postdienstgebäude“ errichtete Anwesen sei zur Ermittlung der fiktiv ansetzbaren Kfz-Stellplätze die Nummer 2 der Richtzahlenliste zu verwenden.
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Mit Schriftsatz vom 6. Juni 2019 erhob die Klägerin Klage. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass die Klägerin durch die Vorbescheidsregelung in ihren Rechten, namentlich in ihrem Anspruch auf Erhalt des Plangebietes, verletzt sei. Der Vorbescheidsfrage liege ein Bauvorhaben zugrunde, das in dem Vorhabengebäude im 2. Oberschoss, 3. Obergeschoss und dem Dachgeschoss Wohnnutzung mit insgesamt 17 Wohneinheiten vorsehe, welche durch die angefochtene Vorbescheidsregelung für planungsrechtlich zulässig erklärt sei. Die Zulassung von Wohnnutzung in diesem Umfang vertrage sich nicht mit der Eigenart des Baugebietes. In einem Gebiet MK sei Wohnnutzung zwar zulässig, müsse sich aber im Verhältnis zur Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der zentralen Einrichtungen der Wirtschaft und Verwaltung unterordnen. Mit der Realisierung von Wohnnutzung im streitgegenständlichen Umfang drohe ein Umkippen des Gebietscharakters.
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Die Klägerin beantragt,
den Vorbescheid vom 3. Mai 2019 hinsichtlich der Feststellung zu der Vorbescheidsfrage „1. Ist das dargestellte Vorhaben (hinsichtlich der Nutzung) planungsrechtlich zulässig?“ aufzuheben, hilfsweise den gesamten Vorbescheid aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass für den Bereich der einfache Bebauungsplan Nr. … gelte. Diese setze sowohl für das Baugrundstück wie auch das Grundstück der Klägerin ein Kerngebiet gemäß § 7 BauNVO fest. Das Grundstück der Klägerin und der Beigeladenen lägen im selben Baugebiet, das im Westen durch die … begrenzt werde. Nach § 2 Nr. 1.2.3 der Bauungsplansatzung seien in allen Kerngebieten Wohnungen nach § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO oberhalb des 1. Obergeschosses (ab 2. Obergeschoss) zulässig. Es gelte die BauNVO von 1990. Nach § 7 Abs. 2 Nr. 7 dieser BauNVO seien sonstige Wohnungen nach Maßgabe von Festsetzungen des Bauungsplanes zulässig.
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Die Regelung des § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO sei kein Unterfall von § 1 Abs. 7 BauNVO sondern eine originäre Zulässigkeitsvorschrift und lex specialis zu § 1 Abs. 7 BauNVO. Einer Rechtfertigung der Festsetzung des Bauungsplanes Nr. … durch „besondere städtebauliche Gründe“ für die Festsetzung der Zulässigkeit einer Wohnungsnutzung bedürfe es deshalb nicht. Weiterhin sei festzuhalten, dass § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO 1990 für den Planvollzug (Genehmigungsverfahren) kein ungeschriebenes Merkmal der notwendigen Unterordnung der Wohnnutzung gegenüber Handelsbetrieben sowie der zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur enthalte. Der Verordnungsgeber erachte solche Nutzungen, wenn sie im Bebauungsplan festgesetzt seien, ohne weitere Einschränkungen für zulässig. Nach § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO könnten Wohnungen nach Maßgaben des Bebauungsplans als regelhaft, sprich allgemein zulässig erklärt werden. § 7 BauNVO verlasse deshalb die Systematik der Baugebietsvorschriften; dies deshalb, weil die Zweckbestimmung des § 7 Abs. 1 BauNVO durch den Bebauungsplan selbst ergänzt werde. Somit müsse die vom Satzungsgeber für zulässig erklärte Wohnnutzung in die allgemeine Zweckbestimmung des § 7 Abs. 1 BauNVO „hineingelesen“ und um die Wohnnutzung gemäß Bebauungsplan ergänzt werden.
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Der Gebietserhaltungsanspruch entstehe dem Grunde nach durch die Zulassung eines mit dem festgesetzten Baugebietstyp in Widerspruch stehenden Vorhabens, weil dadurch eine Störung des nachbarschaftlichen Austauschverhältnisses eintrete und eine Verfremdung des Gebietscharakters einsetze. Eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs sei demgegenüber ausgeschlossen, wenn die Nutzung dem Gebietscharakter entspreche und sie im konkreten Fall weder eine die Hauptnutzungsart verdrängende Bedeutung erlange noch das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen allgemein zulässiger und nur ausnahmsweise zulässiger Nutzung umkehre. Vorliegend sei in dem Kerngebiet Wohnungen ab dem 2. Obergeschoss allgemein zulässig. Wohnnutzungen gehörten zum Gebietscharakter. Eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs scheide somit aus.
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Mit Schriftsatz vom 26. Juli 2019 teilte der Klägerbevollmächtigte mit, dass nicht vertreten werde, dass Wohnnutzung in dem Gebiet dieses Bebauungsplans generell unzulässig sei. Vielmehr gehe es darum, dass das Gebiet - unabhängig von etwaigen Festsetzungen im Bebauungsplan nach § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO 1990 - der Zweckbestimmung unterliege, vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur zu dienen. Die Wohnnutzung sei in der Zweckbeschreibung des § 7 Abs. 1 BauNVO 1990 gerade nicht erwähnt und auch nicht - sowie die Klageerwiderung meine - dort hineinzulesen. Wie der Umkehrschluss aus § 7 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 BauNVO 1990 unschwer ergebe, bedeute eine Festsetzung nach § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO eben nur, dass eine gewöhnliche Wohnnutzung, hier oberhalb des zweiten Obergeschosses, als solche (allgemein) zulässig sei, soweit die hinzukommende Wohnnutzung den Gebietscharakter nicht verändere. Anders sei dies bei Festsetzungen nach § 7 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 BauNVO 1990. Dann wäre über die Zulässigkeit nach der Nutzungsart in örtlicher Hinsicht abschließend im Rahmen der konkreten Bauleitplanung entschieden. Mit der Zulassung von Wohnnutzung im Umfang des streitgegenständlichen Vorbescheides kippe die nach der Baunutzungsverordnung vorgegebenen Nutzungszusammensetzung in diesem Gebiet MK. Die Gebietsfestsetzung MK würde funktionslos und ein faktisches Gebiet MI oder ein gemischtes Gebiet erzeugt.
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Mit Schriftsatz vom 5. August 2019 teilte der Beigeladenenvertreter mit, dass die mit dem Vorbescheid geplante Nutzungsart nach dem geltenden Bebauungsplan bauplanungsrechtlich zulässig sei. Für das Grundstück FlNr. …, Gemarkung …, sei ein Kerngebiet MK festgesetzt. Nach § 2 Ziffer 1.2.3 der Bebauungsplansatzung seien Wohnungen in den Kerngebieten ab dem 2. Obergeschoss zulässig. Mit dem Vorbescheid und den damit eingereichten Bauvorlagen seien die Nutzungen EG: Postfiliale (Bestand), Zwischengeschoss: Zwei neue gewerbliche Einheiten (Büro), 1. Obergeschoss: Technikraum (Bestand), 2. und 3. Obergeschoss sowie Dachgeschoss: Wohnungen abgefragt worden. Unter Berücksichtigung des Zwischengeschosses als Vollgeschoss im Sinne von Art. 83 Abs. 6 BayBO i.V.m. Art. 2 Abs. 5 der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung der BayBO würden damit Wohnnutzungen erst ab dem 3. Obergeschoss geplant. Die gewerblichen Nutzungen im Erdgeschoss, Zwischengeschoss und 1. Obergeschoss seien nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 und 3 der auf dem Bebauungsplan anwendbaren Baunutzungsverordnung von 1990 im Kerngebiet allgemein zulässig. Die im 2. und 3. Obergeschoss (unter Berücksichtigung des Zwischengeschosses im 3. und 4. Obergeschoss) und Dachgeschoss geplanten Wohnnutzung seien nach der gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO erfolgten Festsetzung in § 2 Ziffer 1.2.3 der Bebauungsplansatzung Nr. … vom 30. Januar 1991 allgemein zulässig. Der Gebietserhaltungsanspruch könne nur solchen Nutzungen entgegengehalten werden, die nicht unter die in dem Baugebiet zulässigen Nutzungen fielen, und damit das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und die schleichende Umwandlung des Baugebiets befürchten ließen.
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Durch die Festsetzung der allgemeinen Zulässigkeit von Wohnungen in bestimmten Geschossen im Bebauungsplan nach § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO werde der Gebietscharakter eines Kerngebiets erhalten und im Hinblick auf die allgemeine Zulässigkeit des Wohnens in bestimmten Geschossen ergänzt. Die Wohnnutzung sei damit für den Gebietscharakter ebenso prägend wie die anderen im Kerngebiet zulässigen Nutzungen. Die mit dem Vorbescheid abgefragte Nutzungsmischung aus gewerblichen Nutzungen in den unteren Geschossen und Wohnnutzung ab dem 2. Obergeschoss entspreche damit dem Gebietscharakter des festgesetzten Baugebiets. Der Gebietserhaltungsanspruch werde damit gerade nicht beeinträchtigt. Hinzu komme, dass mit den gewerblichen Nutzungen im Erdgeschoss und Zwischengeschoss sowie dem ebenfalls gewerblichen Zwecken dienenden Technikgeschoss im 1. Obergeschoss drei Geschosse gewerblich genutzt seien, so dass gerade die im Kerngebiet typische Nutzungsmischung und das Ziel der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der Zentralen Einrichtungen der Wirtschaft gewahrt werde.
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Die Festsetzung zur Zulässigkeit von Wohnungen ab dem 2. Obergeschoss sei rechtmäßig und wirksam. Die nach § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO zulässige „vertikale“ Gliederung des Kerngebiets hinsichtlich der „sonstigen“ Wohnnutzung stelle eine gegenüber § 1 Abs. 7 BauGB eigenständige Grundlage für die Festsetzung dar, für die auch nicht die besonderen Anforderungen nach § 1 Abs. 7 BauGB gelten. Insbesondere bedürfe es keiner „besonderen städtebaulichen Gründe“ zur Rechtfertigung entsprechender Festsetzungen im Bebauungsplan. Selbst wenn städtebauliche Gründe für die Festsetzungen nach § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO erforderlich wären, wären diese ausweislich der Begründung des Bebauungsplans jedenfalls gegeben. Als solche städtebaulichen Gründe seien vor allem die Zielsetzungen einer urbanen städtebaulichen Entwicklung zu berücksichtigen. Nach denen Wohnungen in den Stadtzentren zu einer Belebung außerhalb der Geschäftszeiten führten und einer „Verödung“ der Innenstädte außerhalb der Geschäftszeiten entgegenwirkten.
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Gerade diese städtebaulichen Gründe seien ausweislich der Begründung des Bebauungsplans auch verfolgt worden. Auf Seite 2 der Begründung zum Bebauungsplan Nr. … werde zum Zweck der Festsetzung nach § 1 Ziffer 1.2.3 der Bebauungsplansatzung ausgeführt:
„Mit der textlichen Regelung gemäß § 2 Ziffer 1.2.3 der Bebauungsplan-Satzung, wonach Wohnungen ab dem 2. Obergeschoss zulässig sind, wird die insbesondere in den Kerngebieten beiderseits der … und am … vorhandenen Wohnnutzung in den Obergeschossen planungsrechtlich gesichert, da diese zu einer allgemeinen Belebung der Altstadt auch außerhalb der Geschäftszeiten beiträgt.“
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Die Festsetzung verfolge damit die Belebung der Altstadt außerhalb der Geschäftszeiten und die Legalisierung der bestehenden Wohnnutzung als legitime städtebauliche Ziele. Dies lasse eine Festsetzung der allgemeinen Zulässigkeit von Wohnungen ab einem bestimmten Geschoss zu. Durch die Beschränkung der Wohnnutzung auf die Geschosse ab dem zweiten Obergeschoss werde der Gebietscharakter im Übrigen gewahrt.
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Mit Schriftsatz vom 30. August 2019 teilte der Beigeladenenvertreter mit, dass der Gebietserhaltungsanspruch durch das streitgegenständliche Vorhaben jedenfalls nicht verletzt sei. Entgegen der Ansicht der Klägerin werde der Gebietscharakter durch die Wohnnutzung ab dem 2. Obergeschoss bereits deshalb nicht beeinträchtigt, weil die Wohnnutzung ab dem 2. Obergeschoss in den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans als allgemein zulässig festgesetzt worden sei. Die Festsetzung nach § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO nehme an der Bestimmung des Gebietscharakters teil, so dass eine Wohnnutzung ab dem 2. Obergeschoss allgemein zulässig sei und damit der Gebietscharakter durch die entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans beantragte Wohnnutzung nicht beeinträchtigt werde.
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Das streitgegenständliche Grundstück und dessen nähere Umgebung wurden am 19. Mai 2021 in Augenschein genommen und im Anschluss daran mündlich verhandelt.
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Im Übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte sowie die Behördenakte, hinsichtlich des Verlaufs der Augenscheinseinnahme und der mündlichen Verhandlung wird auf die Niederschrift verwiesen.
Entscheidungsgründe
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1. Streitgegenstand ist der von der Klägerin beantragte Vorbescheid, soweit dieser die beantragte Nutzung als planungsrechtlich zulässig einstuft.
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Das Gericht geht davon aus, dass der Vorbescheid bezüglich der Frage der planungsrechtlichen Zulässigkeit und der übrigen Fragen materiell-rechtlich teilbar ist. Sollte man diese Teilbarkeit verneinen, käme der Hilfsantrag zum Tragen, wonach der Vorbescheid in Gänze angegriffen wird. Die nachstehenden Ausführungen gelten für diese Variante gleichermaßen.
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2. Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Vorbescheid der Beklagten vom 3. Mai 2019 ist, soweit er mit der Klage angegriffen wurde, rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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2.1 Gemäß Art. 71 BayBO hat der Bauherr bereits vor Einreichung des Bauantrags die Möglichkeit, zu einzelnen Fragen des Bauvorhabens einen Vorbescheid zu beantragen. Dieser darf nach Art. 71 Satz 4 in Verbindung mit Art. 68 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. BayBO nur versagt werden, wenn das Vorhaben gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Der Nachbar hingegen kann den Vorbescheid mit dem Ziel der Aufhebung nur dann erfolgreich angreifen, wenn er rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit (auch) auf der Verletzung von Normen beruht, die nicht nur im Interesse der Allgemeinheit erlassen sind, sondern gerade dem Schutz eines von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreises, namentlich des betroffenen Nachbarn zu dienen bestimmt sind (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das ist der Fall, wenn er in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise in einem schutzwürdigen Recht betroffen ist (st. Rspr. zur Baugenehmigung, vgl. BVerwG, U.v. 26.9.1991 - 4 C 5.87; BVerwGE 89, 69; BayVGH, B.v. 24.3.2009 - 14 CS 08.3017, m.w.N. - juris). Hinzu kommt, dass ein Verstoß nur gegen solche Vorschriften in Betracht kommt, zu denen der Vorbescheid rechtliche Aussagen bzw. Feststellungen trifft, weil nur insoweit eine Bindungswirkung für das spätere Baugenehmigungsverfahren eintritt (vgl. Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 71 Rn. 17).
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2.2 Ein entsprechender Verstoß ist im vorliegenden Fall nicht gegeben; insbesondere kann sich die Klägerin nicht auf eine Verletzung eines ihr zustehenden Gebietserhaltungsanspruchs oder des Rücksichtnahmegebotes berufen.
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2.2.1 Zwar befinden sich die Grundstücke der Klägerin und der Beigeladenen in einem einheitlichen Plangebiet, so dass grundsätzlich ein Gebietserhaltungsanspruch in Betracht kommt. Das streitgegenständliche Vorhaben entspricht aber gerade den Festsetzungen des Bebauungsplanes, so dass der Gebietscharakter gewahrt wird.
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2.2.1.1 Der Bebauungsplan Nr. … der Beklagten, setzt für das Vorhabensgrundstück und die Grundstücke der Klägerin als Art der Nutzung Kerngebiet (MK) fest, wobei nach § 2 Nr. 1.2.3 des Bebauungsplans im Kerngebiet oberhalb des 1. Obergeschosses Wohnungen zulässig sind.
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Die allgemeine Zweckbestimmung von Kerngebieten im Sinne des § 7 BauNVO besteht darin, als Gebiete für zentrale Funktionen in der Stadt mit vielfältigen Nutzungen und einem urbanen Angebot an Gütern und Dienstleistungen für Besucher der Stadt und für die Wohnbevölkerung eines größeren Einzugsbereichs zur Verfügung zu stehen. Sie dienen dabei vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur und darüber hinaus auch in beschränktem Umfang dem Wohnen. Allgemein zulässig sind Geschäfts-, Büro- und Verwaltungsgebäude, Einzelhandelsbetriebe, Schank- und Speisewirtschaften, Betriebe des Beherbergungsgewerbes und Vergnügungsstätten, sonstige nicht wesentlich störende Gewerbebetriebe, Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale, gesundheitliche und sportliche Zwecke, Tankstellen im Zusammenhang mit Parkhäusern und Garagen, Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie Betriebsinhaber und Betriebsleiter und sonstige Wohnungen nach Maßgabe von Festsetzungen eines Bebauungsplans (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 5.7.2017 - 2 B 17.824; VG Ansbach U.v. 5.12.2019 - AN 3 K 18.02386 - juris). Gebiete, in denen allgemein und überall gewohnt werden kann, sind keine Kerngebiete (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 17.7.2013 - 14 ZB 12.1153 - juris).
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2.2.1.2 Es handelt sich bei der Festsetzung § 2 Nr. 1.2.2 des Bebauungsplans nicht um eine Festsetzung nach § 7 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 BauNVO, wonach ab einer bestimmten Geschosszahl nur Wohnungen zulässig wären oder im Sinne des § 7 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BauNVO, wonach Mindestanteile an Wohnnutzungen vorgegeben würden. Der Bebauungsplan eröffnet durch seine Festsetzung lediglich die Möglichkeit, ab dem 2. Obergeschoss auch Wohnnutzungen zuzulassen.
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Es liegt auch weiterhin keine Festsetzung im Sinne des § 1 Abs. 7 BauNVO vor, da für den Bereich ab dem 2. Obergeschoss keine Nutzungen als ausschließlich zulässig oder ein Teil der allgemein zulässigen Nutzungen als unzulässig eingeordnet wird und auch nicht die Ausnahmetatbestände des § 7 BauNVO für nicht zulässig oder für allgemein zulässig erklärt wurden.
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2.2.1.3 Es handelt sich vielmehr um eine Festsetzung gem. § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO i.V.m. § 9 Abs. 3 Satz 2 BauGB, die in einem bestimmten Bereich des Kerngebietes Wohnungen für zulässig erachtet.
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Wohnungen, die keine Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie Betriebsinhaber und Betriebsleiter gem. § 7 Abs. 2 Nr. 6 BauNVO sind, sind im Kerngebiet nach Maßgabe des § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO zulässig, sofern sich im Bebauungsplan eine entsprechende Festsetzung findet. Liegt diese Voraussetzung vor, sind die „sonstigen Wohnungen“ allgemein im Kerngebiet zulässig.
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Jedoch müssen die Festsetzungen des Bebauungsplanes die Zweckbestimmung des Kerngebietes wahren.
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Das Bundesverwaltungsgericht führt mit Beschluss vom 6. Dezember 2000 (Az. 4 B 4/00) dazu aus:
„Dieser Kerngebietscharakter geht nicht dadurch verloren, dass im Kerngebiet nach Maßgabe von Festsetzungen des Bebauungsplans (§ 7 Abs. 2 Nr. 7, Abs. 4 BauNVO) oder ausnahmsweise (§ 7 Abs. 3 BauNVO) Wohnungen zulässig sein können. (…) Der Plangeber hat bei der Festsetzung von Wohnungen im Kerngebiet zu beachten, dass dieses in erster Linie und im Unterschied zu anderen Baugebieten der Baunutzungsverordnung den vorgenannten zentralen Funktionen und Einrichtungen zu dienen bestimmt ist. Führt das Nebeneinander von kerngebietstypischen Anlagen und Wohnungen im Einzelfall zu Nutzungskonflikten, beurteilt sich die Zulassung einer zur Genehmigung gestellten kerngebietstypischen Anlage nach § 15 Abs. 1 BauNVO.
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Aufgrund der Tatsache, dass vorliegend eine Wohnnutzung ab dem 2. Obergeschoss nur möglich, aber nicht zwingend ist und in den unterhalb des 2. Obergeschosses gelegenen Bereichen des Kerngebietes allenfalls als Wohnung nach § 7 Abs. 2 Nr. 6 BauNVO oder im Wege einer Ausnahme gem. § 7 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO zulässig wäre, ist nach Auffassung der Kammer der generelle Vorrang der kerngebietstypischen Nutzungen hinreichend sichergestellt (vgl. diesbezüglich auch VG Ansbach, U.v. 24.3.2010 - AN 3 K 09.00735 - juris Rn. 15; VG Gelsenkirchen, U.v. 20.1.2015 - 9 K 196/12 - juris Rn. 71; zur Unwirksamkeit einer Festsetzung von Wohnungen ab dem 1. Obergeschoss OVG NRW U.v. 18.12.2009 - 7 D 62/08.NE - juris). Zudem besteht die Möglichkeit gem. § 15 Abs. 1 BauNVO im Einzelfall entsprechende Maßnahmen zur Vermeidung von Nutzungskonflikten zu ergreifen.
39
Die erforderliche städtebauliche Rechtfertigung (vgl. hierzu Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand 2020, § 7 BauNVO Rn. 41) liegt in der Zielsetzung einer „allgemeinen Belebung der Altstadt auch außerhalb der Geschäftszeiten“ und ist Seite 2 der Begründung zum Bebauungsplan zu entnehmen. Das Bestreben, einer Verödung der Innenstädte außerhalb der Geschäftszeiten entgegenzuwirken, stellt einen nachvollziehbaren und gewichtigen planerischen Belang dar.
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Auch unter Zugrundelegung der beim Augenschein gewonnenen Erkenntnisse sind keine Anhaltspunkte vorgetragen oder sonstwie erkennbar, dass die Zulassung des streitgegenständlichen Vorhabens zu einem „Umkippen“ des Gebietscharakters führen würde. Dies ergibt sich insbesondere im Hinblick darauf, dass im maßgeblichen Geviert bislang, soweit ersichtlich, nur eine - nicht genehmigte - Wohnnutzung vorhanden ist.
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2.2.1.4 Somit liegt eine wirksame Bebauungsplanfestsetzung vor, die im Kerngebiet Wohnnutzung ab dem 2. Obergeschoss für zulässig erklärt.
42
Eben dieser Festsetzung entspricht das streitgegenständliche Vorhaben, das Handel im Erdgeschoss, Büro im Zwischengeschoss, das als Vollgeschoss anzusehen sein dürfte (siehe hierzu auch VG Ansbach, B.v. 16.7.2009 - AN 9 S 09.00821, AN 9 S 09.00895 - juris), Technik im 1. Obergeschoss, das somit als 2. Obergeschoss zu betrachten sein dürfte und Wohnnutzung in den daran anschließenden 2 Geschossen sowie im Dachgeschoss vorsieht, weshalb ein Anspruch auf Gebietserhaltung ausscheidet.
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2.2.2 Es ist auch kein Verstoß gegen das (drittschützende) Gebot der Rücksichtnahme erkennbar, da keine Anzeichen für eine Rücksichtslosigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens gegenüber der Klägerin gegeben sind.
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Bezüglich des klägerischen Hinweises auf die zu den klägerischen Anwesen gehörenden Lüftungsanlagen ist schon kein hinreichender Vortrag erfolgt, welche für die künftige Wohnnutzung nicht hinnehmbaren Lärmemissionen von diesen ausgehen sollten. So wurden keinerlei Angaben gemacht, welche Technik zum Einsatz kommt und welche Emissionsbelastung mit diesen Anlagen einhergeht. Die (materielle) Beweislast liegt diesbezüglich bei der Klägerin (vgl. insofern VG Ansbach, U.v. 20.11.2014 - 3 K 14.00461 - BeckRS 2014, 120155).
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Es gilt weiterhin zu berücksichtigen, dass sich im Innenhofbereich südlich und südwestlich des streitgegenständlichen Grundstückes sowohl auf dem Baugrundstück als auch auf den Nachbrgrundstücken - und damit in einem geringeren Abstand als die klägerische Anlage - eine Vielzahl von Lüftungsanlagen befindet, von denen sich ein Großteil näher am Vorhabensgrundstück der Beigeladenen befindet als die Anlagen der Klägerin. Beim Augenschein waren auch von diesen Lüftungsanlagen ausgehende Geräusche wahrnehmbar.
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Zudem finden sich nach den Erkenntnissen des Augenscheins und dem Beteiligtenvortrag in den oberen Geschossen des maßgeblichen Gevierts bereits gegenwärtig zahlreiche Büronutzungen. Auch hinsichtlich dieser Nutzungen sind die Immissionsrichtwerte der TA Lärm für Kerngebiete, die den Mischgebietswerten entsprechen, einzuhalten.
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Es ist auch zu berücksichtigen, dass ein Kerngebiet generell durch ein höheres Störpotential sowie ein geringeres Ruhebedürfnis geprägt ist, so dass die in diesem ansässige Wohnbevölkerung Störungen in einem gewissen Maß hinzunehmen hat (siehe hierzu BayVGH, U.v. 5.7.2017 - 2 B 17.824 - juris).
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In der Zusammenschau ist somit nicht ersichtlich und auch nicht dargelegt, dass die Klägerin durch das streitgegenständliche Vorhaben Einschränkungen zu befürchten hätte.
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Nach alledem war die Klage abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.