Inhalt

SG Regensburg, Urteil v. 24.03.2021 – S 10 BL 4/19
Titel:

Beweislast bei Fehlen blindheitsbedingter Mehraufwendung

Normenkette:
BayBlindG Art. 1, Art. 2
Leitsätze:
1. Eine Blindheit nach dem BayBlindG liegt auch bei einer entsprechend gleich schweren Störung des Sehvermögens bei zerebralen Schäden ohne spezifische Sehstörung vor, wenn es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung "Sehen" fehlt. (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Zweck des Blindengeldes wird verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst entstehen kann.  (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei dem Einwand der Zweckverfehlung handelt es sich um einen sog. Negativbeweis, weshalb der Beklagte für die negative Tatsache, das Fehlen blindheitsbedingter Mehraufwendungen, beweispflichtig ist. (Rn. 57) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
BayBlindG, Beweislastverteilung bezüglich blindheitsbedingter Mehraufwendungen, Einwand der Zweckverfehlung, Nachweis der Blindheit, Schwer mehrfach behindertes Kind, Beweislastumkehr, blindheitsbedingte Mehraufwendung, Zweckverfehlung, Blindheit
Fundstelle:
BeckRS 2021, 18142

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 21.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2019 zur Gewährung von Blindengeld für hochgradig Sehbehinderte ab Januar 2018 bis Mai 2018 und von (vollem) Blindengeld für die Zeit ab Juni 2018 bis April 2020 verurteilt.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Der Beklagte erstattet dem Kläger 2/3 der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

1
Streitgegenstand war die Gewährung von Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) ab Antragstellung vom 02.11.2017.
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Der am ... 2015 geborene Kläger entwickelte sich bis etwa Weihnachten 2016 leicht verzögert, aber im Wesentlichen unauffällig. Seine anfänglich aktive Mobilität ließ ab Anfang 2017 immer mehr nach. Im April 2017 wurde bei ihm eine Metachromatische Leukodystrophie (MLD) diagnostiziert. Infolge der Erkrankung entwickelte sich rasch eine schwere allgemeine statusmotorische Retardierung mit Schluckstörungen und Spastik, sodass von der Krankenkasse bereits ab 01.05.2017 der Pflegegrad 5 zuerkannt werden musste. Seit Juni 2017 ist der Kläger mit einer PEG-Sonde versorgt und mit seiner Familie an das Kinderpalliativteam Ostbayern angeschlossen.
3
Im Befundbericht der Augenklinik A-Stadt (Priv.-Doz. Dr. H. und Prof. Dr. R. unter Mitarbeit der Orthoptistin G.) wird als Visusäquivalent aufgrund des am 26.04.2017 erhobenen Befundes angegeben: rechts: sc. Karte C - D in 50 cm = 6/76 bis 6/60; links: keine Fixation auf Cardiff; beidseits offen: schon Karte F in 50 cm = 6/38 Cardiff. Der Kläger zeige einen deutlich unter der Altersnorm liegenden Visusäquivalent. Aufgrund der Sehbehinderung werde die „Frühförderung Sehen“ empfohlen.
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Ab Oktober 2017 wurde der Kläger im wöchentlichen Rhythmus von der Frühförderung Sehen des Blindeninstituts A-Stadt betreut.
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Die Frühförderung Sehen des Blindeninstituts A-Stadt arbeitet im Bereich Niederbayern und Oberpfalz als überregionale Frühfördererstelle. Dort werden sehbeeinträchtigte und blinde Kinder gefördert sowie entwicklungsretardierte bzw. mehrfachbehinderte Kinder, bei denen (auch) eine Seheinschränkung vorliegt.
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Im orthoptischen Beobachtungsprotokoll der Frühförderung Sehen des Blindeninstituts A-Stadt, welches aufgrund einer am 21.09.2017 durchgeführten Untersuchung von der Leiterin der Frühförderung Sehen des Blindeninstituts A-Stadt, B. und der Orthoptistin K. erstellt wurde, wird beim Kläger das Fehlen von spontaner Fixationsaufnahme und eine verlangsamte visuelle Aufmerksamkeitsreaktion beschrieben mit grober Hinwendung zu starken Sehreizen im rechten Gesichtsfeldsbereich. Zu Angeboten im linken Gesichtsfeld zeige der Kläger keine visuelle Reaktion. Ein kurzer, flüchtiger Blickkontakt im unmittelbaren Nahbereich sei herstellbar, mit zusätzlicher akustischer Unterstützung deutlich besser. Die maximal erreichten Visusäquivalente werden als „deutlich unter dem altersentsprechenden Normbereich“ und „im Bereich der gesetzlichen Blindheit“ beschrieben (Teller Acuity Cards sc: Prüfdistanz 38 cm, beidseits offen: 0,23cy/cm mit eindeutigem Blicksprung nur bei Angebot der Streifen im rechten Gesichtsfeldsbereich).
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Am 02.11.2017 stellten die Eltern des Klägers bei der Regionalstelle des Zentrums Bayern für Familie und Soziales in A-Stadt den vorliegend streitgegenständlichen Antrag auf Blindengeld.
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Der Beklagte beauftragte ein augenfachärztliches Gutachten an der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum A-Stadt, welches aufgrund gutachterlicher Untersuchung durch Prof. Dr. med. J. und Prof. Dr. med. O. vom 13.06.2018 am 19.08.2018 erstellt wurde. Darin wird der Kläger als nahezu bewegungslos im Sitz oder den Armen der Mutter liegend beschrieben, manchmal den Kopf bewegend. Die Augen würden meist gering umher bewegt, wobei nicht klar sei, ob dabei eine Fixation oder Objektverfolgung stattfinde. Die Gutachter beschreiben, dass bei der Untersuchung des Optokinetischen Nystagmus (OKN) mit einem Streifenmuster zu keiner Zeit eine Fixation beobachtet werden konnte. Das Abdecken eines Auges oder die Beleuchtung beider Augen sei abwehrlos toleriert worden. Bei der Untersuchung mit dem Blitz-VEP konnten die Gutachter über den visuellen Arealen am Hinterkopf reproduzierbare elektrische Potenziale ableiten, allerdings wird die Reizantwort als deutlich verzögert beschrieben. Im Ergebnis wird in dem Gutachten festgestellt, dass das Ausmaß der sicherlich vorliegenden beidseitigen Sehminderung bei fehlender Reaktion auf visuelle, auditorische und taktile Reize nicht weiter qualifiziert werden könne. Die fehlende Reaktion auf visuelle Reize müsse bei reproduzierbaren Blitz-VEP-Antworten als Folge der allgemeinen Funktionseinschränkung im Rahmen der Leukenzephalopathie gesehen werden. Blindheit oder hochgradige Sehbehinderung im Sinn des Bayerischen Blindengeldgesetzes liege nicht vor Aufgrund dieses Gutachtens lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 21.09.2018 der Anspruch des Klägers auf Blindengeld ab. In dem Bescheid heißt es, dass zwar eine beidseitige Sehminderung festzustellen sei, jedoch Blindheit als anspruchsbegründende Tatsache im Sinn des Bayerischen Blindengeldgesetzes (BayBlindG) nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden könne. Das Ausmaß der Sehminderung könne bei einerseits reproduzierbaren Blitz-VEP-Antworten und andererseits fehlender Reaktion auf visuelle, auditorische und taktile Reize nicht weiter quantifiziert werden. Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast sei der Antrag auf Gewährung von Blindengeld daher leider abzulehnen.
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Die Mutter des Klägers erb dagegen Widerspruch mit ausführlichem Schreiben vom 17.10.2018. Sie verwies auf das orthoptische Beobachtungsprotokoll der Frühförderung Sehen des Blindeninstituts A-Stadt vom 21.09.2017. Auch in einer aktuellen, erneuten orthoptischen Überprüfung am Blindeninstitut A-Stadt vom 16.10.2018 sei die Sehleistung des Klägers weiterhin als im Bereich der gesetzlichen Blindheit liegend eingestuft worden. Es sei für die Eltern in keiner Weise nachvollziehbar, wie der Gutachter Prof. Dr. J. zu der Aussage komme, dass bei dem Kläger keine Blindheit im Sinne des Gesetzes vorliege. Bei der Untersuchung des Optokinetischen Nystagmus (OKN) habe zu keiner Zeit eine Fixation beobachtet werden können. Der Kläger habe die Beleuchtung beider Augen abwehrlos toleriert. Bei der Ableitung des VEP seien die Reizantworten deutlich verzögert erfolgt. Gesetzliche Blindheit erfordere nicht, dass bei einer VEP-Ableitung gar keine Potenziale sichtbar werden. Der Gutachter Prof. Dr. J. beschreibe das Fehlen der Reaktionen auf visuelle Reize. Dadurch sei der zweifelsfreie Nachweis für das Vorliegen von Blindheit erbracht. Laut Urteil des Bundessozialgerichts vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/14 R) könne unabhängig von der Ursache und einer Beurteilung einzelner Sinnesmodalitäten auch mehrfach behinderten Menschen Blindengeld zustehen. Dem Widerspruchsschreiben lag in der Anlage u.a. auch ein ausführlicher, kinderpädiatrischer Arztbrief des A-Stadter Kinderzentrums vom 17.08.2017 bei, worin wegen der zunehmenden Seheinschränkung des Klägers Unterstützung beim Finden von Kommunikationswegen und bei der Kontaktaufnahme empfohlen wird.
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In einer durch die leitende Ärztin des Zentrums Bayern für Familie und Soziales, Dr. L. erstellten, versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 27.12.2018 wird unter Berücksichtigung des zwischenzeitlich ergangenen BSG-Urteils vom 14.06.2018 (B 9 BL 1/17 R) in Abkehr von dem zuvor im Verwaltungsverfahren eingenommenen Standpunkt nunmehr unter Bezugnahme auf das orthoptische Beobachtungsprotokoll vom 21.09.2017 „Blindheit“ des Klägers ab September 2017 angenommen. Allerdings führte Dr. L. aus, dass sie aus den Unterlagen spezielle blindheitsbedingte Mehraufwendungen nicht entnehmen könne und diese aufgrund des Krankheitsbildes und des gezeigten, raschen Verlaufes nicht zu erwarten seien.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 21.02.2019 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 17.10.2018 zurück. Blindengeld für Blinde stehe dem Kläger nicht zu. Die Zielsetzung des BayBlindG, mit dem Blindengeld Mehraufwendungen wegen Blindheit auszugleichen, könne nicht erreicht werden. Der Kläger sei nach den vorliegenden Unterlagen nicht in der Lage, zu kommunizieren. Er sei schwerstpflegebedürftig und in allen Verrichtungen komplett von fremder Hilfe abhängig. Bei seinem Krankheitsbild sei es nicht möglich, den Mangel an Sehvermögen durch bestimmte Maßnahmen bzw. Assistenzleistungen (wie zum Beispiel Vorlesen, Verfassen von Post, Hilfsmittel wie Lesegeräte, spezielle EDV, Blindenlangstock, Blindenführhund etc.) auszugleichen oder zu mildern.
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Hiergegen erfolgte am 22.03.2019 die Erhebung der vorliegenden Klage zum Sozialgericht. In der Klagebegründung vom 22.05.2019 wurde der Annahme, der Kläger könne nicht kommunizieren, widersprochen. Er sei zwar in seinen Interaktionsmöglichkeiten und in der Eigenaktivität hochgradig eingeschränkt, jedoch nehme er Umgebungsreize durchaus wahr und kommuniziere mit seiner Umwelt in eingeschränkter Form. Er könne Personen unterscheiden und zeige dementsprechend unterschiedliche Reaktionen, zum Beispiel drehe er den Kopf, wenn er die Stimme des Vaters höre. Der Kläger könne seinen Unmut durch Mimikveränderung oder Veränderung im Muskeltonus und der Atmung äußern. Er lächle bei bestimmten akustischen Signalen, zum Beispiel, wenn er die Stimme des Vaters höre oder schließe seine Augen bei Ablehnung. Beim Kläger liege ein blindheitsbedingter Mehraufwand vor, der mit Assistenzleistungen, blindenspezifisch gestalteten Räumen und Spielmaterialien (zum Beispiel Klingelbälle, Glöckchen, olfaktorische bzw. gustatorische Angebote sowie propriozeptive Angebote wie Vibrationsmatte etc.) und einem geeigneten Lichtkonzept durchaus in einem bestimmten Ausmaß ausgeglichen werden könne. Die Lebensqualität des Klägers und seine Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichen Leben könne sinnvoll gefördert werden.
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Der Klageschrift lag auch eine von der Leiterin der Frühförderung Sehen B. und der Dipl.Psych. C. verfasste Stellungnahme der Frühförderung Sehen des Blindeninstituts A-Stadt vom 10.05.2019 bei, worin es heißt, dass bei dem Kläger nach dortiger fachlicher Expertise trotz seiner hochgradigen Einschränkung der Eigenaktivität und Interaktionsmöglichkeiten eine materielle und personelle Auseinandersetzung mit der Umwelt bestehe, die besondere Unterstützungsmaßnahmen erforderlich mache. Hierzu sei ein deutlicher Mehraufwand zu leisten. Der Kläger könne Personen unterscheiden und zeige dementsprechend unterschiedliche Reaktionen. So äußere er beispielsweise seinen Unmut durch Mimikveränderungen oder Veränderungen im Muskeltonus und der Atmung. Er lächle bei bestimmten akustischen Signalen oder schließe seine Augen bei Ablehnung. Für seine optimale Auseinandersetzung mit der Umgebung sei blindenspezifisches Spielmaterial erforderlich: z.B. akustische Materialien (Hörbücher, Klingelbälle, Glöckchen etc.), olfaktorische bzw. gustatorische und propriozeptive Angebote. Aufgrund der Blindheit des Klägers sei aus dortiger Sicht ein deutlicher Mehraufwand gegeben, um ihn mit seiner Umgebung vertraut zu machen, Kontakt zur Umwelt herzustellen sowie am Familien- und kulturellen Leben teilnehmen zu lassen.
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Der Beklagte wandte mit Schriftsatz vom 02.07.2019 ein, dass die in der Klageschrift beschriebenen Gegebenheiten konkludent einen besseren Zustand des Klägers umschreiben würden, als dies anlässlich der Begutachtungsuntersuchung am Universitätsklinikum A-Stadt vom 13.06.2018 beschrieben wurde. Daher halte man eine neurologische Begutachtung zum Gesundheitszustand des Klägers und zur Frage der blindheitsbedingten Mehraufwendungen für notwendig.
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In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht vom 27.09.2019 regte der Klägerbevollmächtigte eine psychologische Begutachtung, beispielsweise durch die am Blindeninstitut G-Stadt tätige Diplom-Psychologin G. oder ihre am Blindeninstitut A-Stadt tätige Kollegin, Diplom-Psychologin S. an. Die Mutter des Klägers teilte auf Fragen des Gerichtes mit, dass der Kläger erkennbar reagiere auf die Kontaktaufnahme der nahestehenden Personen, besonders auf die Eltern. Er kenne seine Mutter und lache, wenn sein Vater ihn küsse. Die Mutter des Klägers zeigte dem Gericht und dem Klägerbevollmächtigten auf ihrem Handy ein im Blindeninstitut A-Stadt aufgenommenes Video, das den Kläger zeigt, wie er mit Lachen auf „seine Glocke“ und die Ansprache der ihm besonders vertrauten Erzieherin reagiert.
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Ab April 2019 besuchte der Kläger in Begleitung einer externen Pflegekraft die Schulvorbereitende Einrichtung (SVE) des Blindeninstituts A-Stadt. Im von HFL E. erstellten Entwicklungsbericht vom 26.07.2019 wird hinsichtlich der visuellen Wahrnehmung des Klägers beschrieben, dass er keine spontane oder gezielte Fixation zeige. Bei Angeboten eines stark kontrastreichen Sehreizes, wie Schwarz-Weiß-Karten oder bei Lichtangeboten (zum Beispiel Lichtkoffer) sei eine Aufmerksamkeitsreaktion mit grober Hinwendung bemerkbar. Es sei nicht auszuschließen, dass die Hinwendung durch akustische Reize oder durch die Bewegung ausgelöst werde. Schnelle Lichtwechsel, zum Beispiel beim Raumwechsel, schienen ihn nicht zu irritieren. Während der Brotzeit bekomme der Kläger von seiner externen Pflegekraft über Saugschwämmchen Geschmacksproben angeboten. Hinsichtlich seines sozial-emotionalen Verhaltens heißt es in dem Entwicklungsbericht, dass sich der Kläger auf die Abläufe der SVE und die damit verbundenen Geräusche einlassen könne und meist entspannt wirke. Es scheine sogar, als würde er eine gewisse Erwartungshaltung einnehmen. Wenn er zum Beispiel beim Morgenkreis nach verbaler Ankündigung mit Hilfestellung die Glocke läute, husche fast immer ein Lächeln über sein Gesicht. Auch die Mutter habe von vermehrtem Lächeln berichtet, sogar von einer positiven emotionalen Veränderung, seit er die SVE besuche. Hinsichtlich der Interaktion / Kommunikation des Klägers wird berichtet, dass er die Stimmung in der Gruppe wahrnehme. Er reagiere, wenn auch selten, mit einem Lächeln oder aber einem spastischen Krampfen. Dabei spanne sich sein ganzer Körper an und sein Kopf und der Oberkörper bäumten sich auf. Er müsse dann wieder in eine entspannte Liegeposition zurückgeführt werden. Hinsichtlich des Spielverhaltens des Klägers berichtet dieser Entwicklungsbericht vom Juli 2019 von Reaktionen des Klägers auf Angebote mit Lichteffekten im abgedunkelten Zimmer und auf die ihm inzwischen vertrauten Abläufe des Vormittages, vor allem im Morgenkreis. Sehr entspannt wirke er beim Tönen oder im Licht-aktiv-Raum auf dem Wasserbett. Er möge es auch, wenn er im Freien auf der „Sonneninsel“ liege, ihn ein leichter Wind umspiele und er den Tönen des Windspieles lauschen könne. Musik in allen Variationen, ob von der CD, vom Glockenspiel, der Klangschale oder der Trommel, möge er. Als individuelle Förderziele werden in dem Entwicklungsbericht u.a. eine möglichst lange Erhaltung des Sehrestes durch kontinuierliche, adäquate Förderangebote sowie eine entsprechende, sehbehindertengerechte Gestaltung seines Umfeldes genannt, außerdem der Aufbau eines Gefühls von Sicherheit und Geborgenheit in einem Umfeld außerhalb der Familie, unterstützt durch einen klar strukturierten Tagesablauf und mit einem größtmöglichen Maß an Individualförderung.
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In dem am Blindeninstitut A-Stadt im Zeitraum von Oktober 2019 bis Dezember 2019 erstellten orthoptischen Beobachtungsprotokoll wird beschrieben, dass der Kläger weder eine Fixation noch einen Blickkontakt aufnehme und nur flüchtige, nicht reproduzierbare visuelle Aufmerksamkeit zu den im dunklen Raum zusätzlich beleuchteten, kontrastreichen Abbildungen zeige. Im Testverfahren zur Bestimmung des Visusäquivalents habe der Kläger keine eindeutige visuelle Reaktion gezeigt. Abhängig von seinem Allgemeinzustand sei zeitweise eine visuelle Aufmerksamkeitsreaktion zu hellen Lichtquellen im abgedunkelten Raum zu beobachten, jedoch nicht reproduzierbar. Sein Sehvermögen liege nach den Beobachtungen im Bereich der gesetzlichen Blindheit. Für den Kläger sei weiterhin eine Sehbehinderten- bzw. blindenspezifische Förderung wichtig.
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Außerdem wurde der Quartalsbericht des Kinderpalliativteams Ostbayern 4/2019 aktenkundig, worin über einen insgesamt stabilen Allgemeinzustand bei schleichend zunehmender Verschlechterung berichtet wird. In dem Befundbericht der behandelnden Ärztin des Kinderpalliativteams, Dr. M. vom 16.04.2020 schließlich ist u.a. vermerkt, dass kaum noch eine Kontaktaufnahme zu dem Kläger möglich ist.
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Das Gericht beauftragte die seit Jahrzehnten am Blindeninstitut G-Stadt, insbesondere im Bereich der Diagnostik tätige Diplom-Psychologin G. mit der Erstellung eines Gutachtens aufgrund persönlicher Untersuchung zur Feststellung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit des Klägers und zur Frage des Bestehens blindheitsbedingter Mehraufwendungen.
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Die Gutachterin G. ist in einem umfangreichen, diagnostischen Verfahren zur Ermittlung des Visusäquivalents bei mehrfach behinderten Kleinkindern ausgebildet und geschult und übt dieses langjährig aus. Ein wichtiger Teil dieser Diagnostik ist auch das 2003 von U. entwickelte EFS-Verfahren (EFS= Entwicklungs- und Förderdiagnostik des Sehens für mehrfachbehinderte Menschen).
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Die Gutachterin G. machte sich anhand der Akten mit dem Fall kundig und führte am 06.06.2020 einen Hausbesuch bei dem Kläger und seiner Familie durch. Abschließend legte sie das ausführliche Gutachten vom 05.09.2020 vor, auf das im einzelnen Bezug genommen wird. Die Eltern berichteten der Gutachterin G. bei dem Hausbesuch, dass sich der Allgemeinzustand des Klägers in den letzten 3-4 Monaten weiter verschlechtert habe. Sie gingen von einem Krankheitsschub aus, der sich insbesondere in einer Unruhe und Verkrampfung zeigen würde, die durch Probleme beim Atmen entstehe. Der Kläger bekomme deshalb Morphin. Insgesamt sei er nun sehr gedämpft und zeige kaum mehr eine Reaktion. Er habe in den letzten Monaten die Fähigkeit verloren, mit einem Lächeln zu reagieren. Davor habe er eindeutig mit einem Lächeln reagiert, wenn der Vater nach Hause gekommen sei und er ihn gehört habe. Auch auf einen Kuss auf die Wange habe er mit Lächeln reagiert. Ebenso habe er auf die mittlere Schwester mit einem Lächeln reagiert. Seine Verfassung könne man an seiner Körperspannung und an der Körpertemperatur erkennen. Bis letztes Jahr sei er dazu in der Lage gewesen, den Kopf in Richtung von Reizen zu wenden, die ihn interessierten, heute jedoch nicht mehr. Die Eltern würden sehr viel mit dem Kläger sprechen, um ihn in die täglichen Abläufe mit einzubeziehen und ihn auf Situationsveränderungen vorzubereiten. Er würde auch eine Erwartungshaltung zeigen, zum Beispiel, wenn er angezogen werde, um in die schulvorbereitende Einrichtung des Blindeninstituts zu fahren, verändere sich seine Mimik. Er würde sich in der Einrichtung wohlfühlen. Auch bei bekannter Musik zeige er Aufmerksamkeit, die man an seiner Körperspannung und Mimik ablesen könne. Greifen oder auch Gegenstände in der Hand halten sei ihm schon lange nicht mehr möglich. Die Gutachterin traf den Kläger in seinem Rehastuhl bzw. auf dem Schoß seiner Mutter an. Er hatte die Augen zumeist geschlossen, momentweise waren sie geöffnet oder halb geöffnet. Der Kläger zeigte keine willkürlichen Bewegungen, außer dem Öffnen und Schließen der Augen. Die Eltern gaben an, dass er wahrscheinlich bald einschlafen würde, insofern wurde sofort mit einer Überprüfung der Reaktion auf Reize begonnen. Nach 15 Minuten musste die Überprüfung beendet werden, da der Kläger die Augen für den Rest des Hausbesuchs geschlossen hielt. Bei der Untersuchung zeigte er mit dem linken Auge eine dezente Hinwendung der Augen zu starken Reizen im nicht völlig abgedunkelten Raum, während das rechte Auge nach außen abwich. Ein optokinetischer Nystagmus konnte nicht ausgelöst werden. Es konnte eine minimale Hinwendung der Augen zum Licht der Taschenlampe beobachtet werden, wenn sie links bzw. rechts im Gesichtsfeld präsentiert wurde. Auf das Läuten eines Glöckchens zeigte der Junge keine erkennbare Reaktion, jedoch erschien er zu diesem Zeitpunkt bereits sehr erschöpft und müde.
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Die Gutachterin G. bezog als weitere Erkenntnisquelle Videoaufnahmen aus alltäglichen Situationen aus den Jahren 2018/2019/2020 mit ein, welche ihr von den Eltern des Klägers überlassen wurden und fügte diese als Anlage ihrem Gutachten bei (siehe Briefumschlag am hinteren Aktendeckel der Gerichtsakte).
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Auf den Videos aus dem Jahr 2018, welche vom 03.02.2018, 16.06.2018 und 11.08.2018 datieren, ist zu erkennen, dass der Kläger aufmerksam auf Ansprache, Berührung und akustische Reize (Spieluhr) reagiert und ihnen nachlauscht. Eine visuelle Fixation ist nicht erkennbar, der Kläger scheint „nach innen zu sehen“. Der Gehörssinn wirkt intakt. Der Kläger hört Geräuschen aufmerksam zu und reagiert auf Ansprache mit einem Lächeln, im ersten Video vom 03.02.2018 auch noch mit einem hörbaren Wohllaut. In diesem ersten Video ist auch noch eine ganz rudimentäre Fixationsaufnahme erkennbar, in allen anderen späteren Videos nicht mehr.
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In den Videos aus dem Jahr 2019 zeigt sich die Aufmerksamkeitsreaktion des Klägers gegenüber 2018 abgeschwächt, aber ebenfalls noch eindeutig vorhanden; es handelt sich um folgende Szenen: Der Kläger hört seinen Geschwistern zu, wie sie „Weinen“ spielen (Video vom 24.04.2019); der Kläger lächelt, als er ein „zweiseitiges Bussi“ seiner Eltern seitlich auf seine zwei Wangen bekommt (Video vom 04.08.2019); der Kläger fühlt einer Geschmacksprobe von Speiseeis nach, die ihm im Buggy liegend auf dem D.-Platz in der A-Stadter Innenstadt gereicht wird (Video vom 25.08.2019); der Kläger liegt zu Hause in seinem Rehastuhl und eine seiner zwei Schwestern steht neben ihm, hakt einen Arm unter seinen und schüttelt ihm den Arm durch (Video vom 01.09.2019); der Kläger liegt auf dem Schoß seiner Mutter und fühlt mit seiner von der Mutter geführten Hand in das Fell einer Katze, die an ihn und die Mutter gekuschelt ist (Video vom 27.10.2019).
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Aus 2020 befindet sich auf dem USB-Stick noch ein Video vom 13.04.2020, auf dem zu sehen ist, wie die Mutter des Klägers ihn mit ihrer und seiner Hand im Gesicht und besonders um den Mund streichelt. Die Wahrnehmung und Reaktion des Klägers ist auf diesem Video nur noch erahnbar.
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Der USB Stick enthält auch noch einige Fotografien, die im Blindeninstitut aufgenommen und unter dem Datum „04.06.2020“ auf dem Stick abgespeichert wurden (Szenen: der Kläger, anscheinend schlafend, auf dem Schoß einer Erzieherin in einem halbdunklen Raum, der mit etlichen Farbund Lichteffekten ausgestaltet ist; der Kläger, anscheinend schlafend, auf dem Wasserbett im Körperkontakt neben einem anderen Kind).
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Unter dem Datum „04.06.2020“ ist auf dem USB-Stick auch das Video abgespeichert, dass die Eltern des Klägers bereits in der mündlichen Verhandlung vom 27.09.2019 vorgezeigt haben und das offensichtlich aus dem Jahr 2019 stammt (MP4-Datei, 6108 kB, 20190927-WA0003). Das Video zeigt den Kläger im Morgenkreis der Schulvorbereitenden Einrichtung, wie er mithilfe einer Erzieherin „seine“ Glocke läutet und dazu voller Freude lacht, während die Erzieherin langsam und laut und freundlich den Kläger anspricht, ihn begrüßt und ihn lobt.
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Aus den Videos ergeben sich viele Hinweise auf eine vorhandene akustische Wahrnehmung des Klägers von seiner Umwelt. Der Kläger zeigt auch klare Reaktionen, insbesondere auf die akustische und die taktile Wahrnehmung (Bussis), aber auch diskret auf Geschmacks- und Tastwahrnehmung.
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Die Gutachterin G. bemüht sich in ihrem Gutachten vom 05.09.2020 angesichts der seit der Antragstellung im Herbst 2017 zunehmenden Verschlechterung der Erkrankung auf eine möglichst genaue Rekonstruktion des Verlaufs. Auf die Ausführungen in dem Gutachten vom 05.09.2020 im Einzelnen wird Bezug genommen. Zusammenfassend kommt Dipl. Psych. G. zu dem Ergebnis, dass ab der Untersuchung in der Augenklinik A-Stadt vom 13.06.2018 Blindheit im Sinn des Gesetzes nachgewiesen ist. Für die Zeit davor, ab Herbst 2017, sieht die Gutachterin - auch unter Würdigung des augenärztlichen Befundes vom 26.04.2017 (Arztbrief vom 15.01.2018) und des orthoptischen Beobachtungsprotokolls vom 21.09.2017 - den Nachweis einer hochgradigen Sehbehinderung, jedoch noch nicht einer Blindheit im Sinn des Gesetzes als gegeben an.
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Was die Entstehung von blindheitsbedingten Mehraufwendungen betrifft, führt die Gutachterin G. aus, dass im Fall des Klägers der Mangel an Sehvermögen seine ohnehin schon sehr reduzierten Möglichkeiten zur Teilhabe am Leben nochmals weiter reduziert habe. Der Kläger sehe nicht, wer sich im Raum befinde, er könne das ihn umgebende Geschehen nicht mitverfolgen, daher sei er darauf angewiesen, dass seine Bezugspersonen das Geschehen um ihn herum strukturieren, ihm erklären und näherbringen. Aus demselben Grund bedürfe es eines wesentlich langsameren Vorgehens bei allen täglichen Verrichtungen, da der Kläger die Geschehnisse nicht über den Sehsinn mitvollziehen könne. Ortswechsel, neue Personen, all dies müsse angekündigt und erklärt werden. Das Sehen, auch wenn es sich nur um ein im Vergleich zur Normalsichtigkeit sehr reduziertes Sehen handle, könne für ein Kind mit Mehrfachbehinderung eine große Bedeutung haben. Sich als sehenden Menschen zu erleben sei ein großer Zugewinn an Lebensqualität und ermögliche auf basaler Ebene eine Form der Selbstbestimmung, die auf vielen anderen Ebenen aufgrund der starken Beeinträchtigungen nicht mehr möglich sei. Der Kläger sei einmal ein sehender Mensch gewesen, insofern könne auch das geringste Sehvermögen für ihn noch bedeutsam sein. Es gebe auch bei Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen und Blindheit einen Mehraufwand, der in der Blindheit begründet sei, der allerdings anders geartet sei als bei blinden Menschen ohne weitere Behinderungen. Aus der Perspektive der Pädagogik für Menschen mit Mehrfachbehinderung und Sehschädigung könne eindeutig ein Mehraufwand beschrieben werden, der in der Sehschädigung begründet liege. Dieser liege unter anderem darin, dass die betreuenden Personen das Geschehen um den Kläger herum strukturieren und verbalisieren. Um am Leben teilhaben zu können, müsse jede Verrichtung verbal angekündigt und langsam vollzogen werden, insbesondere wenn es sich um neue Tätigkeiten bzw. gewohnte Tätigkeiten in einer neuen Umgebung handle. Hier entstehe ein erhöhter Zeitaufwand.
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Dipl.Psych. G. bringt in ihrem Gutachten weiterhin zum Ausdruck, dass bei dem Kläger in der aktuellen Situation (Juni 2020) aufgrund der fortschreitenden Erkrankung, die jegliche Ausdrucksmöglichkeit zunehmend extrem limitiere, nicht mehr mit Sicherheit nachvollzogen werden könne, ob der Kläger derzeit noch dazu in der Lage sei, Personen aus seinem Umfeld zu erkennen. Er könne mittlerweile nicht mehr aktiv mit seiner Umwelt in Kontakt treten. Da er durch die fortschreitende Krankheit zunehmend an Ausdrucksmöglichkeit verliere, nehme er möglicherweise mehr wahr, als er zeigen könne. Bis vor kurzem sei er dazu in der Lage gewesen, der Umwelt über seine Mimik Aufmerksamkeit und Interesse mitzuteilen, sodass man ablesen konnte, ob ihm etwas gefalle oder nicht. Diese Reaktionen würden sowohl von den Eltern als auch in den Berichten des Blindeninstituts als reproduzierbar beschrieben. Sie gehe davon aus, dass es sich um willentliche Reaktionen gehandelt habe.
32
Auf das Gutachten der Dipl.Psych. G. hin wandte der Beklagte mit Schriftsatz vom 16.09.2020 ein, dass beim Kläger bei Weitem die allgemeine pflegerische Betreuung im Vordergrund stehe. Diese stelle keinen spezifisch blindheitsbedingten Mehraufwand dar. Der Beklagte sehe keine Möglichkeit, den Einwand der Zweckverfehlung fallen zu lassen.
33
Die Klägerseite erwiderte mit Schriftsatz vom 06.10.2020, dass der Kläger, wenn er auch durch die fortschreitende Krankheit zunehmend an Ausdrucksmitteln verliere, bis vor kurzem in der Lage gewesen sei, mit seiner Umwelt aktiv zu kommunizieren. Auch wenn er dies mittlerweile nicht mehr könne, bestünden weiterhin die im Gutachten aufgezeigten, blindheitsbedingten Mehraufwendungen. Es werde nochmals Bezug genommen auf die Stellungnahme der Frühförderung Sehen vom 10.05.2019 und die dort beschriebene Herstellung spezieller Bedingungen, die es dem Kläger ermöglichten, visuelle Reize aufzunehmen und sich mit seiner Umgebung vertraut zu machen, zum Beispiel blindenspezifische Spielmaterialien und spezielle Beleuchtungen. Dabei handle es sich nicht um eine allgemeine pflegerische Betreuung.
34
Die Klägerseite beantragte zuletzt,
den Bescheid des Beklagten vom 21.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.02.2019 aufzuheben und dem Kläger ab Januar 2018 bis Mai 2018 das Blindengeld für hochgradig sehbehinderte Menschen und ab Juli 2018 das Blindengeld für blinde Menschen zuzuerkennen.
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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhaltes auf die beigezogenen Akten des Beklagten sowie die gerichtliche Streitakte und alle darin enthaltenen Unterlagen und Äußerungen der Beteiligten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Über den Rechtsstreit konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz durch Urteil ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden. Die Beteiligten haben sich schriftsätzlich damit einverstanden erklärt.
38
Dem Kläger ist in Abänderung des Bescheides des Beklagten vom 21.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2019 ab Januar 2018 bis Mai 2018 Blindengeld für hochgradig sehbehinderte Menschen und ab Juni 2018 bis einschließlich April 2020 volles Blindengeld zu gewähren.
39
Soweit die Klägerseite ursprünglich bereits für die davorliegende Zeit ab Antragstellung vom 02.11.2017 die Gewährung von vollem Blindengeld begehrt hatte, wurde der Klageantrag mit Schriftsatz vom 06.10.2020 dahingehend abgeändert, dass nunmehr zuletzt für die Zeit vom Januar 2018 bis Mai 2018 das Teil-Blindengeld für hochgradig Sehbehinderte beantragt wurde. Denn das Teilblindengeld für hochgradig Sehbehinderte wurde vom bayerischen Landesgesetzgeber erst ab Januar 2018 eingeführt und nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere auch dem Gutachten der Diplom-Psychologin G., ist beim Kläger volle Blindheit im Sinne des Gesetzes erst ab der Untersuchung in der Augenklinik A-Stadt vom 13.06.2018 zweifelsfrei nachgewiesen.
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Bei dem Kläger lag aufgrund seiner fortschreitenden Erkrankung jedenfalls ab Januar 2018 „hochgradige Sehbehinderung“ und ab Juni 2018 „Blindheit“ im Sinn des Bayerischen Blindengeldgesetztes (BayBlindG) vor und der Beklagte dringt bis einschließlich April 2020 mit dem erhobenen Einwand des Fehlens blindheitsbedingter Mehraufwendungen nicht durch.
41
Nach Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG ist „blind“ im Sinn dieses Gesetzes, wem das Augenlicht vollständig fehlt. Diese Voraussetzung war beim Kläger bis dato nicht gegeben, da er auf Lichtreize - wenngleich nur ganz eingeschränkt - reagierte.
42
Gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG gelten als blind auch Personen, (Nummer 1): deren Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 1/50 beträgt oder (Nummer 2): bei denen durch Nummer 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nummer 1 gleich zu achten sind.
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Diesem Personenkreis im Sinn des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Nummer 2 BayBlindG ist der Kläger zuzuordnen.
44
Nach Art. 1 Abs. 3 BayBlindG ist hochgradig sehbehindert, wer nicht blind im Sinne von Abs. 2 ist und (Nummer 1): wessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 1/20 beträgt oder (Nummer 2): wer so schwere Störungen des Sehvermögens hat, dass sie einen Grad der Behinderung von 100 nach dem SGB IX bedingen. (Art. 1 BayBlindG in der Fassung vom 07.11.2017).
45
Das Bundessozialgericht (BSG) hat in den beiden grundlegenden Urteilen vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/14 R) und vom 14.06.2018 (B 9 BL 1/17 R) entschieden, dass eine der Blindheit nach dem BayBlindG entsprechend gleich schwere Störung des Sehvermögens auch bei zerebralen Schäden ohne spezifische Sehstörung vorliegt, wenn es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen“ fehlt.
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Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme lag beim Kläger eine hochgradige Sehbehinderung bereits im Herbst 2017 vor und spätestens ab Juni 2018 Blindheit im Sinne des Gesetzes. Dies ergibt sich aus dem orthoptischen Beobachtungsprotokoll der Frühförderung Sehen des Blindeninstituts A-Stadt vom 21.09.2017, den Ergebnissen der gutachterlichen Untersuchung in der Augenklinik A-Stadt vom 13.06.2018, dem orthoptischen Beobachtungsprotokoll des Blindeninstituts A-Stadt vom 16.10.2018, dem orthoptischen Beobachtungsprotokoll des Blindeninstituts A-Stadt für den Beobachtungszeitraum Oktober bis Dezember 2019 in der Zusammenschau mit dem nachvollziehbaren Gutachten der Diplom-Psychologin G. vom 05.09.2020, welches diese aufgrund Hausbesuch-Untersuchung vom 06.06.2020 vorgelegt hat.
47
Auch der Beklagte geht aufgrund der BSG Entscheidung von 2018 zwischenzeitlich davon aus, das beim Kläger „Blindheit“ im Sinne des Gesetzes vorlag bzw. vorliegt (vergleiche auch versorgungsärztliche Stellungnahme nach Aktenlage der Dr. L. vom 27.12.2018 und Widerspruchsbescheid vom 21.02.2019). Die gewisse Diskrepanz zum Gutachten G. insoweit, als klägerseitig bereits ab Herbst 2017 das Vorliegen von Blindheit angenommen wurde, ist damit erklärbar, dass einerseits in Bezug auf den neuen Blindheitsbegriff des BSG seitens des Beklagten nur eine ärztliche Stellungnahme nach Aktenlage vorliegt und andererseits der Gutachterin G., die aufgrund ihrer jahrzehntelangen Erfahrung in der Diagnostik am Blindeninstitut G-Stadt über ein besonders differenziertes Beurteilungsvermögen verfügen dürfte, sowohl der persönliche Eindruck anlässlich der Untersuchung vom 06.06.2020 als auch noch weitere Erkenntnismöglichkeiten (weitere orthoptische Beobachtungsprotokolle vom Oktober 2018 und vom Dezember 2019; USB-Stick mit Videos aus den Jahren 2018 bis 2020) zur Verfügung standen.
48
Für die Auffassung der Gutachterin G. spricht ergänzend auch der Eindruck, den die dem Gutachten beigelegten Video- und Fotodokumente auf dem USB Stick vermitteln. Auf der dortigen, zeitlich frühesten Videoaufnahme vom 03.02.2018 erscheint andeutungsweise noch eine rudimentäre visuelle Wahrnehmungsfähigkeit des Klägers denkbar. Im Gegensatz dazu ist bei allen weiteren, zeitlich späteren Videoaufnahmen eine visuelle Fixation nicht mehr erkennbar und der Kläger reagiert dem Anschein nach ausschließlich auf auditive, auf einigen Videos auch auf taktile Reize (Videos vom 04.08.2019, 01.09.2019, 27.10.2019 und vom 13.04.2020) bzw. in einem Fall auf einen gustatorischen Reiz (Video vom 25.08.2019: Eis am D.-Platz), jedoch nicht mehr erkennbar auf visuelle Reize. Er scheint sozusagen in allen späteren Videos ab Frühsommer 2018 nur noch „nach innen zu schauen“.
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Nachdem nunmehr, unter Zugrundelegung des vom BSG in den beiden genannten Entscheidungen von 2015 und 2018 neu formulierten juristischen Blindheitsbegriffes die „Blindheit“ des Klägers im Sinn des BayBlindG anzunehmen ist, konzentriert sich der Rechtsstreit im Kern auf die Frage, ob der Beklagte in Anbetracht der äußerst umfänglichen Pflegebedürftigkeit des Klägers mit dem Einwand des Fehlens blindheitsbedingter Mehraufwendungen durchdringen kann.
50
Das BSG hat in seinem Urteil vom 14.06.2018 (siehe oben) in Fortentwicklung seines Urteils vom 11.08.2015 (siehe oben) festgestellt, dass dem zuständigen Leistungsträger der anspruchsvernichtende Einwand der Zweckverfehlung zustehe, wenn der Zweck des Blindengeldes verfehlt werde, weil aufgrund der typischen Eigenart des Krankheitsbildes ein auszugleichender blindheitsbedingter Mehrbedarf nicht entstehen kann.
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Erläuternd führt das BSG in dem Urteil vom 14.06.2018 (Rn 18) aus, dass das Blindengeld zwar ohne den Nachweis eines konkreten Bedarfs pauschal gezahlt werde, also ohne dass der Anspruchsteller eine Darlegungs- und Beweislast dafür trägt, ob und welche Aufwendungen er etwa zur Kontaktpflege, zur Teilnahme am kulturellen Leben oder Arbeitsleben im Einzelfall benötigt. Der Grund für die pauschale Leistung liege darin, dass bei festgestellter Schädigung auf die Ermittlung des konkreten Mehrbedarfs sowie einer konkreten Ausgleichsfähigkeit verzichtet werden solle. Denn es lasse sich nicht verbindlich und abschließend berechnen, welcher „Mehraufwand“ einem blinden Menschen bedingt durch sein Leiden im Einzelfall entstehen kann.
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Dennoch bleibe der Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen ausdrücklich das erklärte Ziel der Regelung. Hieraus schließt das BSG im Urteil vom 14.06.2018 (Rn. 19), dass der Zweck des Blindengeldes dann verfehlt wird, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst ent- bzw. bestehen kann. Daran anknüpfend führt der Senat seine Rechtsprechung fort und räumt der Versorgungsverwaltung den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung ein, wenn bestimmte Krankheitsbilder blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschließen, weil der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgeglichen werden kann. Dies sieht das BSG am ehesten bei generalisierten Leiden als möglicherweise zutreffend an (z.B. dauernde Bewusstlosigkeit oder Koma, vgl. BSG-Urteil vom 14.06.2018, Rn 19).
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Weiter führt das BSG in dem Urteil vom 14.06.2018 aus, dass das Blindengeld in erster Linie als Mittel zur Befriedigung laufender blindheitsspezifischer, auch immaterieller Bedürfnisse des Blinden, diene, um diesem die Möglichkeit zu eröffnen, sich trotz Blindheit mit seiner Umgebung vertraut zu machen, mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen.
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So geht der Bayerische Landesgesetzgeber nach wie vor davon aus, dass blinde Menschen einen außergewöhnlich großen Bedarf an Assistenzleistungen zur Kommunikation und an Unterstützungsleistungen zur Bewältigung des Alltags haben und dass finanzielle Ausgleichsleistungen die selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich fördern.
55
Orientiert am vorgenannten Regelungszweck des Gesetzes ist es - auch aus Sicht der hier erkennenden Kammer - sachgerecht, im Fall eines objektiv nicht möglichen blindheitsbedingten Mehraufwandes die Blindengeldleistung einzuschränken. Steht fest, dass aufgrund eines bestimmten Krankheitsbildes typischerweise von vornherein kein Mehraufwand im oben genannten Sinne speziell durch die Blindheit entstehen kann, weil etwa ein derart multimorbides oder die Blindheit überlagerndes Krankheitsbild besteht (z.B. dauerhafte Bewusstlosigkeit), dass aus der Blindheit keinerlei eigenständige Aufwendung in materieller oder immaterieller Hinsicht folgt, kann die gesetzliche Zielsetzung der Blindengeldgewährung nicht erreicht werden. Für den vom Gericht überprüfbaren Einwand der Zweckverfehlung trägt die zuständige Behörde die Darlegungs- und Beweislast. (BSG, Urteil vom 18.06.2018, Rn. 20-21).
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Im Fall des Klägers dringt der Beklagte mit dem Einwand der Zweckverfehlung erst für die Zeit ab Mai 2020 durch. Für die davorliegende Zeit (Januar 2018 bis April 2020) konnte der Beklagte den substantiierten Vortrag der Klägerseite zur Entstehung blindheitsbedingter Mehraufwendungen nicht widerlegen.
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Bei dem Einwand der Zweckverfehlung handelt es sich um einen sogenannten „Negativbeweis“ (vergleiche hierzu Ahrens in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2012, Teil A. Die Verteilung der Beweislast und der Darlegungslast, im Volltext mit zahlreichen Quellenangaben veröffentlicht bei Juris, dort Rn. 131 ff). Damit ist gemeint, dass der Beklagte für eine negative Tatsache, nämlich hier das „Fehlen blindheitsbedingter Mehraufwendungen“ beweispflichtig ist. Die Prozesssituation ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die beweispflichtige Partei gewissermaßen im Beweisnotstand befindet, weil die zu beweisende Negativtatsache schwerpunktmäßig der Sphäre des Prozessgegners zugeordnet ist. Zur Auflösung dieser prozessualen Situation wurde in der Zivilrechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) eine Modifizierung der Darlegungslast entwickelt. Dabei kehrt sich die Beweislast nicht um, jedoch wird eine Beweislastverteilung in drei Schritten vorgenommen (vergleiche auch Ahrens, ebenda, Rn 132-134 mit zahlreichen Quellen aus der Rechtsprechung des BGH, hiervon sollen beispielhaft genannt werden: BGH, Urteil vom 13.12.1984 - III ZR 20/83, dort insbesondere Rn. 20; BGH, Urteil vom 24.03.2010 - XII ZR 175/08, dort Rn. 23-27; BGH, Urteil vom 05.02.1987 - IX ZR 65/86, dort insb. Rn. 16 - 17). Es ist sachgerecht, die vom BGH für die Fälle des Negativbeweises entwickelten Beweislastgrundsätze auch hier im sozialrechtlichen Prozess zugrunde zu legen, da sich die prozessuale Ausgangssituation in den Fällen des Negativbeweises in allen Rechtsgebieten gleichermaßen darstellt. Entsprechend dem Rechtsgedanken des § 202 SGG können die Grundsätze des Zivilrechts und des Zivilprozessrechts auch in sozialgerichtlichen Verfahren angewandt werden.
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Nach den vom BGH für die Fälle des Negativbeweises wiederkehrend angewendeten Grundsätzen ist vorliegend vorzugehen:
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Die darlegungsbelastete Partei darf sich zunächst mit der Behauptung der negativen Tatsache begnügen. Anschließend obliegt es der Gegenpartei, im Rahmen des Zumutbaren substantiierte Gegenbehauptungen mit widerlegenden Umständen aufzustellen. Aufgabe der primär beweisbelasteten Partei ist es dann, die Unrichtigkeit der Gegenbehauptungen zu beweisen.
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Unter Anwendung der vorgenannten Grundsätze ist es der Klägerseite für den Zeitraum vom Januar 2018 bis zum April 2020 nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme gelungen, den beklagtenseitig erhobenen Einwand des Fehlens blindheitsbedingter Mehraufwendungen mit substantiierten Gegenbehauptungen zu widerlegen.
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Entgegen der Auffassung der Beklagten kann allein aus der Schwere der Mehrfach-Behinderung des Klägers und der daraus resultierenden, umfänglichen Angewiesenheit auf ständige Pflegemaßnahmen nicht darauf geschlossen werden, dass kein Mehraufwand für den Ausgleich seiner fehlenden visuellen Sinneswahrnehmung entsteht.
62
Das Gericht nimmt hier Bezug auf die einleuchtend erscheinenden Ausführungen der Gutachterin G., insbesondere auf Seite 14-16 ihres Gutachtens, wo sie ausführt, dass aus der Perspektive der Pädagogik für Menschen mit Mehrfachbehinderung und Sehschädigung eindeutig ein Mehraufwand beschrieben werden kann, der in der Sehschädigung des Klägers begründet liegt. Hier sind die Hilfsmittel zu nennen, welche im Blindeninstitut in der Frühförderung Sehen und in der schulvorbereitenden Einrichtung (SVE) zur Förderung blinder Kinder Anwendung finden wie auditive, taktile und gustatorische Angebote. Als besonders eindrückliches Beispiel für den Fall des Klägers ist die „Morgenglocke“ zu nennen, welche im Morgenkreis zur Anwendung kommt (vergleiche Video MP4 Datei 20190927-WA 0003). Jedes Kind hat in der schulvorbereitenden Einrichtung des Blindeninstituts seine „eigene“ Morgenglocke mit dem jeweils individuellen Klang. Dieses Hilfsmittel, welches der Kläger auf dem Video mithilfe der Erzieherin in der Hand hält und schüttelt, als er zur Begrüßung an der Reihe ist, stellt eine Aufwendung dar, die dem Kläger das Empfinden von Selbstwirksamkeit und die Teilhabe am Gemeinschaftserlebnis vermitteln kann. Auf dem Video ist dies eindrücklich dargestellt. Auch die in dem Entwicklungsbericht vom 26.07.2019 beschriebenen Aufwendungen bzw. Hilfestellungen zur Teilhabe am Gemeinschaftsleben in der Gruppe (Geschmacksproben per Saugschwämmchen während der Brotzeit; Angebote mit Lichteffekten im abgedunkelten Zimmer, Angebote eines stark kontrastreichen Sehreizes, bei dem eine Aufmerksamkeitsreaktion des Klägers beschrieben wird, Aufenthalt auf dem Wasserbett, klare, insbesondere auch akustische Strukturierung des Tagesablaufes zur Ermöglichung einer - wenn auch sehr begrenzten, so doch vorhandenen - Teilhabe an der Umwelt, die der Kläger weitgehend nur auditiv wahrnehmen kann).
63
Auch die verschiedenen Situationen, welche aus dem Familienleben auf den Videos festgehalten sind, zeigen Aufwendungen und Hilfsmittel, die dem Kläger die Möglichkeit eröffnen, an seiner Umwelt teilzuhaben und mit ihr in Kontakt zu treten, beispielsweise die Zuführung eines Haustiers (Katze) mit dem Erspüren des Tierfells unter Assistenz der Mutter. Auf einem anderen Foto ist der Kläger mit einem Hund fotogarfiert, an den er gekuschelt ist. Auf einem Video vom 11.08.2018 wird der Kläger mit einer Spieluhr gezeigt, neben der er liegt und auf deren Klang er lauscht.
64
Auch die von der Gutachterin G. beschriebene Strukturierung und Verbalisierung des Geschehens, welche es den betroffenen blinden Mehrfachbehinderten ermöglicht, am sie umgebenden Leben teilzuhaben (verbale Ankündigung jeder Verrichtung, langsamer Vollzug der Verrichtungen, insbesondere, wenn es sich um neue Tätigkeiten bzw. gewohnte Tätigkeiten in einer neuen Umgebung handelt) kann aus Sicht der Kammer durchaus als blindheitsbedingter Mehraufwand in der Form eines blindheitsbedingten zeitlichen und kraftfordernden Mehraufwandes betrachtet werden. Denn diese Strukturierung und Verbalisierung kann ursächlich wegen des fehlenden Gesichtssinns in stärkerem Maß anfallen als bei einem mehrfachbehinderten Menschen, welcher sehen kann. Auf vielen der genannten Videos auf dem USB-Stick wird erkennbar, dass der Kläger auf auditive Reize reagiert und - zumindest eine Zeit lang - aufmerksam auf sie hinhört. Sein Gehörsinn wirkt durchgehend intakt. Auch wenn die Aufmerksamkeitsspanne des Klägers jeweils relativ kurz ist und sich während der streitgegenständlichen Zeit wohl weiter verkürzt hat, so ist dieser Zustand des aufmerksamen Hinhörens bis Frühjahr 2020 durchgehend dokumentiert. Insoweit kann die von der Umwelt des Klägers in der Familie und am Blindeninstitut stattfindende akustische Begleitung und Strukturierung seines Lebens, welche für die Pflegepersonen einen zusätzlichen Kraft- und Zeitaufwand bedeutet, neben den weiter oben genannten Hilfsmitteln aus der Blindenpädagogik und dem Familienalltag auch als substantiierte Darlegung eines blindheitsbedingten Mehraufwandes gelten. Dieser blindheitsbedingte Mehraufwand zur Ermöglichung und Förderung der Teilhabe an der Umwelt ist aus Sicht des Gerichtes, jedenfalls solange der Blinde eindeutig auf die akustischen Ankündigungen und Kontaktaufnahmen reagiert, einerseits nachvollziehbar und andererseits nicht widerlegbar.
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Demgegenüber greift zur Überzeugung des Gerichtes für die Zeit ab Mai 2020 der anspruchsvernichtende Einwand der Zweckverfehlung, da ab diesem Zeitpunkt im Zusammenhang mit der fortschreitenden Erkrankung von verschiedenen Seiten beschrieben wird, dass kaum oder keine Kontaktaufnahme zum Kläger mehr objektivierbar ist. Die Eltern des Klägers selbst haben im Juni 2020 bei der Anamnese gegenüber Frau G. mitgeteilt, dass sich der Allgemeinzustand des Klägers in den letzten 3 bis 4 Monaten weiter verschlechtert hat. Er habe in den letzten Monaten die Fähigkeit verloren, mit einem Lächeln zu reagieren. Auch die Gutachterin G. schreibt, dass sie in der Untersuchungssituation nicht mehr mit Sicherheit nachvollziehen habe können, ob der Kläger noch in dazu in der Lage ist, Personen aus seinem Umfeld zu erkennen. In dem Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 06.10.2020 heißt es, dass der Kläger durch die fortschreitende Krankheit zunehmend an Ausdrucksmitteln verliert und bis vor kurzem noch in der Lage war, mit seiner Umwelt aktiv zu kommunizieren. Dies stimmt auch überein mit den Angaben in dem Quartalsbericht II/2020 des seit Jahren begleitenden Kinderpalliativteams Ostbayern vom 16.06.2020, wo es heißt: „Die Kontaktfähigkeit von T. ist nahezu erloschen“. Angesichts dieser Situation kann der Beklagte zur Überzeugung des Gerichtes ab Mai 2020 mit seinem Einwand des Fehlens objektivierbarerer blindheitsbedingter Mehraufwendungen durchdringen. Daher muss die Klage für die Zeit ab Mai 2020 abgewiesen werden. Eine Assistenzleistung zum Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen erfordert eine objektivierbare Teilhabe des Klägers an seiner Umwelt. Die bloße Möglichkeit oder Vermutung einer Teilhabe kann nicht genügen (vergleiche auch die therapeutisch empfohlene Ansprache bewusstloser Menschen, vergleiche auch Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 28.07.2020, Aktenzeichen L 15 BL 2/17, Rn. 143).
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Nach alldem gelang es klägerseitig ab Mai 2020 nicht mehr, den Einwand des Beklagten zum Fehlen blindheitsbedingter Mehraufwendungen mit konkreten, substantiierten Gegenbehauptungen zu widerlegen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.