Titel:
Schmerzensgeld für 73 Jahre alte Unfallverletzte bei Oberarmamputation und unfallunabhängigem Tod nach drei Jahren
Normenkette:
BGB § 253
Leitsatz:
65.000 EUR Schmerzensgeld für 73 Jahre alte Geschädigte, die aus unfallunabhängigen Ursachen drei Jahre nach dem Unfall verstarb, bei Polytrauma, Amputation des rechten Oberarmes und diversen Frakturen mit langem Krankenhaus- und Rehaaufenthalt, Rollstuhlpflichtigkeit sowie psychischen Problemen bei Vorerkrankungen (Atemwege, Herz, Wirbelsäule). (Rn. 17 – 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Schmerzensgeld, Amputation, Versterben, Rollstuhl, posttraumatische Belastungsstörung, Vorerkrankungen
Fundstelle:
BeckRS 2021, 18137
Tenor
I. Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger als Gesamtgläubiger ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 15.000,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit 23.12.2019 zu zahlen.
II.Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III.Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Kläger gesamtschuldnerisch 2/5 und die Beklagte 3/5.
IV.Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand
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Die Kläger sind die Erben der am 30.08.2019 verstorbenen W. Gegenstand der gerichtlichen Auseinandersetzung sind weitere Schmerzensgeldansprüche infolge eines sich am 15.07.2016 ereigneten Verkehrsunfalles, bei dem Frau W. schwer verletzt wurde.
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Am Unfalltag gegen 11.00 Uhr wurde die damals 73 Jahre alte W. (im Weiteren: Geschädigte) als Fahrradfahrerin von dem von B. geführten Lkw (amtliches Kennzeichen …), welcher bei der Beklagten haftpflichtversichert ist, auf der G.-Straße in E. erfasst. Die umfängliche Haftung für die Unfallfolgen steht zwischen den Parteien nicht in Streit.
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Durch den Unfall wurde Frau W. erheblich verletzt: Die Geschädigte wurde in die Unfallchirurgische Abteilung des Universitätsklinikums E. verbracht, wo noch am Unfalltag der rechte Oberarm amputiert wurde.
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Während des stationären Aufenthalts, welcher bis zum 25.10.2016 dauerte, wurden u. a. folgende primäre Verletzungsfolgen diagnostiziert:
- Polytrauma nach Verkehrsunfall mit subtotaler Amputation Oberarm rechts mit großflächigen subkutanem Dekollement des gesamten Unterarmes und Ellenbogenbereich;
- drittgradig offene Unterarmtrümmerfraktur rechts;
- drittgradig offene Mittelhandtrümmerfraktur und Handgelenksluxationsfraktur rechts;
- drittgradig offen Kniegelenksluxation links mit Fraktur medialer Femurkondylus, Patellaspitzenfraktur;
- offene Patellaluxation, großflächigen Weichteildefekt Unterschenkel links;
- Pneumothorax links (Lungenzusammenfall);
- Sacrumfraktur beidseitig bei einliegendem Fixateur (Kreuzbeinbruch);
- dislozierter Orbitabodenodenfraktur links;
- persistierende Doppelbilder bei Hebungsdefizit Auge links.
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Es folgte eine Anschlussheilbehandlung 25.10.2016 bis 13.12.2016 im L. Klinikum in B. K. Die Geschädigte war fortan auf den Rollstuhl angewiesen und konnte sich nur mit Hilfe aufrichten und aus dem Rollstuhl heraus bewegen. Es bestand eine ausgeprägte Stand- und Gangunsicherheit. Aufgrund von aufgetretenen Hautveränderungen im Bereich des Stumpfes und ungünstiger Weichteilvoraussetzungen wurde festgestellt, dass das Tragen einer Oberarmprothese aufgrund des Gewichtes dieser Prothese nicht möglich war.
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Die Geschädigte hatte zahlreiche Vorerkrankungen bzw. medizinische Vorbehandlungen:
- chronische Polyarthritis;
- Radikulopathie mit Bandscheibenverlagerung;
- Zustand nach Korrekturspondylodese L2 bis S1 vom 08.03.2013;
- Zustand nach Entfernung der beiden L2-Schrauben sowie der proximalen Bruchstücke SWK1-Schrauben, Kürzung des Stabes und Reduktion der Spondylodese auf L3 bis auf L5 am 10.12.2014 - Lumbalsyndrom bei Skoliose lumbal konvex mit Osteochondrose L3/4 und L5/S1 sowie Spondylarthrose bei klinischem Ausschluss eines Nervenwurzelreizsyndromes
- Myofasziales Syndrom Musculus quadratus bds.;
- Zustand nach Bursektomie der Bursa trochanterica links;
- Zustand nach Bursektomie der Bursitis trochanterica rechts zur Trochanterglättung am 06.12.2011, Orthopädische Universitätsklinik E., sowie Punktion eines Hämatoms am 13.12.2011 (Orthopädische Universitätsklinik)
- Transossäre Refixation der Sehne des Musculus gluteus minimus am 19.05.2011 (Orthopädische Universitätsklinik E.) bei chronischer Bursitis trochanterica und partieller Deinsertion des Musculus gluteus minimus links, vorbehandelt durch Radiatio
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An die Geschädigte wurde vorgerichtlich ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000,00 € bezahlt. Mit Schreiben vom 21.12.2019 wurden weitere Schmerzensgeldzahlungen abgelehnt. Frau W. verstarb aus unfallfremden Gründen am 30.08.2019.
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Die Kläger behaupten, dass die Lendenwirbelsäulentherapie in den Jahren 2013/2014 abgeschlossen worden und von einer vollständigen Genesung der diesbezüglichen Vorerkrankung auszugehen sei. Ferner behaupten sie, dass sich infolge des Unfalls bei Frau W. eine posttraumatische Anpassungsstörung bei noch nicht abgeschlossener Krankheitsverarbeitung entwickelt habe. Die posttraumatische Anpassungsstörung habe psychologisch und unter Zuhilfenahme von Medikamenten behandelt werden müssen. Die sind der Ansicht, dass die Entwicklung der Schmerzensgeldbemessung über die reine Geldentwertung hinaus dringend geboten sei. Schwer geschädigte Verletzte sollten mit deutlich höherem Schmerzensgeld ausgestattet werden.
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Die Kläger beantragen daher:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger als Gesamtgläubiger ein weiteres angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe ausdrücklich in das richterliche Ermessen gestellt wird und nur für den Säumnisfall mit weiteren 25.000,00 € beziffert wird, zu bezahlen, wobei der Betrag mit 5 Prozentpunkten über dem Basiszins seit 23.12.2019 zu verzinsen ist.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Beklagte ist im Wesentlichen der Ansicht, dass das beklagtenseits bereits bezahlte Schmerzensgeld in Höhe von 50.000,00 Euro sachangemessen und auch ausreichend gewesen sei. Sie verweist auf das Urteil des OLG Hamm vom 13.06.2017 (Az.: 26 U 59/16) und ferner darauf, dass die Geschädigte bereits drei Jahre nach dem streitgegenständlichen Unfall verstorben sei.
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Wegen des weiteren Sachvortrags wird auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen Bezug genommen.
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Das Gericht hat keinen Beweis erhoben.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
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Unter Berücksichtigung der festgestellten Primärverletzungen und Unfall(spät) folgen ist ein Schmerzensgeld von insgesamt 65.000,00 € notwendig, aber auch ausreichend.
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Bei der Festsetzung der Entschädigung dürfen und müssen grundsätzlich alle in Betracht kommenden Umstände des Falles berücksichtigt werden (Pardey in: Geigel, Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, Kapitel 6, Rn. 35). Gefordert wird daher eine ganzheitliche Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umständen (BGH, Beschluss v. 16.09.2016, Az.: VGS 1/16 = r+s 2017, 101; Palandt-Grüneberg, BGB, 80. Aufl. 2021, § 253, Rn. 15 m.w.N.). Das Gericht hat bei dieser Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbilds in erster Linie die Ausgleichsfunktion des Schadensersatzes zu beachten. Insoweit kommt es auf die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung an. Maßgeblich sind Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden, Entstellungen und psychische Beeinträchtigungen, wobei Leiden und Schmerzen wiederum durch die Art der Primärverletzung, die Zahl und Schwere der Operationen, die Dauer der stationären und der ambulanten Heilbehandlung, den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit und die Höhe des Dauerschadens bestimmt werden (vgl. zum Vorstehenden nur OLG Nürnberg, Urteil v. 23.12.2015, Az.: 12 U 1263/14 = NJW-RR 2016, 593 m.w.N.).
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Berücksichtigt wurde vom Gericht insbesondere die schweren und äußerst schmerzhaften Primärverletzungen, die einen langen Krankenhaus- und Rehaaufenthalt nach sich zogen. Ebenfalls waren die bleibenden erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Verstorbenen zu sehen. Neben den zahlreichen unstreitigen Verletzungsfolgen geht das Gericht auch davon aus, dass sich bei der Verstorbenen eine posttraumatische Anpassungsstörung bei noch nicht abgeschlossener Krankheitsverarbeitung entwickelt hatte. Diese wurde im Arztbrief der L.-klinik H. in B. K. vom 13.12.2016 diagnostiziert und ist für das Gericht aufgrund der außergewöhnlich schweren Verletzungen auch nachvollziehbar.
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Auf der anderen Seite zu sehen war, dass die Verletzungen durch einen fahrlässigen Unfall verursacht wurden, sodass die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes nur von untergeordneter Bedeutung war.
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Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigte das Gericht insbesondere die nachstehenden Urteile:
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LG Hanau Urteil vom 15.07.1992 (Az.: 4 O 926/90, veröffentlicht in BeckRS 1992, 12601, gelistet in beck-online.SCHMERZENSGELD Nr. 1632): Schmerzensgeld in Höhe von 69.024,40 (bei 90% Haftung).
Aus den Entscheidungsgründen:
„Infolge des Anpralls stürzte der [damals 29jährige] Kläger mit dem Motorrad und wurde nach etwa 50 Metern nach rechts in eine Böschung geschleudert. Das vom Beklagten zu 1. gesteuerte Fahrzeug geriet in seiner Fahrtrichtung nach rechts von der Fahrbahn ab und kam vor einem Feld zum Stehen.
Der Kläger erlitt sehr schwere Verletzungen.
Sein linker Arm mußte im Schultergelenk amputiert werden. Außerdem erlitt er einen Bruch des linken Ober- und Unterschenkels mit einem Verlust der linken Kniescheibe und einer Zerstörung des Streckapparats des linken Kniegelenks. Sein linkes Bein ist gegenüber dem rechten Bein um 3,4 cm verkürzt. Im linken Kniegelenk und im linken oberen Sprunggelenk besteht eine starke Bewegungseinschränkung. Stumpfweichteile im Bereich des linken Schultergelenks erforderten mehrere plastische Korrekturmaßnahmen.
Der Kläger befand sich vom 31. August 1988 bis 23. Dezember 1988 in stationärer Behandlung […], davon die ersten drei Wochen wegen Lebensgefahr in der Intensivstation.“
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LG Dortmund, Urt. v. 14.4.2016 (Az.: 4 O 230/13, NJOZ 2016, 964, gelistet in beck-online.SCHMERZENSGELD Nr. 5048): Schmerzensgeld in Höhe von 60.000,- €
43j. Frau. Längere stationäre Heilbehandlung sowie 50 Tage Rehabilitaionsaufenthalt. Arzthaftung infolge eines Behandlungsfehlers im Zusammenhang mit einer Lymphknotenentfernung (sog. „Lymphknotenexstirpation“ rechts cervical), nach deren Durchführung der Kläger an Schmerzen im rechten Arm sowie einer Armhebeschwäche litt. Dauerschaden: Bewegungseinschränkung und Schmerzen im Bereich des rechten Arms; Schmerzen sowie Pflegebedüftigkeit bzw. auf Dauer ein Pflegefall in Bezug auf täglich zu verrichtende Arbeiten, wie Essenszubereitung, Toilettengang, Einkaufen etc. Hobbyaufgabe: Ihren Hobbys wie Malen, Spazierengehen und Fahrrad fahren, kann die Klägerin nicht mehr nachgehen. [Anmerkung: Das LG sah 80.000 EUR für angemessen an und führte aus, dass die Beklagte zu 2. nur anteilig in Höhe von 60.000,00 EUR haftet.]
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LG Köln, Urteil vom 15.04.2010 (Az.: 5 O 36/09, veröffentlicht BeckRS 2011, 2593, gelistet in beck-online.SCHMERZENSGELD Nr. 4149): Schmerzensgeld in Höhe von 50.000,00 €.
Die Klägerin erlitt schwere Verletzungen, insbesondere eine Beckenringfraktur, Rippenserienfraktur, Oberarm- und Ellenbogenfraktur, Fraktur beider Schlüsselbeine und eine Fraktur der Kniescheibe. Einzelne weitere Verletzungen der Klägerin und Folge- bzw. Dauerschäden aus dem Unfallgeschehen sind streitig. Die Klägerin befand sich in der Zeit vom 28.05. bis 10.07.2008 in stationärer Krankenhausbehandlung. Weitere Krankenhausaufenthalte und Operationen folgten.
Schmerzensgeld 50.000,- €.
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OLG Hamm, Urteil vom 13.06.2017 (Az.: I-26 U 59/16, veröffentlich in juris): Schmerzensgeld in Höhe von 50.000,00 €.
Der am ... 1963 geborene Kläger hat von der Beklagten wegen vermeintlicher ärztlicher Behandlungsfehler in der Hauptsache die Zahlung eines mit mindestens 50.000,00 EUR für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes und die Feststellung weitergehender Ersatzpflicht begehrt.
Es ist davon auszugehen, dass bei rechtzeitigen Erkennen des Kompartmentsyndroms frühzeitiger eine chirurgische Intervention erfolgt wäre. Die schon vorhandene Nekrotisierung hätte zwar beseitigt werden müssen, sie wäre dann aber nicht weiter fortgeschritten und hätte in geringerem Umfang ausgeräumt werden müssen. Die Amputation des Unterarmes wäre nicht erforderlich geworden. Zuzurechnen sind darüber hinaus die aus der Amputation resultierenden andauernden Phantomschmerzen und sonstigen zeitweilige Beschwerden am Armstumpf - und Wundheilungsstörungen, die sich im Anschluss an die Amputation gebildet haben. Daraus resultiert darüber hinaus ein Krankenhausaufenthalt vom 20.11.2012 bis zum 1.12.2012, bei dem eine operative Nachresektion des distalen Radiusendes, Neurolyse des Nervus ulnaris und eine Neuromexstirpation erfolgten. Ein weiterer Krankenhausaufenthalt wurde für die Zeit vom 27.11.2013 bis zum 4.12.2013 erforderlich, um eine neoelektrische Unterarmprothese anzupassen, eine schmerztherapeutische Konsiliarbehandlung und eine neurologische Konsiliarbehandlung durchzuführen. Daneben sind fortlaufende ambulante Vorstellungen zur Kontrolle notwendig.
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Das Gericht hat sich an veröffentlichen Schmerzensgeldentscheidungen zu orientieren, um Rechtssicherheit, das heißt Verlässlichkeit der Rechtsprechung, herzustellen. Eine rechtspolitisch motivierte Fortentwicklung von Schmerzensgeldbeträgen steht dem Gericht als Teil der rechtsprechenden Gewalt verfassungsmäßig nicht zu.
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Nach alledem erscheint eine weitere Schmerzensgeldzahlung in Höhe von 15.000,00 Euro notwendig, aber auch ausreichend zu sein. Die Geschädigte war zum Zeitpunkt des Unfalles 73 Jahre alt und litt - auch wenn ihre Lendenwirbelbehandlung ausgeheilt war - an zahlreichen Vorerkrankungen. Zwischen dem Unfallereignis und dem Ableben von Frau W. lagen lediglich drei Jahre. Anders als in den zitierten Entscheidungen musste die Klägerin daher nur einen relativ kurzen Lebensabschnitt mit den Verletzungen zurechtkommen. Dass hierdurch ihre letzten Lebensjahre erheblich beeinträchtigt wurden, wird nicht in Abrede gestellt.
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Der Anspruch war zumindest seit 23.12.2019 gem. §§ 286 Abs. 1, 288 BGB zu verzinsen, nachdem die Beklagte zuvor Zahlungen über 50.000,00 € ernsthaft und endgültig abgelehnt hatte.
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Im Übrigen war die Klage abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.