Titel:
Erfolglose Asylklage (Äthiopien, Genitalverstümmelung, eritreische Abstammung, Konflikt in Tigray)
Normenketten:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, § 60 Abs. 7
Leitsätze:
1. Eine staatliche oder staatlicherseits geduldete Diskriminierung eritreischstämmiger Personen in Äthiopien im Sinne einer Gruppenverfolgung ist unter Zugrundelegung der gegenwärtigen Auskunftslage nicht ersichtlich. (Rn. 60 – 62) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die aktuellen Unruhen in der Tigray-Region begründen keinen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. (Rn. 65 – 71) (redaktioneller Leitsatz)
3. In Äthiopien ist es möglich, selbst als alleinstehende Mutter einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Erwerbsmöglichkeiten bestehen grundsätzlich auch für Personen ohne abgeschlossene Schulbildung. (Rn. 75) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
subsidiärer Schutz, Konflikt in Tigray, Äthiopien, Genitalverstümmelung, eritreische Abstammung, Tigray, Abschiebungsverbot, Rückkehrhilfen
Fundstelle:
BeckRS 2021, 18072
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin, geb. am … in B., begehrt im Wesentlichen die Zuerkennung internationalen Schutzes.
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Sie stellte durch ihre Bevollmächtigte am 09.07.2018 einen Asylantrag (Bl. 31 d. Akten). Aus einem beiliegenden Auszug aus dem Geburtenregister ist als Mutter Frau … (Klägerin im Verfahren B 8 K18.30658) und als Vater Herr … (Kläger im Verfahren B 8 K 19.31270) ersichtlich (Bl. 1 d. Akten), deren Identitäten jeweils nicht nachgewiesen sind.
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Mit anwaltlichen Schriftsatz vom 08.08.2018 trug die Bevollmächtigte der Klägerin zu den Asylgründen vor (Bl. 45 ff. d. Akten). Sowohl Vater als auch Mutter seien eritreische Staatsangehörige. Im Herkunftsland bestehe für die Klägerin die konkrete Gefahr der weiblichen Genitalverstümmelung und insofern eine geschlechtsspezifische Verfolgung. Dies sei unabhängig davon, ob eine Abschiebung nach Eritrea oder Äthiopien erfolgen solle. In Eritrea liege die Rate beschnittener Mädchen und Frauen bei 88%, in Äthiopien bei 74%. Die Beschneidung sei notwendig für die Integrierung in die Gemeinschaft und Voraussetzung für die Heirat. Dies könne bei einer Abschiebung nicht mit Sicherheit verhindert werden. Die Mutter als alleinstehende selbst beschnittene Frau könne sie nicht schützen. Es sei auch zu bezweifeln, dass weder Mutter noch die Klägerin ihren Lebensunterhalt sichern könnten. Sich als alleinstehende Frau den religiös geprägten Brauchtümern zu entziehen sei nicht denkbar. Es bedürfe Schutz in Form eines Abschiebungsverbotes bzw. subsidiären Schutz. Hinsichtlich der weiteren Gründe werde auf den Vortrag der Mutter (Az. 7116678-225) verwiesen. Bei einer Entscheidung über ein Einreise- und Aufenthaltsverbot sei zu berücksichtigen, dass sowohl Mutter als auch Vater in der Bundesrepublik leben würden und keinerlei verwandtschaftliche oder sonstige Beziehungen zu Personen bestehen.
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) führte am 13.12.2018 eine Anhörung durch (Bl. 59 ff. d. Akten). Die Klägerin wurde durch die Mutter vertreten. Die Klägerin sei Angehörige der tigrinischen Volskgruppe und Eritreerin. Der Vater sei Eritreer. Papiere aus dem Heimatland gebe es nicht und seien auch nicht beantragt worden. Verwandte in Äthiopien gebe es nicht. Die Mutter habe noch nie Kontakt zu Verwandten in Eritrea gehabt. Es könne sein, dass Onkel und Tanten väterlicherseits dort leben würden, die sie aber nie kennengelernt habe. Die Eltern der Mutter hätten die eritreische Staatsangehörigkeit und die Eltern des Vaters auch. Die Mutter der Klägerin habe die eritreische Staatsangehörigkeit nicht offiziell beantragt. Ob der Vater Verwandte in Eritrea oder Äthiopien habe, wisse sie nicht.
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Zu den Fluchtgründen führte die Mutter der Klägerin aus, dass es der Wunsch der Mutter sei, ihre Tochter hier aufzuziehen. Sie solle hier eine Ausbildung bekommen und ein besseres Leben haben. Falls die Klägerin in die Heimat zurückgehe, könne sie beschnitten werden, wie es bei der Mutter erfolgt sei. Ohne die Beschneidung könne sie nicht heiraten und werde von der Gesellschaft nicht akzeptiert. In Äthiopien sei es bei der Mutter so gewesen, dass die Eltern nicht lebten und die Gemeinde über deren Beschneidung entschieden hätte. Dies würde auch bei der Klägerin passieren. Die Mutter (der Klägerin) habe damals in einer ethnischen Gruppe im Süden von Äthiopien, in der Stadt … gelebt. Die Mutter wisse nicht mehr, wie alt sie gewesen sei, als sie beschnitten worden sei. Sie habe sich beim Versuch der Beschneidung bewegt und sei geschnitten worden, weshalb es immer noch eine Narbe gebe. Sie wisse nicht, wie alt sie gewesen sei, aber dass sie an Armen und Beinen festgehalten worden sei. Auf Nachfrage, wer die Klägerin bei einer Rückkehr zur Beschneidung zwingen würde, antwortete die Mutter, dass dies die Gemeinde sei, die die Klägerin ausgrenzen würde. Sie (die Mutter der Klägerin) sei gegen die Beschneidung. Auch der Vater sei gegen die Beschneidung. In Äthiopien könnten sie (Mutter und Vater) die Klägerin vor einer Beschneidung schützen. Sie würde aber keinen Mann bekommen. Es bestehe gesellschaftlicher Druck und die Ausgrenzung sei schlimm.
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Dem Bundesamt wurde eine ärztliche Bescheinigung vom 17.12.2018 vorgelegt, dass bei der Klägerin keine Veränderung am Genital („weibliche Beschneidung“) durchgeführt worden sei (Bl. 71 d. Akten).
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Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 09.09.2019 die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1), die Anerkennung als Asylberechtigte (Ziff. 2) sowie die Zuerkennung des subsidiären Schutzes (Ziff. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen, widrigenfalls wurde ihr die Abschiebung nach Äthiopien angedroht (Ziff. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 6).
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Unter Berücksichtigung der aktuellen Auskunftslage und ihrer persönlichen Umstände könne ausgeschlossen werden, dass die Klägerin bei einer Rückkehr befürchten müsse, Opfer einer Genitalverstümmelung (FGM) zu werden. Die Zahl der Neuverstümmelungen habe sich in Äthiopien stark verringert. Seit 2005 sei FGM mit Strafe bedroht. Auch Vater und Mutter seien gegen eine weibliche Beschneidung ihrer Tochter. In Anbetracht der Strafandrohung, der Zielsetzung der Regierung, bis 2025 FGM völlig zu unterbinden und die Möglichkeit für die Klägerin, sich mit ihren Eltern in einer urbanen Region wie Addis Abeba niederzulassen, wo ein Einstellungswandel eher voranschreite, sei eine geltend gemachte Diskriminierung der Klägerin vor ihrer Heirat nicht beachtlich wahrscheinlich.
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Die Klägerin sei als äthiopische Staatsbürgerin zu behandeln. In den beiden Verfahren der Eltern sei begründet anzunehmen, dass diese die äthiopische Staatsbürgerschaft nicht verloren hätten. Die Mutter und der Vater hätten die eritreische Staatsangehörigkeit nicht glaubhaft machen können.
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Trotz vereinzelter Unruhen gebe es in Äthiopien keinen Konflikt i.S.v. § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG. Auch im Übrigen scheide subsidiärer Schutz aus.
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Abschiebungsverbote würden nicht vorliegen. Bei einer Rückkehr nach Äthiopien könne im Allgemeinen von der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausgegangen werden. Zur Existenzsicherung sei die Klägerin auf ihre Eltern in Äthiopien zu verweisen. Insoweit werde auch auf die Ausführungen in den Bescheiden der Mutter und des Vaters verwiesen.
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Mit Blick auf die abgelehnten Asylanträge der Eltern sei die gewählte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots angemessen.
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Hiergegen hat die Bevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 26.09.2019, eingegangen bei Gericht am selben Tage, Klage erhoben.
I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 09.09.2019, Gesch.-Z. …, den Prozessbevollmächtigten zugestellt am 12.09.2019, wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verpflichtet,
1. die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen,
2. die Flüchtlingseigenschaft der Klägerin zuzuerkennen,
3. hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zu zu erkennen,
4. hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 V und VII AufenthG vorliegen.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
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Mit Schriftsatz vom 14.10.2019 führt die Bevollmächtigte aus, dass die Staatsangehörigkeit der Eltern weiterhin streitig sei. Es werde an der eritreischen Staatsangehörigkeit festgehalten. Der Vater habe mit Inkrafttreten des Staatsangehörigkeitengesetzes Eritreas kraft Gesetzes die eritreische Staatsangehörigkeit erworben und zugleich die äthiopische Staatsangehörigkeit verloren.
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Bei einer unterstellten äthiopischen Staatsangehörigkeit drohe der Klägerin die Gefahr einer Beschneidung. Es werde von der Beklagten darauf Bezug genommen, dass die Mutter die Klägerin davor schützen könne. Allerdings werde nicht berücksichtigt, dass die Mutter der Kläger gerade Gegenteiliges erlebt habe, nachdem diese von der Gemeinde ihrer Eltern beschnitten worden sei.
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Ein Existenzminimum der Klägerin wäre in Äthiopien nicht gesichert. Es sei zu beachten, dass die Eltern nunmehr ein zweites Kind hätten, das erst zwei Monate alt sei. Die Kinder benötigten vollständige Betreuung durch die Eltern, weshalb allenfalls ein Elternteil für eine vierköpfige Familie sorgen müsse.
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Mit Schriftsatz vom 28.08.2020 weist die Bevollmächtigte der Klägerin auf die aktuelle humanitäre Lage in Ostafrika hin. Eritrea und Äthiopien seien durch die Corona-Pandemie betroffen, was durch Ausgangsbeschränkungen, Einschränkungen des öffentlichen Lebens und somit auch zu Beeinträchtigungen der Möglichkeiten zum Einkommenserwerb für Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter geführt habe. Zudem werde die Situation noch erschwert durch die seit Monaten bestehende Heuschreckenplage „biblischen Ausmaßes“, die die Ernten vernichte, dem Bauern die Existenzgrundlage nehme und der Weiterentwicklung der derzeitigen Verhältnisse zu einer Hungersnot führen werde.
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Dementsprechend habe das VG Ansbach in zwei aktuellen Entscheidungen für Äthiopien ein Abschiebungsverbot aufgrund der Heuschreckenplage und Corona Pandemie ausgesprochen (AN 3 K 19.30016) - und dies auch für einen alleinstehenden, erwerbsfähigen Mann (AN 3 K 17.34552). Gemäß seiner Urteilsgründe stehe es zur Überzeugung des Gerichts fest, dass eine Rückkehr in die aktuell bestehende Lebenssituation in Äthiopien aufgrund der Heuschreckenplage in Verbindung mit der Corona Pandemie auch in Ansehung der unabhängig von diesen Umständen bestehenden Rückkehrsituation, derzeit und in überschaubarer Zukunft einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellen würde. Die prekären Lebensbedingungen seien insbesondere durch die pandemiebedingten Probleme der Erlangung eines Zugangs zu Arbeit, adäquater Unterkunft, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung und zur Erlangung finanzieller Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse gegeben. Ebenso sei auch die erschwerte wirtschaftliche Situation durch die Heuschreckenplage zu berücksichtigen. Insbesondere die Wohnungs- bzw. Arbeitssuche seien in einem Maße erschwert, das die Sicherung des Existenzminimums nicht gewährleiste. Insofern seien sowohl für Eritrea als auch für Äthiopien die Voraussetzungen gegeben, um Abschiebungsverbote festzustellen.
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Bundesentwicklungsminister Müller warne, dass aufgrund des Corona-Virus Afrika vor einer Hunger-Pandemie stehe. Für Äthiopien bestehe weiterhin eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes, der Notstand sei im Land ausgerufen, es bestünden vielfältige Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Bei Einreise sei eine Quarantäne notwendig, selbst bei negativen Corona-Test. Für Millionen von Menschen sei die Versorgung mit Nahrung nicht mehr gesichert. Die Möglichkeit zur Wohnungs- und Arbeitssuche für Rückkehrer erscheine weitgehend unmöglich. Eine Sicherung des Existenzminimums sei nicht gewährleistet.
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Zudem sei auch die Heuschreckenplage noch immer nicht unter Kontrolle. Ein Ende der Plage sei laut ICPAC noch nicht in Sicht. Die FAO bezeichne die Situation als eine beispiellose Bedrohung. Laut UNO-Welternährungsprogramm würden 27 Millionen Menschen in Ostafrika Hunger leiden. Im weiteren Verlauf der Plage könne es zu einer noch größeren Hungersnot kommen und bis zu 34 Millionen Menschen könnten betroffen sein.
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Hierzu legte die Bevollmächtigte einen Auszug der Reise und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes, Stand 28.08.2020 (Anlage K1), einen Ausdruck eines Beitrags von Georg Schwarte, ARD-Hauptstadt Studio, mit dem Titel „Corona-Folgen in Afrika, Müller warnte vor Hunger-Pandemie“, abrufbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/entwicklungsminister-mueller-corona-hunger-101.html (Anlage K2), einen Auszug aus den ZDF-Nachrichten vom 12.04.2020 mit dem Titel „Covid-19 in Ostafrika - Virus behindert Kampf gegen Heuschreckenplage“, abrufbar unter https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/ostafrika-heuschrecken-plage-coronavirus-covid-19-100.html (Anlage K3), sowie einen Auszug aus den ZDF-Nachrichten vom 23.06.2020 mit dem Titel „Experten fürchten Hungersnot - Heuschrecken fallen über Afrika und Asien her“, abrufbar unter https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/heuschrecken-plage-afrika-asien-arabische-halbinseln-100.html (Anlage K4) vor.
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Mit Schriftsatz vom 15.01.2021 führt die Bevollmächtigte der Klägerin weiter aus, dass die Ablehnung der eritreischen Staatsangehörigkeit nicht überzeuge, da beide Eltern eritreische Staatsangehörige seien. Zur Abgrenzung der äthiopischen von der eritreischen Staatsangehörigkeit werde auf die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.06.2020, Az. 19 A 1420/19 A verwiesen. Hiernach ergebe sich für die Mutter und den Vater der Klägerin die eritreische Staatsbürgerschaft. Im Einzelnen wird dazu auf die Ausführungen zum den Verfahren der Eltern verwiesen.
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Die Bevollmächtigte rügt zudem die Zuständigkeit der 8. Kammer. Für den Fall, dass das Gericht die äthiopische Staatsangehörigkeit feststellen sollte, sei nach dem Geschäftsverteilungsplan die 7. Kammer zuständig.
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Bei einer Rückkehr nach Eritrea zusammen mit der Mutter, wovon auszugehen sei, drohe der Mutter der Klägerin im nationaldienstpflichtigen Alter eine Dienstpflicht und damit eine Verfolgung, da die Dienstausübung mit sexuellen Übergriffen auf Frauen verbunden sei. Zudem bestehe die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Es werde zwar berichtet, dass Mütter nicht herangezogen würden. Dies sei allerdings lediglich eine tatsächliche Beobachtung, ohne dass es im eritreischen Recht hierfür eine Grundlage gebe. Es seien auch Fälle bekannt, in denen von dieser Praxis abgewichen werde. Wenn man davon ausginge, dass eine Heranziehung zum Nationaldienst ausgeschlossen sei, so bedeutet dies, dass man sich auf ein willkürliches Vorgehen des Staates Eritrea verlasse und der Klägerin aufgrund eines willkürlichen staatlichen Vorgehens internationalen Schutz versagen würde.
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Es seien jedenfalls hinsichtlich Eritrea Abschiebungsverbote gegeben. Die Klägerin würde bei einer Rückkehr in eine extreme Notlage geraten, da ihre Mutter das Existenzminimum für sie im Hinblick auf Art. 3 EMRK nicht sichern könne. Bei einer hypothetischen Rückkehrsituation sei davon auszugehen, dass die beiden Töchter mit ihr zurückkehren würden. Offen sei, ob eine hypothetische Rückkehrsituation eine Einreise gemeinsam mit dem Vater der Kinder vorsehe, da für diesen jedenfalls der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt werden dürfte. Höchstrichterlich klärungsbedürftig sei, ob bei der Rückkehr Prognose auch eine Kernfamilie zugrunde gelegt werden dürfe, die im Herkunftsland noch nicht bestanden habe. Es sei zunächst davon auszugehen, dass die Klägerin alleine mit ihren Kindern zurückkehren würde und das Existenzminimum der Familie alleine sichern müsste. Selbst wenn Herr … nach Eritrea ausreisen würde, so könnte er allerdings nicht zum Lebensunterhalt beitragen. Entweder er würde zum Nationaldienst eingezogen oder er würde sich vor einer Einberufung verstecken, könne jedenfalls nicht arbeiten und seine Familie versorgen. Die Mutter der Klägerin könne das Existenzminim alleine sichern. Sie habe keinen Beruf erlernt und noch nie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können. Ihre bisherigen Tätigkeiten, die sie verrichtet habe, seien stets in Abhängigkeit Dritter erledigt worden. Die Mutter der Klägerin habe sich noch nie selbst eine Unterkunft besorgen oder selbst Arbeit suchen können. Sie könne auf keinerlei Erfahrung zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts zurückgreifen. Die Mutter der Klägerin habe keinen Kontakt zu etwaigen Verwandten in Eritrea oder Äthiopien. Die Klägerin und ihre Schwester seien gerade zwei bzw. eineinhalb Jahre alt. Anderweitige Betreuungsmöglichkeiten in Eritrea oder Äthiopien bestünden nicht, da keine Familienmitglieder zur Verfügung stünden. Ihre Erwerbsmöglichkeiten seien erheblich eingeschränkt. Der Zugang zu Hilfsarbeiten sei erheblich erschwert durch die Corona Pandemie. Es sei nicht sichergestellt, dass die Mutter der Klägerin solche Arbeit finden könne. Auch die Wohnungssuche und Versorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln sei durch die Corona-Beschränkungen erschwert. Die Mutter der Klägerin habe in Eritrea oder Äthiopien auch nie eine eigene Lebensstellung, geschweige denn Grundbesitz innegehabt. Nachdem die Mutter der Klägerin Eritrea als „Baby“ verlassen habe, habe sie keinerlei Kenntnisse und Erfahrungen über eine selbstständige Lebensführung in Eritrea oder Äthiopien. Erschwerend hinzu komme die humanitäre Situation in den jeweiligen Ländern. Eritrea sowie Äthiopien seien von der Heuschreckenplage 2020, der Corona Pandemie sowie der militärischen Auseinandersetzungen in Äthiopien betroffen. Es bestehe eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die militärischen Operationen in Äthiopien Auswirkungen in Eritrea haben werden. Es sei bekannt geworden, dass die eritreische Armee in Äthiopien im Tigray-Konflikt eingegriffen und eritreische Flüchtlinge aus Äthiopien deportiert habe. Es bestünden allgemeine Ausgangssperren, öffentliche Verkehrsmittel seien eingestellt, die Benutzung privater Pkw und Motorräder sei verboten. Alle Hotels und Gaststätten seien bis auf weiteres geschlossen. Es sei nicht mehr möglich, Gelegenheitsarbeiten zu finden, auch Felder könnten nicht mehr bewirtschaftet werden, Tagelöhner würden kein Geld mehr verdienen. Die Möglichkeit zur Wohnung und Arbeitssuche für Rückkehrer sei derart erschwert, dass diese sogar weitgehend unmöglich erscheint. Hierzu wird auf die Reise und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes zu Eritrea, Stand 14.01.2021 (Anlage K 5), einen Bericht auf spiegel.de (Konflikt in Äthiopien, „ich werde in die Berge gehen und mich den Kämpfern anschließen Anführungszeichen) vom 22.12.2020 (Anlage K 6), einen Bericht auf taz.de (Bürgerkrieg in Äthiopien: Tigray kommt nicht zur Ruhe) vom 10.01.2021 (Anlage K 7) verwiesen.
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Wenn das Gericht die Klägerin als äthiopischen Staatsangehörige ansehen würde, so wären auch für Äthiopien Abschiebungsverbote gegeben. Es läge ein außergewöhnlicher Einzelfall vor, aufgrund der humanitären Lage nach Dürre und Heuschreckenplage, Einschränkungen durch die Corona Pandemie sowie nunmehr durch den bewaffneten Konflikt, weshalb die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK erfüllt seien. Auch hier sei davon auszugehen, dass die alleinerziehende Mutter der Klägerin mit ihr und der Schwester zurückkehre. Die Mutter der Klägerin habe Äthiopien im Jugendalter verlassen. Ferner bestehe kein Kontakt zu Verwandten.
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Unstreitig sei, dass sich die humanitäre Situation in Äthiopien im vergangenen Jahr verschlechtert habe. Weiterhin sei die aktuelle politische und humanitäre Situation, hervorgerufen vor allem durch den sich ausweitenden Konflikt in der Region Tigray zu berücksichtigen. Es komme zu gewaltsamen Auseinandersetzungen in mehreren Landesteilen unter Beteiligung der Nachbarländer Sudan und Eritrea. Die Sicherheitslage wäre geprägt durch die gewaltsamen Auseinandersetzungen, die im Wesentlichen mit dem Konflikt in der Region Tigray begonnen hätten. Ende Oktober Anfang November 2020 sei es in der Region Tigray zu einem Massaker gekommen, bei dem Dutzende bis hunderte Menschen getötet worden seien. Es sei der Ausnahmezustand ausgerufen worden und seit 04.11.2020 Militäraktionen durchgeführt. Schließlich habe ein militärischer Einmarsch der Regierungstruppen, die am 28.11.2020 unter Bombardierungen und Artillerie die Hauptstadt der Region Mekele eingenommen hätten, stattgefunden. Es seien auch Raketenangriffe auf Eritrea erfolgt. Die Regierung habe angekündigt, dass Mitglieder der TPLF verfolgt würden, die wiederum nicht aufgeben wollten. Die humanitäre Situation in Tigray sei katastrophal. Ein stabiler Zugang für Hilfslieferungen sei nicht geschaffen. Unklar sei, ob Zivilisten Opfer des Einmarsches sein. Es sei am 08.12.2020 gemeldet worden, dass Mitarbeiter der UNO beschossen und festgenommen worden sein. Der Konflikt habe sich in weiten Teilen des Landes ausgebreitet. Ende Dezember 2020 seien bei gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Region Benishangul-Gumuz mehr als 200 Menschen getötet worden. Die Lage sei sehr volatil. Im November 2020 seien bei neuerlichen Auseinandersetzungen in Konso über 60 Menschen getötet worden. Auch die Hauptstadt Addis Abeba war zuletzt im Juli 2020 von Ausschreitungen betroffen. Die ursprünglich für den 29.08.2020 geplanten Parlamentswahlen sollen am 05.06.2021 stattfinden, womit eine Volatilitätssicherheitslage im gesamten Land einhergehe. Die bewaffneten Auseinandersetzungen im Grenzgebiet zwischen Benishangul-Gumul und Oromia würden andauern. Die Grenzgebiete der Oromo- und Somali-Regionen seien wiederholt von gewaltsamen und teilweise tödlichen Zusammenstößen beider Volksgruppen geprägt. In den letzten Wochen sei es im Grenzgebiet zum Sudan zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der äthiopischen Armee und lokalen Sicherheitskräften mit sudanesischen Streitkräften und lokalen Sicherheitskräften gekommen. Auch im Grenzgebiet zu Kenia, rund um Moyale, gebe es immer wieder gewaltsame Zusammenstöße zwischen Volksgruppen. Der Konflikt weite sich auf die Nachbarländer Sudan und Eritrea aus. Derzeit sei ein großer Teil des Landes von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen, die Lage würde als volatil bezeichnet. Die Stabilität des Landes sei gefährdet, ein Krieg würde drohen. Wegen der Auswirkungen und Gefahren durch den Bürgerkrieg, die sich häufenden Anschläge durch Rebellen und durch gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten Sicherheitskräften, die auch die Hauptstadt Addis Abeba erfassen würden, seien die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes gegeben. Es komme auf absehbare Zeit kein Frieden in Betracht. Sowohl Regierung als auch Anhänger der TPLF würden bestätigen, nicht aufzugeben und ihre Gegner zu jagen. Es sei mit Guerillakämpfen im ganzen Land zu rechnen. Die International Crisis Group schätze den Konflikt in Äthiopien im Vergleich mit den zehn gefährlichsten Krisenherden für das Jahr 2021 an zweiter Stelle hinter Afghanistan ein. Die Zahl der Menschen, die auf Unterstützung durch die Welthungerhilfe angewiesen seien, werde nach Eskalation des Konfliktes auf ca. 1,6 Millionen Menschen geschätzt. Der UNHCR gehe von ca. 2 Millionen Binnenflüchtlingen aus. Es bestehe ein hoher Bedarf an humanitärer Versorgung im Rahmen der Dürrehilfe und Abhilfe gegen die Heuschreckenplage mit einem Volumen von einer Milliarde USD. Darüber hinaus seien sieben Millionen Menschen auf ein staatliches Sozialprogramm zur Ernährungssicherung angewiesen. Sozialleistungen würden nicht erbracht. Rückkehrer könnten nicht mit staatlicher Unterstützung rechnen. Die Zustände in den Flüchtlingslagern in Äthiopien seien prekär. Hierzu wird auf die Reiseund Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes, Stand 15.01.2021 (Anlage K 8), einen Bericht auf faz.net (Christian Meyer, „Konflikt in Äthiopien: ein Etappensieg für Abiy Ahmed“; abgerufen am 09.12.2020) vom 29.11.2020 (Anlage K 9), einen Videobericht auf zdf.de („Äthiopiens Armee nimmt Tigrays Hauptstadt ein“), Nachrichten vom 28.11.2020, einem Kurzbericht auf zdf.de („Offensive gestartet - Äthiopiens Armee nimmt Tigrays Hauptstadt ein“) Nachrichten vom 28.11.2020 (Anlage K 10), einen Bericht auf Spiegel-Online („Krisenprognose 2021: die 10 gefährlichsten Konflikte der Welt“) vom 31.12.2020 (Anlage K 11), einem Bericht auf Spiegel-Online („So dramatisch ist die Lage in Tigray“) vom 22.11.2020, abgerufen am 09.12.2020 (Anlage K 12), einen Bericht auf Spiegel-Online („Humanitäre Katastrophe in Äthiopien - Verzweiflung in Tigray“) vom 20.11.2020 (Anlage K 13) verwiesen.
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Das Gericht führe keine aktuellen Quellen in seiner Auskunftsliste, die sich mit der humanitären und politischen bzw. Sicherheits-Situation in Äthiopien beschäftigen würden. Es dürfte somit keine Kenntnis haben, wie sich die Situation in diesem Land aktuell darstelle. Somit sei ein gerichtliches Sachverständigengutachten bzw. eine Auskunft des Auswärtigen Amtes zur gegenwärtigen Situation und abschiebungsrelevanten Lage einzuholen.
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Die Bevollmächtigte der Klägerin führt mit weiterem Schriftsatz vom 25.02.2021 zur Klage aus, dass die Zugehörigkeit zum eritreischen Volk der Tigrinya für die Klägerin identitätsprägende Bedeutung habe. Die Familie spreche teilweise für sich auch eritreisch. Sie hätten sich eng mit einer eritreischen Geflüchteten angefreundet. Diese habe quasi die Stellung einer Großmutter für die Klägerin eingenommen. Bei dieser Frau handele es sich um eine eritreische Staatsangehörige tigrinischer Volkszugehörigkeit. Diese spreche nur Tigrinisch. Die Kinder würden ansatzweise Tigrinisch lernen.
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Die Situation in der Region Tigray und deren Auswirkungen auf das gesamte Land seien fachkundig nicht bewertet und eingeschätzt. Vor allem liege eine Auskunft oder Einschätzung des Auswärtigen Amtes oder eines Gutachters nicht vor. Die angegebenen Dokumente dürften dem Gericht keine ausreichende Sachkunde zur Beurteilung der Rückkehrsituation für die Familie vermitteln. Das Auswärtige Amt bewerte die aktuelle Lage in Äthiopien im Rahmen eines „ad hoc-Papieres“ neu, das aktuell in Abstimmung sei. Offenbar liege dieses noch nicht vor, sei jedenfalls nicht der Auskunftsliste des Gerichts zu entnehmen. Seit Beginn des militärischen Konflikts in Tigray seien ca. 222.000 Menschen zusätzlich auf der Flucht, was die humanitäre Situation weiter verschlechtere. Weiter werde ein Bericht auf Spiegel online („Krieg in Äthiopien; Hunderttausende könnten verhungern) vom 24.01.2021 (Anlage K 15) dem klägerischen Vortrag zu eigen gemacht. Weiter verweist die Klägerin hierzu auf die BT-Drucks. 19/25423, S. 2, 14, 15 (Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke u.a. und der Fraktion DIE LINKE; Abschiebungen nach Äthiopien) vom 19.01.2021 (Anlage K 14), sowie einen ARD-Beitrag auf Tagesschau.de (Konflikt in Tigray: Atmosphäre „völliger Rachsucht“) vom 9. 2. 2021 (Anlage K 16). Vor diesem Hintergrund beantragt die Bevollmächtigte der Klägerin eine amtliche Auskunft des Auswärtigen Amtes, Werderscher Martk 1, ... B2., einzuholen, zum Beweis der Tatsache,
1. dass in Äthiopien ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.d. Art. 15c der Qualifikationsrichtlinie vorliegt, d. h. dass eine Situation gegeben ist, in der die regulären Streitkräfte Äthiopiens auf die TPLF als bewaffnete Gruppe treffen,
2. dass im Rahmen dieses Konflikts in Äthiopien willkürliche Gewalt durch Massaker, Tötungen, Plünderungen, Zurückhaltung humanitärer Hilfe, gegen die Zivilbevölkerung angewendet wird und der Grad der Gewalt ein zu hohes Niveau erreicht, dass die Kläger als Zivilpersonen bei der Rückkehr nach Äthiopien allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein,
3. dass durch die willkürliche Gewalt im Rahmen dieses innerstaatlichen bewaffneten Konflikts eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Kläger besteht, wenn sie nach Äthiopien zurückkehren würden,
4. dass für die Kläger in keinem Teil Äthiopiens keine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens besteht oder sie Zugang zu Schutz vor einem ernsthaften Schaden haben und auch nicht sicher und legal in diesen Landesteil reisen können, dort aufgenommen werden und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie sich dort niederlassen.
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Zur Begründung der Beweisanträge, die die Bevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung vom 15.03.2021 unter der Bedingung der Entscheidungserheblichkeit wiederholte wird auf den Schriftsatz vom 25.02.2021 sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
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Mit Schriftsatz vom 10.03.2021 führt die Bevollmächtigte der Klägerin weiter aus, dass die Entscheidung des OVG NW vom 29.06.2020 (Az. 19 A 1420/19.A) so zu verstehen sei, dass gerade ein aktives Ausüben der Rechte eritreischer Staatsangehöriger i.S. eines „voluntativen Elements“ nicht mehr verlangt werde. Vielmehr genüge der Aufenthalt im Staatsgebiet Eritreas nach der Unabhängigkeit, um von einem Ausüben der Rechte und damit von einem Verlusttatbestand auszugehen. Ein Wohnsitz bzw. gewöhnlicher Aufenthalt in Eritrea müsse genügen. Der vom Bundesamt angeführte Beschluss des OVG NW vom 16.12.2020 (Az. 19 A 555/19.A) könne als Zusammenfassung der o.g. Entscheidung keine weitergehenden Erkenntnisse liefern. Vor diesem Hintergrund beantragt die Bevollmächtigte des Klägers durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Herrn …, …, …, Beweis zu erheben zu der Frage, dass
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1. Art. 20 Abs. 3 lit. a) des äthiopischen Staatsangehörigkeitengesetzes, das am 23.12.2003 in Kraft getreten ist, in der äthiopischen Rechtspraxis dahingehend angewendet wurde, dass Personen, die am … auf dem Gebiet Eritreas geboren wurden als eritreische Staatsangehörige eingeordnet wurden und die äthiopische Staatsangehörigkeit nicht erhalten haben.
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2. Art. 20 Abs. 3 lit. a) des äthiopischen Staatsangehörigkeitengesetzes, das am 23.12.2003 in Kraft getreten ist, in der äthiopischen Rechtspraxis dahingehend angewendet wurde, dass ein Kind, das am … auf dem Gebiet Eritreas geboren wurde, ca. im Jahr 1998/1999 mit einem Elternteil nach Äthiopien ausreiste und dort seinen Wohnsitz begründete, der Elternteil dann verstarb und das Kind in einer äthiopischen Pflegefamilie lebte und 2012 aus Äthiopien floh, ohne eine eritreische Identitätskarte beantragt oder erhalten zu haben, und ohne einen äthiopischen Pass erhalten zu haben, ausschließlich die eritreische Staatsangehörigkeit innehat.
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3. Art. 20 Abs. 3 lit. a) des äthiopischen Staatsangehörigkeitengesetzes, das am 23.12.2003 in Kraft getreten ist, in der äthiopischen Rechtspraxis dahingehend angewendet wurde, dass eine Person, die am … auf dem Gebiet Eritreas von eritreisch-stämmigen Eltern geboren wurde und in diesem Gebiet bis zum Jahr 1994 lebte, 1994 mit seiner Mutter in das Staatsgebiet Äthiopiens einreiste und dort einen Wohnsitz begründete und ca. 2004 in den Sudan geflohen ist, die äthiopische Staatsangehörigkeit verloren und die eritreische Staatsangehörigkeit erworben hat.
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4. Art. 20 Abs. 3 lit. a) des äthiopischen Staatsangehörigkeitengesetzes, das am 23.12.2003 in Kraft getreten ist, in der äthiopischen Rechtspraxis dahingehend ausgelegt wurde, dass allein der gewöhnliche Aufenthalt auf dem Gebiet Eritreas nach dem 24.05.1993 das Ausüben der Rechte der eritreischen Staatsangehörigkeit bedeutet hat und dies zum Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit führte.
38
Zur Begründung der Beweisanträge, die die Bevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung vom 15.03.2021 unter der Bedingung der Entscheidungserheblichkeit wiederholte wird auf den Schriftsatz vom 11.03.2021 sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
39
Weiter werde auf die exilpolitische Tätigkeit des Vaters der Klägerin Bezug genommen und auf das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21.03.2007 verwiesen, nach der für Mitglieder der ENFS auch in nur untergeordneter Rolle in der Partei die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben seien. Der Vater der Klägerin sei Mitglied der ENFS, wie aus dem vorgelegten Mitgliedsausweis hervorgehe.
40
Nach den jüngsten Angaben des Auswärtigen Amtes vom 10.02.2021 sei von einer landesweiten Verfolgung bzw. Eintritts eines ernsthaften Schadens in Äthiopien auszugehen. Die Beklagtenseite erkenne einen bewaffneten Konflikt in Tigray an. Eine landesweite Gefahr werde allerdings verneint, obwohl sich aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 10.02.2021 (S. 18 f.) ein anderes Bild ergebe. Hier werde von Diskriminierung, Einschüchterung und Verhaftungen von Personen mit tigrinischer Herkunft berichtet, sowohl in Tigray als auch in anderen Landesteilen wie Addis Abeba. Die Angaben des Auswärtigen Amtes gäben keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei den Maßnahmen gegen Tigriner um Einzelfälle handele.
41
Auch bei einer Rückkehr nach Eritrea könne die Klägerin mit ihrer Familie den Lebensunterhalt nicht sichern. Nach den aktuellen Auskünften müsse der Vater der Klägerin Nationaldienst leisten. Die Bezahlung der Wehrdienstleistenden sei in der Regel zu schlecht, um ihnen die Versorgung ihrer Familien zu ermöglichen.
42
Abschließend sei festzuhalten, dass bei einer Rückkehr nach Äthiopien für eine vierköpfige Familie, darunter zwei Kleinkinder, im Äthiopien von heute, das auf UN-Hilfslieferungen für die Provinz Tigray angewiesen ist, ohne jeglichen familiären Rückhalt nicht möglich sei, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu erwirtschaften. Dass sich der Vater der Klägerin im Sudan vor Jahren mit Müh und Not „durschlagen“ konnte, könne nicht als Beleg dafür angesehen werden, dass dies auch in Äthiopien als Land mit innerstaatlichem bewaffneten Konflikt und unter Einfluss der Corona-Pandemie gelingen könnte. Die humanitäre Situation von heute sei nicht mit der Lage im Sudan von 2015 zu vergleichen, als es noch keine Coronavirus-Krise und keine Heuschreckenplage gegeben habe.
43
Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 07.10.2019 die Klage abzuweisen.
44
Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
45
Die Beklagte hält mit Schriftsatz vom 19.01.2021 an der Auffassung fest, dass die Klägerin die äthiopische Staatsangehörigkeit habe, da sowohl Mutter als auch Vater äthiopische Staatsangehörige seien. Nach äthiopischen Staatsangehörigkeitsrecht erhalte ein Kind die äthiopische Staatsangehörigkeit, sobald ein Elternteil äthiopischer Staatsangehöriger ist. Ein Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit mit der Entstehung des Staates Eritrea mit Wirkung vom 24. Mai 1993 durch vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die nach dem 24. Mai 1993 aus dem Gebiet des neu entstandenen Staates Eritrea erstmals in das Gebiet der heutigen Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien umsiedelten, ließ deren durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit unberührt. Die habe auch für Personen gegolten, die wie der Vater der Klägerin (1994) und die Mutter der Klägerin (1999) nach dem 24. Mai 1993 aus dem Gebiet des neu entstandenen Staates Eritrea erstmals in das Gebiet der heutigen Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien umsiedelten. Diese Personen würden problemlos eine äthiopische Identitätskarte und oft auch einen äthiopischen Pass erhalten. Sie seien jedenfalls bis zum Ausbruch des Grenzkrieges im Mai 1998 als äthiopische Staatsbürger behandelt worden. Auch unter Geltung des am 23. Dezember 2003 in Kraft getretenen Art. 20 Abs. 3 äthStAG und der Direktive vom 19. Januar 2004 hätten sie ihre äthiopische Staatsangehörigkeit regelmäßig behalten, es sei denn, sie hätten eine ihnen etwa zuerkannte eritreische Staatsangehörigkeit durch einen Daueraufenthalt in Eritrea oder in sonstiger Weise aktiv ausgeübt. Ein Aufenthalt der (Groß-)Eltern der Klägerin in Eritrea in der Zeit von 1994 bzw. 1999 ließe grundsätzlich deren äthiopische Staatsangehörigkeit unberührt, da keine Anhaltspunkte ersichtlich seien, dass die (Groß-)Eltern der Klägerin die Ausstellung einer eritreischen Identitätskarte oder die Feststellung der eritreischen Staatsangehörigkeit durch Geldspenden oder sonstige vergleichbare Handlungen ausgeübt hätten. Von dem Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit sei daher vorliegend nicht auszugehen.
46
Es komme auch eine Abschiebung nach Äthiopien in Betracht. Es sei bei einer Rückkehrprognose mit der Mutter, dem Vater und der jüngeren Schwester der Klägerin davon auszugehen, dass es der Familie gelinge, sich bei der Rückkehr in das Heimatland zumindest ein Existenzminimum zu sichern. Zudem werde auf die Ausführungen dazu im Verfahren der Mutter (B 8 K 18.303658, dort mit Schriftsatz vom 19.01.2021) verwiesen.
47
Mit Schriftsatz vom 26.02.2021 führt die Beklagte weiter aus, dass aufgrund der Zugehörigkeit zu der Volksgruppe der Tigray der Klägerin vor dem Hintergrund, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Region Tigray ein bewaffneter Konflikt der äthiopischen Regierung mit der Volksbefreiungsfront von Tigray stattfinde, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweite Verfolgungsgefahr drohe. Der Klägerin und ihren amharischsprachigen Eltern stehe interner Schutz in den amharischsprachigen Landesteilen zur Verfügung. Es könne vernünftigerweise erwartet werden, dass sie sich z.B. in Addis Abeba niederlassen. Aufgrund des Konfliktes sei die Klägerin derzeit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer landesweiten Gefahr ausgesetzt. Eine etwaige diskriminierende Gesetzgebung oder Verwaltungspraxis sei nicht feststellbar. Auch bei Unterstellung einzelner Übergriffe auf tigrinische Volkszugehörige bestehe zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine beachtliche Wahrscheinlichkeit entsprechender landesweiter Verfolgungshandlungen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass von dem Konflikt im Norden des Landes allgemein eine unmittelbare Bedrohung anderswo im Land lebender Äthiopier ausgeht, zumal wenn es sich - wie vorliegend - um eine andere Volksgruppe handelt. Insbesondere seien weder eine landesweite akute humanitäre Notsituation, noch exorbitant hohe zivile Opferzahlen aus der Erkenntnislage ersichtlich. Das allgemeine Gefahrenniveau außerhalb der betroffenen Regionen erreiche demnach nicht den für eine individuelle Gefährdung der Klägerin und ihrer Eltern notwendigen Grad. Die Gründung einer neuen wirtschaftlichen Existenz sei trotz des niedrigen Entwicklungsstands, der Schwierigkeit, Land zu erwerben sowie aufgrund ethnischer und sprachlicher Abgrenzungen, insbesondere in den größeren Städten möglich. Es existierten keine besonderen Umstände, die eine Sicherung des absoluten Existenzminimums in Äthiopien (z.B. Addis Abeba) unmöglich machen könnten. Die Eltern seien jung, gesund und erwerbsfähig, sie beherrschen auch die amharische Sprache. Insbesondere dem Vater der Klägerin könne zugemutet werden, eine Arbeit zu finden und zur Finanzierung des Existenzminimums beizutragen. Die Familie der Klägerin könne ihre Situation zusätzlich dadurch verbessern, dass sie Reise-, Start- und Reintegrationshilfen in Anspruch nehme. Eine Neubewertung der Lage in Äthiopien sei aktuell nicht erforderlich.
48
Die weiteren Ausführungen der Klägerin mit Schriftsatz vom 10.03.2021 enthielten aus Sicht der Beklagten gemäß ihrem Schriftsatz vom 11.03.2021 keine weiteren relevanten Ergänzungen.
49
Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 20.11.2020 wurde der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, § 76 Abs. 1 AsylG.
50
Mit gerichtlichen Schreiben vom 19.01.2021 erfolgte ein Hinweis, dass sich die Zuständigkeit der 8. Kammer aus der Geschäftsverteilung ergibt.
51
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen. Wegen des Ablaufs der mündlichen Verhandlung vom 15.03.2021 wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
Entscheidungsgründe
52
Die zulässige Klage, über die auch ohne einen Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO), hat keinen Erfolg.
53
Der Einzelrichter ist (nach Übertragung durch Beschluss vom 20.11.2020) als Mitglied der 8. Kammer des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth für die Entscheidung zuständig. Insbesondere ist ein von der Bevollmächtigten der Klägerin gerügter Fehler bei der Anwendung der gerichtlichen Geschäftsverteilung betreffend die (zur gemeinsamen mündlichen Verhandlung verbundenen) Verfahren von Frau … (B 8K18.30658), ihres Lebensgefährten Herrn … (B 8 K 19.31270) sowie deren gemeinsamen Töchter … (B 8K 19.31360) und … (B 8 K 19.31507) nicht ersichtlich. In allen genannten Verfahren wird jeweils die eritreische Herkunft behauptet. Gemäß Nr. 3.1 Buchst. l. der Geschäftsverteilung richtet sich die Verteilung staatenloser Asylbewerber und solcher mit ungeklärter Staatsangehörigkeit nach dem jeweiligen behaupteten Herkunftsland. Für asylrechtliche Streitverfahren von Ehegatten, von Geschwistern und Personen, die in gerader Linie verwandt sind, ist zudem die Kammer zuständig, bei der nach den Regelungen des Geschäftsverteilungsplans das älteste Verfahren der verwandten bzw. verheirateten Personen anhängig ist, vgl. Nr. 3.1 Buchst. k. der Geschäftsverteilung. Insofern waren alle der genannten, bis zum 31.12.2020 eingegangenen, Asylverfahren aus dem (behaupteten) Herkunftsland Eritrea der 8. Kammer zuzuteilen, (vgl. Geschäftsverteilung i.d.F. vom 20.12.2019). Auf die Übergangsvorschrift Nr. 3.2 Buchst. a der Geschäftsverteilung (i.d.F. vom 16.12.2020) wird hingewiesen.
54
Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG (s. 1.1). Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG sind ebenfalls nicht gegeben (s. 1.2). Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (s. 1.3). Die Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind nicht zu beanstanden (s. 1.4 u. 1.5). Die Voraussetzungen zur Gewährung von Asylrecht im Wesentlichen die Gleichen wie zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, so dass auf die Ausführungen hierzu Bezug genommen werden kann (s. 1.1).
55
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG liegen nicht vor.
56
In der Sache schließt sich das Gericht zunächst im Wesentlichen den Gründen des angefochtenen Bescheides an und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist zur Sache sowie zur Klage das Folgende auszuführen:
57
Es ist nicht zu beanstanden, dass die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Hinblick auf Äthiopien als Herkunftsland der Klägerin geprüft und verneint hat, da sowohl die Mutter der Klägerin, Frau …, dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, ohne eine andere Staatsangehörigkeit glaubhaft machen zu können (vgl. die Feststellungen in der Entscheidung zum Verfahren B 8 18.30658, insb. u. 1.1.2) und der Vater der Klägerin, Herr … als äthiopischer Staatsangehöriger anzusehen ist (vgl. dazu die Feststellungen in der Entscheidung zum Verfahren B 8 K 19.31270, insb. u. 1.1.2). Hierbei ist auf die Ausführungen im dortigen Verfahren, insbesondere auch zur Ablehnung der Beweisanträge der Bevollmächtigten der Klägerin entsprechend zu verweisen. Das äthiopische Recht betreffend die Staatsangehörigkeit stellt auf das Abstammungsprinzip ab (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Äthiopien, vom 24.04.2020 in der Fassung vom 10.02.2021, S. 26; s.a. OVG NW, a.a.O. Rn. 34 mit weiteren Nachweisen).
58
Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass der Klägerin in Äthiopien keine Gefahr der geschlechtsspezifischen Verfolgung in Form der Genitalverstümmelung droht. Hierzu kann zunächst auf die zutreffenden Ausführungen der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid verwiesen werden. Es sei zunächst anzumerken, dass weder Vater noch Mutter in der mündlichen Verhandlung vom 15.03.2021 auch auf konkrete Nachfrage des Gerichts zu ihren Kindern überhaupt befürchteten, ihnen würde bei einer Rückkehr die Beschneidung drohen. Nach den Angaben der Eltern im behördlichen Verfahren seien diese selbst Gegner der Beschneidungspraxis (Bl. 62 ff. d. Akten). Die Mutter, die selbst beschnitten ist, wies auf die damit einhergehenden Probleme und den Verlust eines Teils des Körpers hin. Die Mutter befürchtet bezüglich der Beschneidung Druck der Gemeinde, einer ethnischen Gruppe im Süden Äthiopiens. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Eltern der Klägerin diesem Druck nachgeben müssten, zumal die Mutter nach eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung diesen Ort im Alter von sieben Jahren verlassen hat und anschließend in Addis Adeba lebte und weiter aufwuchs. Anders als im Fall der Mutter, die nach eigenen Angaben keine Eltern mehr hatte, kann die Klägerin auf den Schutz ihrer Eltern zurückgreifen.
59
Soweit die Eltern überhaupt noch Druck aufgrund der kulturellen Bedeutung der Beschneidung seitens „der Gesellschaft“ befürchten, ist darauf hinzuweisen, dass die Neubeschneidungsrate in Äthiopien seit Jahren stetig rückläufig ist und der Großteil der Kinder heute nicht mehr beschnitten wird, auch wenn der subjektive Eindruck der Eltern ein anderer sein mag. Wie sich aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24.04.2020 ergibt, erfolgt eine Beschneidung inzwischen bei der überwiegenden Anzahl von Mädchen nicht mehr. Seit der Reformierung des Strafgesetzbuches 2005 ist die Genitalverstümmelung gemäß Art. 565 mit Geldstrafe ab 500 Birr (ca. 15 EUR) oder mit mindestens dreimonatiger, in besonders schweren Fällen mit bis zu zehn Jahren Gefängnisstrafe, bedroht. Diese Norm bleibt auch nicht unangewendet. Vielmehr wurde bereits in einem Bericht aus dem Jahr 2008 betreffend ein Projekt zur Überwindung der weiblichen Genitalverstümmelung ausgeführt, dass es zu Verurteilungen zu nicht unempfindlichen Gefängnisstrafen gekommen ist (vgl. GTZ, Überregionales Projekt v. 2/2008, S. 6 - 8). In den Jahren 2015 bis 2018 seien insgesamt 293 Festnahmen erfolgt, 85 Fälle seien vor Gericht gebracht worden (Accord, Anfragebeantwortung FGM, 30.03.2020). Strafbar ist gem. Art. 569 des äthiopischen Strafgesetzbuches auch die Mitwirkung von Eltern oder anderen Personen an der Beauftragung der Beschneidung. Inzwischen werden, wie sich aus den eingeführten Erkenntnismitteln ergibt, auf Gesamtäthiopien gesehen noch ca. 25 - 40% der Mädchen neu beschnitten. Es besteht zwar nach wie vor ein starker Unterschied zwischen städtischen und ländlichen Gebieten. Auch auf dem Land liegt die Quote allerdings „nur noch“ bei ca. 68% (vgl. Accord, Anfragebeantwortung FGM, 30.03.2020). Die Zahlen sind dabei seit Jahren stark rückläufig, sowohl was die Neubeschneidungsrate, als auch was die Zustimmungsrate unter den Frauen und Mädchen zur Beschneidung betrifft. Im Jahr 2017 waren bereits 79% der Frauen und 87% der Männer der Ansicht, dass FGM nicht weiter praktiziert werden solle. Die Zustimmungsrate sank unter den Frauen von 31% im Jahr 2005 auf 18% im Jahr 2016. Wenn in machen Quellen höhere Prozentangaben für den Anteil derzeit beschnittener Frauen angegeben werden, sind diese für eine hier notwendige prognostische Betrachtung nicht brauchbar, soweit darin auch ältere Frauen in die Betrachtung einbezogen werden, bei denen die Beschneidung bereits viele Jahre zurückliegt. Solche Zahlenangaben berücksichtigen namentlich nicht den in Äthiopien eingeleiteten und weiter fortschreitenden Einstellungswandel in nicht unbeträchtlichen Kreisen der Bevölkerung. Die Bemühungen von Nichtregierungsorganisationen, aber auch des äthiopischen Staates zeigen hier deutliche Erfolge (vgl. AA, Lagebericht v. 24.4.2020). Mit einer Trendwende ist diesbezüglich wohl nicht zu rechnen. Vielmehr hat die äthiopische Regierung sich zum Ziel gesetzt, die Beschneidungspraxis bis 2025 vollständig zu beenden. Auch wenn dieses Ziel ambitioniert sein mag, ist doch ersichtlich, dass sich die - jetzt schon nicht ausweglose - Lage aller Voraussicht nach weiter verbessern wird, bis die Klägerin das Alter erreicht, in dem die Beschneidung spätestens durchgeführt wird. Zudem ist es den Eltern der Klägerin durchaus gut möglich, nach Addis Abeba zu ziehen, wo die Mutter bereits gelebt hat. In dieser Großstadt sind die Beschneidungsraten deutlich niedriger als in den ländlichen Regionen, weshalb auch ein relevanter gesellschaftlicher Druck nicht zu erwarten steht.
60
Der Klägerin droht in Äthiopien insbesondere auch keine Gruppenverfolgung, sofern man ihr überhaupt eine eritreische Abstammung unterstellen würde, was allerdings infolge der unglaubhaften Einlassungen ihrer Eltern auch für die Klägerin nicht angenommen werden kann (s.o.; hierzu wird entsprechend auf die Entscheidungen im Verfahren B 8 18.30658 und B 8 K 19.31270 verwiesen).
61
Eine staatliche oder staatlicherseits geduldete Diskriminierung eritreischstämmiger Personen in Äthiopien im Sinne einer Gruppenverfolgung ist unter Zugrundelegung der gegenwärtigen Auskunftslage nicht ersichtlich. Im Grenzkonflikt zwischen Äthiopien und Eritrea ist es zwar zu zahlreichen Deportationen äthiopischer Staatsangehöriger eritreischer oder halberitreischer Abstammung gekommen, aktuell werden eritreischstämmige Flüchtlinge jedoch nicht mehr gegen ihren Willen zurückgeführt. Es sind auch keine anderen Formen von Diskriminierung zu befürchten (vgl. VG Arnsberg, Urteil vom 24.10.2014, Az.: 12 K 1874/13.A; VG München, Urteil vom 16.12.2012; Az.: M 12 K 12.30504; VG Bayreuth, Urteil vom 27.03.2012; Az.: B 3 K 11.30150; VG Regensburg, Urteil vom 17.11.2011, Az.: RO 7 K 11.30005; VG Kassel, Urteil vom 25.08.2011; G-Nr. 1 K 930/10.KS.A; VG Wiesbaden, Urteil vom 21.07.2010, Az.: 5 K 1381/09.WI.A; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Sigmaringen vom 16.06.2009). Sachkundige Beobachter weisen vielmehr darauf hin, dass sich die Situation für die in Äthiopien lebenden Personen eritreischer Herkunft deutlich verbessert habe und in der Praxis viele der vorherigen Einschränkungen im Hinblick auf Wohnsitznahme, Eigentum, Arbeitsaufnahme und Ausbildung nicht mehr bestehen. Im Hinblick auf die angespannte Lage im Nachbarland flüchten zahlreiche Eritreer nach Äthiopien, um sich der Unterdrückung im eigenen Land zu entziehen; sie sind in Äthiopien willkommen, weil dies propagandistisch gegen die eritreische Regierung ausgewertet werden kann. Äthiopien verfolgt eine Politik der offenen Tür und nimmt Flüchtlinge aus den Nachbarländern in der Regel ohne weitergehende Prüfung auf (vgl. Lagebericht Äthiopien des Auswärtigen Amtes vom 22.03.2018, S. 22). Angesichts der Vielzahl von damals wie heute in Äthiopien lebenden eritreisch stämmigen Personen gibt es keinen nachvollziehbaren Grund für die Annahme, in Äthiopien wegen einer eritreischen Abstammung diskriminiert zu werden. Dass der Kläger in Äthiopien eine Verfolgungsgefahr zu befürchten hätte, steht auch deshalb nicht zu befürchten, da er und seine Mutter auch über die Jahre des Grenzkrieges hinaus ohne erhebliche Diskriminierungen aufhalten konnten und diese anscheinend auch nicht der Anlass der Ausreise des Klägers im Jahr 2004 gewesen sind.
62
Die derzeitige Auskunftslage unter Berücksichtigung der von der Bevollmächtigten der Klägerin vorgelegten medialen Berichterstattung legt keine stichhaltigen Anhaltspunkte nahe, die ein belastbares Maß an Diskriminierungen in ganz Äthiopien erkennen lassen würden, um von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr auszugehen. Im Falle der Rückkehr der Klägerin und ihrer Familie nach Äthiopien ist jedenfalls eine Niederlassung in der Tigray-Region nicht zu Grunde zu legen, da ihre Eltern schon nach deren Angaben nicht von dort stammen.
63
Auch subsidiärer Schutz kommt im Falle der Klägerin in Äthiopien nicht in Betracht. Hierzu wird auf die zutreffende Begründung im Bescheid verwiesen, § 77 Abs. 2 AsylG.
64
Die § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 und 2 AsylG sind nicht erfüllt. Es ist weder ersichtlich, dass vorliegend die Todesstrafe verhängt wurde, noch ist die Gefahr eines ernsthaften Schadens durch Folter, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung gegeben.
65
Es ist insbesondere auch kein Fall des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG gegeben. Hierfür müsste eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gegeben sein. Ein solcher ist hinsichtlich Äthiopien nicht ersichtlich.
66
Die aktuellen Unruhen in der Tigray-Region (vgl. die von der Klägerbevollmächtigten und dem Gericht eingeführten Erkenntnismittel, z.B. https://www.tagesschau.de/ausland/aethiopien-unhcr-tigray-101.html) führen nicht dazu, dass die Beklagte verpflichtet wäre, der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Dabei wird nicht verkannt, dass die aktuelle Lage in Äthiopien gerade in jener Region durchaus fragil erscheint, wenngleich es dafür, dass die Schwelle des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG dort oder gar landesweit erfüllt wäre, keine belastbaren Anhaltspunkte gibt. Im Falle der Rückkehr der Klägerin ist eine Niederlassung in der Tigray-Region sehr unwahrscheinlich, weil dies nicht die Herkunftsregion der Klägerin oder ihres Lebensgefährten ist. Es sind - entgegen der Angaben der Klägerbevollmächtigten - keine stichhaltigen Anhaltspunkte ersichtlich, dass sich etwaige lokale Gefahren infolge der Unruhen in der Tigray-Region derart auf das gesamte Gebiet Äthiopiens ausgestrahlt hätten, dass von einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Klägerin oder ihrer Familie im Falle einer Rückkehr z.B. in Addis Abeba auszugehen wäre. Nichts Anderes ergibt sich vor dem Hintergrund der „Ad hoc“ aktualisierten Fassung des Berichts des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien vom 24.04.2020 in der Fassung vom 10.02.2021 hinsichtlich der aktuellen Lage in der Tigray-Region (Ziff. II. 4 des Lageberichts). Daraus wird eine nunmehr zeitweise militärische Eskalation eines Konflikts zwischen der äthiopischen Regierung und der ehemaligen Regionalregierung der Volksbefreiungsfront in Tigray (TPLF) von Anfang November 2020 bis zur Einnahme der Regionalhauptstadt Mekelle Ende November 2020 ersichtlich. Es kann offenbleiben, inwiefern „bestätigte Berichte“ ein gewichtiges Maß an Einschränkungen der im gesamten Land lebenden Äthiopier tigrinischer Abstammung im Zuge der zeitweisen Eskalation mit sich gebracht hätten. Inzwischen scheinen auch solche Berichte „abgeebbt“ und nicht mehr „prävalent“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 18 f.).
67
Die in diesem Zusammenhang von der Bevollmächtigten der Klägerin gestellten Beweisanträge (vgl. Ziff. 1-4 der zweiten Beweisantragsreihe im Protokoll der mündlichen Verhandlung; s.a. entsprechend im Schriftsatz der Klägerin vom 25.02.2021, S. 4) sind abzulehnen:
68
Der Beweisantrag zu Ziff. 1 zielt zum einen auf die Auslegung einer Rechtsfrage ab und ist schon deshalb unzulässig. Die Frage des Vorliegens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (im Sinne von Art. 15c der Qualifikationsrichtlinie) hat das Gericht als rechtliche Voraussetzung zum Vorliegen subsidiären Schutzes selbst zu bewerten und ist als solche dem Beweis nicht zugänglich. Im Übrigen kann dahinstehen, ob infolge der Unruhen in der Tigray-Region in Äthiopien von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt im Sinne von § 4 AsylG auszugehen wäre. Im Falle der Rückkehr der Familie ist eine Niederlassung in der Tigray-Region nicht zu Grunde zu legen, da sie schon nach eigenen Angaben nicht von dort stammen. Dabei kann unterstellt werden, dass - wie die Bevollmächtigte der Klägerin in ihrem zweiten Teil des Beweisantrags nach Ziffer 1 begutachtet haben will - in der Tigray-Region bewaffnete Regierungstruppen auf Anhänger der TPLF getroffen sind, selbst wenn man diesen Beweisantrag überhaupt für substantiiert halten würde, wovon das Gericht nicht überzeugt ist. Die Auskunftslage deutet darauf hin, dass der im November 2020 aufgekeimte Konflikt der Regierung Äthiopiens als militärische „Eskalation“ zu verstehen ist. Die Militäroperation wurde nach Einnahme der Regionalhauptstadt Mekelle am 28.11.2020 nach deren Aussagen für beendet erklärt. Dabei wird nicht verkannt, dass Berichten zufolge Kämpfe in geringerer Intensität noch fortgeführt werden (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 18 f.). Dadurch werden aber keine stichhaltigen Anhaltspunkte ersichtlich, dass auf dieser Basis ein Sachverhalt anzunehmen wäre, der die Intensität eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in dieser Region erreichen würde. Erst recht ergeben sich aus der Auskunftslage auch unter Berücksichtigung des Vortrags der Klägerbevollmächtigten keine belastbaren Anhaltspunkte für eine im Rahmen des § 4 AsylG beachtliche landesweite Ausdehnung eines bewaffneten Konflikts.
69
Der Beweisantrag zu Ziffer 2 ist als unsubstantiiert abzulehnen. Die derzeitige Auskunftslage unter Berücksichtigung der von der Klägerbevollmächtigten vorgelegten medialen Berichterstattung legt keine stichhaltigen Anhaltspunkte nahe, die ein belastbares Maß an willkürlicher Gewalt durch Massaker, Tötungen, Plünderungen, Zurückhaltung humanitärer Hilfe gegen die Zivilbevölkerung in Äthiopien erreichen würden. Es kann offenbleiben, inwiefern „bestätigte Berichte“ ein gewichtiges Maß an Einschränkungen der im gesamten Land lebenden Äthiopier tigrinischer Abstammung im Zuge der vorübergegangenen militärischen Eskalation (s.o.) mit sich gebracht hätten. Inzwischen scheinen auch solche Berichte „abgeebbt“ und nicht mehr „prävalent“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 18 f.). Darüber hinaus würde ein solcher Beweisantrag auf eine unzulässige Ausforschung abzielen, da nicht hinreichend dargelegt wurde und auch sonst nichts darauf hindeutet, dass etwaig aufgezählte (Einzel-)Vorfälle ein gewichtiges landesweites Maß im Hinblick auf § 4 AsylG überhaupt erreichen könnten. Die Bevollmächtigte kann auch nicht hinreichend darlegen, inwiefern die aktuelle Auskunftslage nicht ausreichen würde, um die rechtliche Frage der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu beantworten.
70
Der Beweisantrag zu Ziffer 3 ist unzulässig. Er betrifft Rechtsfragen, die das Gericht eigenständig zu bewerten hat und als solche der Beweiserhebung und damit auch einem Sachverständigengutachten nicht zugänglich sind. Inwiefern durch die willkürliche Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Kläger besteht, betrifft die unmittelbare Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.
71
Der Beweisantrag zu Ziffer 4 zielt auf die rechtliche Bewertung der „tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens“ i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG sowie einer „zumutbaren“, „sicher“ und „legal“ erreichbaren internen Schutzalternative i.S.v. § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG ab. Das Gericht hat auf Basis der Auskunftslage selbstständig rechtlich zu bewerten, inwiefern eine solche „Gefahr“ § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG vorliegt. Gleichermaßen handelt es sich um eine rechtliche Bewertung bei der Frage, ob ein Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes kein ernsthafter Schaden droht und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Diese Gesichtspunkte bilden im Grunde die rechtlichen Voraussetzungen des § 3e Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG ab. Der Beweisantrag ist schon deshalb unzulässig und zielt im Übrigen auf eine gleichsam unzulässige Ausforschung ab, da nicht hinreichend substantiiert vorgetragen wurde, auf welcher konkreten Tatsachenbasis von einer tatsächlichen Gefahr auszugehen wäre. Im Übrigen ist die Frage des § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG nicht entscheidungserheblich. Im Falle der Rückkehr der Klägerin ist von einer Niederlassung in der Tigray-Region nicht auszugehen, da weder ihre Mutter noch ihr Vater nach eigenen Angaben von dort stammen (s.o.), sodass sich die Frage einer inländischen Schutzalternative in dieser Form nicht stellt.
72
Abschiebungsverbote sind nicht ersichtlich.
73
Der Klägerin steht kein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG zu. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Insbesondere darf gemäß Art. 3 EMRK niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Bei der Prüfung eines Abschiebungsverbotes aus humanitären Gründen im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG ist ein „sehr hohes Niveau“ anzulegen und eine „besondere Ausnahmesituation“ erforderlich. Nur in „ganz außergewöhnlichen Fällen“, nämlich wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind, sind liegen bei den Voraussetzungen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG vor (BayVGH, U.v. 12.12.2019 - 8 B 19.31004 - juris m.w.N.; BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30284 - juris).
74
Gemessen daran ist bei der Klägerin auch ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Hinblick auf die gegenwärtig schwierigen humanitären Bedingungen in Äthiopien zu verneinen.
75
Es ist realitätsnah davon auszugehen, dass die minderjährige Klägerin zusammen mit ihren beiden Eltern und ihrer minderjährigen Schwester im Familienverband nach Äthiopien zurückkehren wird. Die beiden Eltern sind für den Fall ihrer hypothetischen Rückkehr nach Äthiopien auf den Einsatz ihrer Arbeitskraft zu verweisen, wobei sie sich in Sachen Kinderbetreuung gegenseitig ergänzen und unterstützen können. Der in Äthiopien aufgewachsene Vater der beiden minderjährigen Kinder ist gesund und arbeitsfähig; hierzu wird entsprechend auf die Entscheidung im Verfahren B 8 K 19.31270 (vgl. 1.3.1) verwiesen. Auch die in Äthiopien aufgewachsene Mutter ist gesund und arbeitsfähig; hierzu wird entsprechend auf die Entscheidung im Verfahren B 8 K 18.30658 (vgl. 1.3.1) verwiesen. In Äthiopien ist es möglich, selbst als alleinstehende Mutter einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Erwerbsmöglichkeiten bestehen grundsätzlich auch für Personen ohne abgeschlossene Schulbildung. Kinder werden häufig - bei Alleinerziehenden wie bei erwerbstätigen Personen - nach der Schule von privatem Betreuungspersonal betreut, auch in den unteren Gehaltsschichten (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stuttgart vom 13.07.2017 - Gz. 508-516.80/49153).
76
Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt. Von einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband ist für die Rückkehrprognose im Regelfall auch dann auszugehen, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris). Die neue Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann sich je nach Konstellation im Einzelfall dahin auswirken, dass in extremen Mangelsituationen zugunsten aller Mitglieder einer Kernfamilie ein Abschiebungsverbot festzustellen ist oder auch dahin, dass die Gefährdung etwa alleinstehender Frauen (mit oder ohne Kleinkindern) durch das Hinzutreten einer weiteren Person so weit herabgesenkt wird, dass die Schwelle einer (drohenden) Verletzung des Art. 3 EMRK/Art. 4 EGrC nicht erreicht wird (vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 24/2019, Anm. 5).
77
Bereits mit der Zuleitung des streitgegenständlichen Bescheids an die Klägerseite hatte das Bundesamt auf die Rückkehrhilfen bei freiwilliger Ausreise hingewiesen. Aus dem sog. REAG-/GARP-Programm (vgl. Bl. 98 f. d. Akten) kann u.a. eine Reisebeihilfe i.H.v. 200,00 EUR sowie eine Starthilfe von 1.000,00 EUR in Anspruch genommen werden. Darüber hinaus besteht das Reintegrationsprogramm ERRIN. Die Hilfen aus diesem Programm umfassen Beratung nach der Ankunft, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen, Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche, Unterstützung bei einer Existenzgründung, Grundausstattung für die Wohnung sowie die Beratung und Begleitung zu behördlichen, medizinischen und caritativen Einrichtungen. Die Unterstützung wird als Sachleistung gewährt. Der Leistungsrahmen für rückkehrende Einzelpersonen beträgt dabei bis zu 2.000,00 EUR und im Familienverbund bis zu 4.000,00 EUR (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/erin).
78
Es liegt auf der Hand, dass die genannten Rückkehrhilfen und Leistungen aus dem Reintegrationsprogramm gerade in der Anfangszeit nach der Rückkehr und vor dem Hintergrund der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie mit dazu beitragen, dass die Familie des Klägers mit diesem in Äthiopien wiederum wird Fuß fassen können. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich der Kläger nicht darauf berufen kann, dass die genannten Start- und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten - wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr - im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 - 9 C 38.96). Dementsprechend ist es der Klägerin möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach Äthiopien freiwillig Zurückkehrenden gewährte Reisehilfen sowie Reintegrationsleistungen in Anspruch zu nehmen. Legt man dies zugrunde, kann die Klägerin auch eine etwaige Quarantäne oder Beschränkungen in der Erreichbarkeit seiner Herkunftsregion bewältigen, soweit eine Niederlassung dort beabsichtigt sein sollte.
79
Auch unter Einbeziehung der schwierigen Lebensbedingungen im Herkunftsland, insbesondere infolge der Corona-Pandemie und der Heuschreckenplage, ergibt sich kein Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
80
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Fehlt eine politische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, kann ein Ausländer im Hinblick auf die (allgemeinen) Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 - 1 C 5.01 - juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage den baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 29.9.2011 - 10 C 24.10 - juris; BayVGH, U.v. 12.12.2019 - 8 B 19.31004 - juris; VG Würzburg, Gb. v. 11.5.2020 - 8 K 20.50114 - juris).
81
Die allgemein unsichere oder wirtschaftlich schlechte Lage im Zielstaat infolge von Hungersnöten, Naturkatastrophen oder Epidemien - und damit auch infolge der Verbreitung des Coronavirus bzw. der Ausbreitung der Heuschrecken in Äthiopien - begründet derartige Gefahren allgemeiner Art nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, weil ihr die gesamte Bevölkerung oder eine ganze Bevölkerungsgruppe des betroffenen Landes (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) ausgesetzt ist (vgl. Kluth/Heusch in: BeckOK AuslR, § 60 AufenthG, Rn. 38 ff.).
82
Es ist für das Gericht auch nicht ersichtlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Äthiopien einer Extremgefahr im vorstehenden Sinne, die die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung durchbrechen könnte, ausgesetzt wäre. Weder aus den Darlegungen der Klägerseite, noch aufgrund anderweitiger Erkenntnisse kann geschlossen werden, dass die Klägerin als gesunde junges Mädchen ohne glaubhaft gemachte Vorerkrankungen allein aufgrund der Verbreitung des Coronavirus (auch) in Äthiopien bei einer Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert wäre, zumal für den Kläger nicht einmal behauptet wurde, dass dieser aufgrund besonderer persönlicher Merkmale einer Personengruppe angehören würde, für die die beachtliche Gefahr eines schweren oder gar tödlichen Verlaufs einer hypothetischen Infektion mit dem Coronavirus anzunehmen wäre. In rechtlicher Hinsicht ist somit das Vorliegen einer Extremgefahr im oben beschriebenen Sinn zu verneinen.
83
Die Wahrscheinlichkeit für schwere und auch tödliche Krankheitsverläufe nimmt mit zunehmendem Alter und bestehenden Vorerkrankungen zu (vgl. RKI, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html). Dass der Kläger zu einem gefährdeten Personenkreis (hohes Alter, maßgebliche Vorerkrankungen) zählt, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Bisher ist weiterhin nicht bekannt, dass Personen, die sich ohne entsprechende Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe mit dem Virus infizieren, im Allgemeinen einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wären.
84
Daneben gibt es keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Versorgungslage in Äthiopien - auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen und Verschärfungen durch die Corona-Pandemie, die Heuschreckenplage und regionale Konflikte - gegenwärtig derart desolat wäre, dass der Klägerin dort der Hungertod oder schwerste Gesundheitsschäden in Folge von Mangelernährung drohten (vgl. hierzu etwa DW, Wie Ostafrika eine Heuschreckenplage bekämpft - inmitten einer Pandemie; Aus Politik und Zeitgeschichte: Am Ende kann nur Gott uns helfen. Das Coronavirus in Äthiopien; WFP East Africa: Update on the Desert Locust Outbreak; Africanews, coronavirus-covid19-hub-updates). Hierzu ist entsprechend nach oben zu verweisen (s. 1.3.1). Auch aus den weiteren eingeführten Quellen ergibt sich eine solche Zuspitzung der Situation in Äthiopien im aktuellen Zeitpunkt nicht. Dabei ist nicht zuletzt zu würdigen, dass erhebliche Hilfsgelder - nicht zuletzt auch von Deutschland - bereitgestellt werden (vgl. u.a. den Beitrag von www.dw.com: Entwicklungsminister Müller: 120 Millionen Euro für Äthiopien in Corona-Krise).
85
Es bestehen auch gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung hinsichtlich der Klägerin einschließlich der Zielstaatbestimmung im Hinblick auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG keine Bedenken.
86
Gründe, die gegen die Rechtmäßigkeit des von der Beklagten nach § 11 Abs. 1 AufenthG ausgesprochenen Einreise- und Aufenthaltsverbotes, sowie gegen die von Amts wegen getroffene Entscheidung bezüglich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2 und 3 AufenthG sprechen, wurden nicht vorgebracht und sind nicht ersichtlich.
87
Nach allem ist die Klage insgesamt mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.