Inhalt

OLG München, Hinweisbeschluss v. 12.05.2021 – 25 U 5794/20
Titel:

Kein Deckungsschutz für Betriebsschließungen aufgrund von SARS-CoV-2/COVID 19

Normenketten:
BGB § 307 Abs. 1 S. 2
IfSG § 6, § 7
Leitsätze:
1. Besagt eine Klausel in der Betriebsschließungsversicherung, dass der Versicherer „beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger“ Entschädigung leistet und werden diese Krankheiten und Krankheitserreger anschließend mit dem Hinweis auf die „folgenden, im Infektionsschutzgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger“ definiert und aufgezählt, ohne dass SARS-CoV-2/COVID-19 in dieser Aufzählung enthalten wären, so besteht kein Deckungsschutz bei einer Betriebsschließung wegen dieses Krankheitserregers bzw. dieser Krankheit. (Rn. 2 – 21 und 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Inhaltskontrolle dieser Leistungsbeschreibung beschränkt sich auf das Transparenzgebot (§ 307 Abs. 1 S. 2 BGB), das die Klausel nicht verletzt. (Rn. 23 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
3. Muss eine Kindertagesstätte aufgrund einer Allgemeinverfügung eines Landesministeriums coronabedingt den Regelbetrieb einstellen und darf in dieser Zeit lediglich eine Notbetreuung anbieten, liegt keine vollständige Schließung iSd Bedingungen vor. Bloße Betriebseinschränkungen, mögen sie auch von Gewicht sein, stehen einer echten Schließung nicht gleich.  (Rn. 41 – 43) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
SARS-CoV-2, Corona, Covid-19, Betriebsschließung, Infektionsschutz, Transparenzgebot
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 17.09.2020 – 12 O 7208/20
Rechtsmittelinstanzen:
OLG München, Beschluss vom 20.07.2021 – 25 U 5794/20
BGH Karlsruhe vom -- – IV ZR 231/21
Fundstellen:
VersR 2021, 1174
BeckRS 2021, 13077
LSK 2021, 13077

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 17.09.2020, Az. 12 O 7208/20, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen vier Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung der Klägerin hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Weder liegt Versicherungsschutz für die Auswirkungen der Corona-Pandemie vor noch eine Betriebsschließung.
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1. Nach § 1 der Allgemeinen Bedingungen für die Versicherung von Betrieben gegen Schäden infolge Infektionsgefahr (Betriebsschließung) - AVB-BS - Stand 1. Januar 2013 der Beklagten (fortan: AVB-BS 2013; Anlage K 2), die Bestandteil des Versicherungsvertrags der Parteien sind, besteht kein Versicherungsschutz für Betriebsschließungen zur Verhinderung der Verbreitung der Krankheit COVID-19 oder des Krankheitserregers SARS-CoV-2 (fortan auch: Corona). § 1 Nr. 2 AVB-BS 2013 ist als abschließende Aufzählung der versicherten Krankheiten und Krankheitserreger auszulegen und wirksam. Corona ist in dieser abschließenden Aufzählung nicht enthalten. Doch selbst, wenn man statt der Aufzählung in den Versicherungsbedingungen den Text der §§ 6 und 7 IfSG für maßgeblich hielte, um den Umfang des Versicherungsschutzes zu bestimmen, bestünde für Corona kein solcher.
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a) § 1 AVB-BS 2013 ist so zu verstehen, dass Versicherungsschutz nur besteht, wenn der Betrieb geschlossen wird zur Verhinderung der Verbreitung von Krankheiten, die in § 1 Nr. 2 lit. a, und von Krankheitserregern, die in § 1 Nr. 2 lit. b AVB-BS 2013 aufgezählt sind. Krankheiten und Erreger, die in diesen Listen nicht enthalten sind, wären auch dann nicht in den Versicherungsschutz einbezogen, wenn sie in den §§ 6 und 7 IfSG genannt wären.
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aa) Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. Werden Versicherungsverträge typischerweise mit und für einen bestimmten Personenkreis geschlossen, so sind die Verständnismöglichkeiten und Interessen der Mitglieder dieses Personenkreises maßgebend (BGH, Urteil vom 25. Mai 2011 - IV ZR 117/09, r+s 2011, 295 Rn. 22). In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (BGH, Urteil vom 10. April 2019 - IV ZR 59/18, NJW 2019, 2172 Rn. 17 mwN).
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bb) Nach diesen Grundsätzen ist § 1 AVB-BS 2013 im Sinne einer abschließenden Aufzählung auszulegen.
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(1) § 1 AVB-BS 2013 ist überschrieben mit „Gegenstand der Versicherung, versicherte Gefahren“. Nach § 1 Nr. 1 AVB-BS 2013, überschrieben mit „Versicherungsumfang“, leistet der beklagte Versicherer Entschädigung, „wenn die zuständige Behörde aufgrund des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger (siehe Nr. 2) … den versicherten Betrieb oder eine versicherte Betriebsstätte zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern beim Menschen schließt“. In § 1 Nr. 2 AVB-BS 2013 heißt es unter der Überschrift „Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger“: „Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger im Sinne dieser Bedingungen sind die folgenden [Hervorhebung im Original], im Infektionsschutzgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger: …“, gefolgt von einer listenförmigen Aufzählung von Krankheiten unter lit. a und einer solchen von Krankheitserregern unter lit. b.
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(2) Der für den Versicherungsnehmer erkennbare Sinnzusammenhang, Wortlaut und Zweck der Bedingungen verlangen eine Auslegung dieser Klausel als abschließende Aufzählung.
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(a) Bei der Aufzählung der Krankheiten und Krankheitserreger in § 1 Nr. 2 lit. a und b AVB-BS 2013 handelt es sich erkennbar um eine Beschreibung des versicherten Risikos, nicht um einen Risikoausschluss. Das ergibt sich insbesondere aus der Stellung im Bedingungswerk sowie den Überschriften und dem Zusammenhang der betroffenen Regelungen.
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Die Aufzählung der Krankheiten und Krankheitserreger findet sich zu Beginn des Bedingungswerks. § 1 Nr. 1 AVB-BS 2013 enthält zwar nicht selbst die listenförmigen Aufzählungen, verweist aber auf diese sowohl durch die Verwendung des in § 1 Nr. 2 definierten Begriffs der meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserreger als auch - zusätzlich - durch den ausdrücklichen Verweis „siehe Nr. 2“. Dies dient erkennbar nur der sprachlichen Entlastung der Regelung von einer umfangreichen Aufzählung.
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Den Überschriften „Gegenstand der Versicherung, versicherte Gefahren“ (§ 1 AVB-BS 2013) und „Versicherungsumfang“ (§ 1 Nr. 1) ist klar zu entnehmen, dass in diesen Regelungen - einschließlich des Verweises auf § 1 Nr. 2 - das versicherte Risiko primär bestimmt wird. Dagegen ist § 3 mit der eindeutigen Überschrift „Ausschlüsse“ versehen. Diese Regelung enthält in § 3 Nr. 4 auch einen Ausschluss für - so die Überschrift - „Krankheiten und Krankheitserreger“, nämlich Prionenerkrankungen oder den Verdacht hierauf. Das Vorhandensein einer solchen Regelung in einem eigenen Paragrafen des Bedingungswerks zeigt ebenfalls deutlich, dass § 1 als primäre Risikobeschreibung zu sehen ist, die durch Ausschlüsse in § 3 eingeschränkt wird.
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(b) Aus dem Wortlaut des § 1 AVB-BS 2013 einschließlich der verwendeten Bezugnahmen erkennt der durchschnittliche Versicherungsnehmer, dass nur die in der Regelung eigens genannten, nicht aber noch weitere oder alle Infektionskrankheiten versichert sind.
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(aa) Versicherungsschutz besteht nach § 1 Nr. 1 AVB-BS 2013 „beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger“. Welche Krankheiten und Erreger dies sein können, kann nicht unmittelbar § 6 IfSG („Meldepflichtige Krankheiten“) oder § 7 IfSG („Meldepflichtige Nachweise von Krankheitserregern“) entnommen werden, weil § 1 Nr. 2 AVB-BS 2013 eine eigene Definition meldepflichtiger Krankheiten und Krankheitserreger „im Sinne dieser Bedingungen“ vornimmt, worauf § 1 Nr. 1 AVB-BS 2013 zudem ausdrücklich verweist. Schon wegen dieser eigenständigen Definition kann ein Versicherungsnehmer nicht erwarten, die Bedeutung des Begriffs der meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserreger decke sich vollständig mit dem infektionsschutzrechtlichen Begriff.
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Die Definition in § 1 Nr. 2 AVB-BS 2013 erwähnt zwar die §§ 6 und 7 IfSG. Dem Wortlaut der Versicherungsbedingungen ist aber bei natürlicher, unbefangener Betrachtung zu entnehmen, dass maßgeblich „die folgenden“ Krankheiten sein sollen, nämlich diejenigen, die nach einem Doppelpunkt unmittelbar folgend im Anschluss an den fraglichen Satz in den Versicherungsbedingungen abgedruckt sind. Ein durchschnittlicher Leser kann als „die folgenden … Krankheiten und Krankheitserreger“ ohne Anstrengung diejenigen ausmachen, die dem Einleitungssatz im Abdruck unmittelbar nachfolgen.
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(bb) Dagegen gibt der Wortlaut der Versicherungsbedingungen keinen Hinweis darauf, dass statt der - bei natürlicher Betrachtung - naheliegenden abgedruckten Listen die Aufzählungen in den §§ 6 und 7 IfSG maßgeblich sein sollten.
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In diesem Zusammenhang bedeutet die Formulierung „die folgenden“ in der Beschreibung des versicherten Risikos zugleich, dass auch nur die folgenden Krankheiten und Erreger dem Versicherungsschutz unterfallen. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird eine möglichst eindeutige, abschließende und nicht nur beispielhafte Beschreibung des versicherten Risikos erwarten. Zudem würde der durchschnittliche Leser zur Einleitung einer bloß beispielhaften, nicht abschließenden Aufzählung mit einem Wort wie „insbesondere“ oder „beispielhaft“ rechnen, das hier aber fehlt.
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Aus der Verwendung des Wortes „namentlich“ ergibt sich nichts anderes. Dieses wird hier nicht in der Bedeutung von „insbesondere“ verwendet. Zwar kann dem Wort diese Bedeutung zukommen, beispielsweise in Formulierungen wie „der Weg ist kaum passierbar, namentlich nach Regen“ oder „überall, namentlich aber im Gebirge“. Doch ergibt sich hier aus dem Kontext der Verwendung („folgenden … namentlich genannten Krankheiten“), dass „namentlich“ im Sinne von „beim Namen genannt“ zu verstehen ist. Auch die Wortstellung entspricht nicht der Einleitung einer beispielhaften Aufzählung, sondern müsste bei einer solchen lauten: „… sind namentlich die folgenden …“
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Der Einschub in der Formulierung „die folgenden im Infektionsschutzgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten …“ nimmt der Wendung „die folgenden“ nicht die Bedeutung, sich auf die nach dem Doppelpunkt folgenden Listen zu beziehen. Aus der Erwähnung des Infektionsschutzgesetzes in der Klausel kann nicht der Schluss gezogen werden, dass damit alle in diesem Gesetz aufgenommenen oder auch später hinzukommenden Krankheiten und Krankheitserreger versichert seien. Wenn der Versicherer hier eine Liste der versicherten Krankheiten und Erreger in eine Klausel seiner Versicherungsbedingungen aufnimmt, macht dies deutlich, dass damit nicht nur über den Inhalt des Infektionsschutzgesetzes informiert werden oder Versicherungsschutz angepriesen werden soll. Vielmehr werden im Sinne einer rechtlich verbindlichen Regelung die Krankheiten aufgezählt, für die Versicherungsschutz versprochen wird.
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Gegen ein Verständnis, wonach die im Bedingungswerk abgedruckten Listen lediglich der schnelleren Information des Versicherungsnehmers dienen würden, während maßgeblich die Aufzählungen in den §§ 6 und 7 IfSG seien, spricht schließlich die Überlegung, dass die Versicherungsbedingungen auf dem Stand, den sie bei Abschluss des Versicherungsvertrags hatten, naturgemäß nicht alle nachfolgenden Gesetzesänderungen einbeziehen und wiedergeben können. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer kann schon aus diesem Grund nicht erwarten, dass es statt der abgedruckten Listen auf den Gesetzestext ankäme.
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(c) Erkennbarer Zweck der Leistungsbeschreibung ist es, den Leistungsumfang zu bestimmen. Insbesondere soll dem Versicherer eine Kalkulation ermöglicht werden. Der Versicherungsnehmer soll informiert entscheiden können, ob die Versicherung die ihm drohenden Risiken abdeckt und abgeschlossen werden soll.
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Ausgehend von diesem Zweck ist eine Erwartung des Versicherungsnehmers nicht begründbar, der Versicherer werde Versicherungsschutz für alle Infektionskrankheiten ohne Unterschied gewähren und ohne die Möglichkeit, die Gefahrträchtigkeit einer Krankheit abschätzen zu können (vgl. OLG Hamm, r+s 2020, 506; OLG Stuttgart, r+s 2021, 139 Rn. 18 ff mwN, 31). Der durchschnittliche Versicherungsnehmer erkennt anhand der Klausel die Krankheiten und Erreger, für die Schutz besteht. Er muss davon ausgehen, dass er nur insoweit geschützt - und dass die Prämie entsprechend kalkuliert - ist, weil andernfalls keine Aufzählung erforderlich wäre und weil kein Zusatz wie „insbesondere“ angebracht ist.
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(d) Aus dem Umstand, dass bestimmte Krankheiten oder Erreger vom Versicherungsschutz ausdrücklich ausgeschlossen sind (vgl. § 3 Nr. 4 AVB-BS 2013), kann nicht geschlossen werden, dass die vorherige Aufzählung der versicherten Krankheiten und Erreger nicht abschließend gewesen sei. Der Ausschluss hat erkennbar nur den Erklärungswert, dass der Versicherer in bestimmten Fällen keinesfalls Versicherungsschutz gewähren will, unabhängig davon, was nach der primären Risikobeschreibung versichert wäre.
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b) Die Regelung in § 1 AVB-BS 2013 ist wirksam.
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aa) Bei § 1 AVB-BS 2013 handelt es sich - wie bereits ausgeführt - um die Leistungsbeschreibung, weil dort der Gegenstand der Versicherung definiert und somit der Umfang des Versicherungsschutzes festgelegt wird. Damit ist für diese Klausel nur eine Transparenzkontrolle vorzunehmen (vgl. BGH, Urteil vom 15. Februar 2017 - IV ZR 91/16, NJW 2017, 2346 Rn. 15; Römer/Langheid/Römer, VVG, 4. Aufl., vor § 1 Rn. 45).
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bb) Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind nach § 307 Abs. 1 BGB unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich nach Satz 2 der Vorschrift auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.
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So liegt der Fall hier nicht.
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(1) Nach dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB ist der Verwender Allgemeiner Geschäftsbedingungen gehalten, Rechte und Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar darzustellen. Dabei kommt es nicht nur darauf an, dass die Klausel in ihrer Formulierung für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer verständlich ist. Vielmehr gebieten Treu und Glauben, dass die Klausel die wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen soweit erkennen lässt, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann. Dem Versicherungsnehmer soll bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vor Augen geführt werden, in welchem Umfang er Versicherungsschutz erlangt und welche Umstände seinen Versicherungsschutz gefährden (BGH, Urteil vom 4. April 2018 - IV ZR 104/17, NJW 2018, 1544 Rn. 8 mwN). Nur dann kann er die Entscheidung treffen, ob er den angebotenen Versicherungsschutz nimmt oder nicht (BGH, Urteil vom 20. November 2019 - IV ZR 159/18, r+s 2020, 45 Rn. 7).
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Der Verwender muss die tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen so genau beschreiben, dass für ihn kein ungerechtfertigter Beurteilungsspielraum entsteht (BGH, Urteil vom 9. Juni 2011 - III ZR 157/10, VersR 2012, 323 Rn. 27). Ein Verstoß gegen das Transparenzgebot ist nicht schon dann zu bejahen, wenn Bedingungen noch klarer und verständlicher hätten formuliert werden können (BGH, Urteil vom 13. September 2017 - IV ZR 302/16, r+s 2017, 586 Rn. 15; vom 4. April 2018, aaO).
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(2) Gemessen daran ist der Leistungsumfang in § 1 AVB-BS 2013 ausreichend transparent geregelt (vgl. auch OLG Stuttgart, r+s 2021, 139 Rn. 41 ff). In diesem Zusammenhang haben die Gesichtspunkte, die bereits bei der Auslegung der Klausel angesprochen wurden, erneut Bedeutung.
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Der Wortlaut der Klausel ist nicht unklar oder mehrdeutig. Versichert sind nicht sämtliche Betriebsschließungen nach dem Infektionsschutzgesetz, sondern nur die in der erkennbar abschließenden Aufzählung genannten. Einen umfassenden Versicherungsschutz kann der Versicherungsnehmer dem Wortlaut nicht entnehmen, was sich aus der Aufzählung der versicherten Krankheiten und Krankheitserreger sowie der Formulierung ergibt, die nicht den Eindruck erweckt, alle im Infektionsschutzgesetz genannten Krankheiten und Erreger seien versichert. Das Wort „namentlich“ wird in § 1 Nr. 2 AVB-BS 2013 nicht im Sinne von „insbesondere“ verwendet. Es meint an dieser Stelle auch keine Meldepflicht unter namentlicher Nennung der betroffenen Person (vgl. etwa § 6 Abs. 1 Satz 1 gegenüber § 7 Abs. 3 Satz 1 IfSG), sondern beim Namen genannte Krankheiten und Krankheitserreger, die versichert sein sollen und die der Versicherungsnehmer in der ausführlichen Aufzählung in den Versicherungsbedingungen vorfindet. Dass diese Aufzählung umfangreich ist, liegt in der Natur der Sache.
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Mit der Regelungstechnik der abschließenden Aufzählung wird dem Versicherungsnehmer bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vor Augen geführt, in welchem Umfang er Versicherungsschutz erlangt und welche Umstände seinen Versicherungsschutz gefährden. Der Versicherungsgeber ist nach Treu und Glauben nicht gehalten, dem Versicherungsnehmer wirtschaftliche Nachteile und Belastungen noch besser erkennbar zu machen. Wird der Versicherungsumfang in dieser Weise durch eine Aufzählung der versicherten Krankheiten und Erreger bestimmt, muss dem Versicherungsnehmer einleuchten, dass der Versicherer, der sein Risiko begrenzen muss, auf die Weise kalkuliert, dass er ganz bestimmte Krankheiten und Erreger versichert, weil er keinen Einfluss darauf hat, welche weiteren Krankheiten und Erreger der Gesetzgeber in das Infektionsschutzgesetz aufnehmen wird. Dies widerspricht nicht der Forderung, der Versicherungsnehmer müsse die Möglichkeit haben, Lücken im Versicherungsschutz zu erkennen. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer kann bei aufmerksamer Durchsicht und verständiger Würdigung der Regelungen nach deren Formulierung von vornherein nicht davon ausgehen, alle Erkrankungen und Erreger, die künftig in das Infektionsschutzgesetz aufgenommen werden, seien versichert.
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Eine etwaige Unwirksamkeit der Klausel über die Ausschlüsse (§ 3 AVB-BS 2013) würde nicht zur Intransparenz der Risikobeschreibung (§ 1) führen, weil es sich hier um getrennt zu betrachtende Klauseln handelt, die unabhängig voneinander Bestand haben können. Die beiden Regelungen weisen zwar einen Zusammenhang auf, sind aber trennbar und jeweils für sich betrachtet gesondert zu bewerten; eine mögliche Unwirksamkeit der Ausschlussregelungen führt nicht dazu, dass die Regelung zum grundsätzlichen Umfang des Versicherungsschutzes intransparent würde. Wie bereits ausgeführt handelt es sich bei dem in § 1 dargestellten Leistungsumfang nicht um eine verkappte Ausschlussregelung, sondern um die ausreichend bestimmbare Festlegung der grundsätzlichen Leistungspflicht des Versicherers.
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c) Da in der wirksam vereinbarten, abschließenden Aufzählung, die den Umfang des Versicherungsschutzes bestimmt, Corona nicht enthalten ist, besteht hierfür kein Versicherungsschutz.
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d) Selbst, wenn es für den Umfang des Versicherungsschutzes nicht auf die Aufzählung in § 1 Nr. 2 AVB-BS 2013 ankäme, sondern unmittelbar auf die in den §§ 6 und 7 IfSG namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger, wäre Corona vom Versicherungsschutz nicht erfasst. Erst mit Gesetz vom 19. Mai 2020 (BGBl. I S. 1018) wurden mit Wirkung zum 23. Mai 2020 COVID-19 in § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. t IfSG und SARS-CoV-2 in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 44a IfSG aufgenommen. Zuvor bestand ab 1. Februar 2020 eine Meldepflicht für Corona nur nach einer aufgrund § 15 Abs. 1 und 2 IfSG erlassenen Verordnung vom 30. Januar 2020 (BAnz AT 31.01.2020 V1). Zur Zeit des geltend gemachten Versicherungsfalls, im März und April 2020, waren weder Krankheit noch Erreger namentlich in §§ 6 und 7 IfSG genannt.
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2. Wie das Landgericht richtig gesehen hat, liegt ein Versicherungsfall auch deshalb nicht vor, weil keine Betriebsschließung erfolgt ist. Die von der Klägerin betriebene Kindertagesstätte ist nicht, wie es erforderlich wäre, vollständig geschlossen worden.
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a) Nach § 1 Nr. 1 AVB-BS 2013 leistet der beklagte Versicherer Entschädigung, „wenn die zuständige Behörde … den versicherten Betrieb oder eine versicherte Betriebsstätte zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern beim Menschen schließt“. Nach dem Versicherungsschein, Nachtrag vom 15. Oktober 2018 (Anlage K 1), ist versicherter Betrieb die Kindertagesstätte.
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b) Die Kindertagesstätte war in den 30 Tagen ab dem 16. März 2020, für welche die Klägerin die Versicherungsleistung begehrt, nicht geschlossen.
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aa) Eine vollständige Schließung lag nicht vor.
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(1) Schließung im Sinne des § 1 Nr. 1 AVB-BS 2013 ist grundsätzlich eine vollständige Schließung.
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Das ergibt sich zunächst aus dem Wortlaut, der bei der Schließung auf die behördliche Anordnung abstellt. Trifft eine Behörde Anordnungen, die nicht schlechthin die Schließung eines Betriebs verlangen, sondern ihn lediglich Einschränkungen unterwerfen, wäre es ungenau und unzutreffend zu sagen, die Behörde habe den Betrieb geschlossen.
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Vor allem aber verlangen Sinnzusammenhang und Zweck des Bedingungswerks, dass bloße Betriebseinschränkungen, mögen sie auch von Gewicht sein, nicht als „teilweise Betriebsschließung“ einer echten Schließung gleichgestellt werden. Wesentliche Versicherungsleistung ist nach § 2 Nr. 3 lit. a AVB-BS 2013 die vereinbarte Tagesentschädigung bis zur vereinbarten Dauer von 30 Tagen. Abstufungen für „Teilschließungen“ sind nicht vorgesehen. Das zeigt, dass die Versicherungsbedingungen von einem Verständnis der Betriebsschließung als vollständige Schließung ausgehen. Auch aus der Sicht eines verständigen, durchschnittlichen Versicherungsnehmers, der eine Betriebsschließungsversicherung abschließen will, wäre es nicht einzusehen, wenn bereits behördliche Auflagen, die eine Fortsetzung des Betriebs zulassen, diesen aber einschränken und zu einem Rückgang der Umsätze führen, unabhängig von ihrem ganz unterschiedlichem Gewicht für den Betrieb dazu führen würden, dass in allen solchen Fällen der volle Tagessatz der Entschädigung bezogen werden könnte. Dass dies, wenn eine teilweise Entschädigung nicht ausdrücklich vorgesehen und geregelt ist, weder im Hinblick auf das Kalkulationsinteresse des Versicherers noch auf das Prämieninteresse der Versichertengemeinschaft zu rechtfertigen wäre, erschließt sich auch dem Versicherungsnehmer, der bei Vereinbarung eines festen Tagessatzes je Tag der Schließung damit die Vorstellung einer gänzlichen Schließung verbinden wird.
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(2) Die Kindertagesstätte der Klägerin war nicht vollständig geschlossen, sondern während des gesamten fraglichen Zeitraums im Rahmen der unstreitig durchgeführten Notbetreuung weiter geöffnet. Von Personal der Klägerin wurden Kinder in Gruppen betreut. Auch die Küche wurde weiterhin betrieben.
42
bb) Es kann dahinstehen, ob und unter welchen näheren Voraussetzungen eine auf behördliche Anordnungen gegen den Betrieb zurückzuführende „faktische Betriebsschließung“ einer behördlich angeordneten, vollständigen Schließung des Betriebs gleichkommen kann. Eine solche Gleichstellung ist jedenfalls unter den Umständen des Streitfalls nicht geboten, weil nach den Feststellungen des Landgerichts der Betrieb weiterhin geöffnet blieb und noch nennenswerte Einnahmen erbrachte. In einem solchen Fall kann es dem beklagten Versicherer nach Treu und Glauben nicht verwehrt sein, sich auf die fehlende Betriebsschließung zu berufen.
43
Die Verfahrensrügen der Klägerin, mit denen diese die Feststellungen des Landgerichts in Teilen beanstandet, hält der Senat nicht für aussichtsreich. Jedenfalls aber stehen schon die hiervon nicht betroffenen Feststellungen der Annahme einer „faktischen Betriebsschließung“ - sollte diese aus Rechtsgründen überhaupt in Betracht kommen - entgegen. Unstreitig ist offenbar, dass in der Einrichtung der Klägerin weiterhin Kinder - im Rahmen der Notbetreuung - betreut wurden. Es kommt nicht darauf an, ob dies auf einer unternehmerischen Entscheidung der Klägerin oder auf einer Rechtspflicht zum Vorhalten der Notbetreuung beruhte. Denn eine Schließung der Einrichtung, wie sie der Versicherungsvertrag verlangt, ist weder behördlich angeordnet noch von der Klägerin selbst vollzogen worden. Auch wenn man auf eine wirtschaftliche Betrachtung abstellen wollte, könnte der Weiterbetrieb, bei dem unstreitig die staatlichen Zuschüsse weiterhin gewährt wurden, die etwa ein Drittel der sonst erzielten Einnahmen ausmachen, nicht einer vollständigen Betriebsschließung gleichgestellt werden.