Titel:
Schwerwiegendes Ausweisungsinteresse bei illegalem Handel mit Betäubungsmitteln
Normenketten:
EMRK Art. 8
GG Art. 6
AufenthG § 11 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1
BZRG § 46 Abs. 1 Nr. 4
Leitsätze:
1. Auf sog. Kontingentflüchtlinge findet der erhöhte Abschiebungsschutz nach § 53 AufenthG keine Anwendung. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr kann nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. VGH München BeckRS 2019, 7299 mwN). (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, sind schwerwiegend und berühren ein Grundinteresse der Gesellschaft. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Russischer Staatsangehöriger, Kontingentflüchtling, Ausweisung, bewaffneter Drogenhandel, Drogenabhängigkeit, faktischer Inländer, Drogentherapie, Ausländer der zweiten Generation, jüdische Emigranten, russischer Staatsangehöriger
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 12.05.2021 – 10 ZB 21.998
Fundstelle:
BeckRS 2021, 12503
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung verbunden mit einem (zuletzt) fünf bzw. siebenjährigen Einreise- und Aufenthaltsverbot.
2
Der Kläger reiste 1995 im Alter von 19 Jahren als sog. Kontingentflüchtling mit seinem 1995 ausgestellten Reisepass und einem Touristenvisum in Deutschland ein. Anschließend wurde ihm eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die später als Niederlassungserlaubnis fortgalt. Im Jahr 2002 wurde dem Kläger ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt und durchgehend verlängert. Der aktuelle Reiseausweis des Klägers ist bis 10. April 2021 gültig.
3
In Russland wuchs der Kläger bei seiner Mutter, seinen Großeltern und später seinem Stiefvater auf. Er schloss die Gesamtschule ab, machte eine Ausbildung als Metallschleifer und arbeitete für drei Jahre in diesem Beruf. In Deutschland hat der Kläger von 2005 bis 2016 als selbständiger IT-Fachmann gearbeitet. Seine Fachkenntnisse hat er autodidaktisch erworben, da die Kosten für eine Ausbildung zum Fachinformatiker nicht durch das Arbeitsamt übernommen wurden. Mit seiner selbständigen Tätigkeit machte der Kläger, nach eigenen Angaben, in „guten Jahren“ etwa 17.000 EUR Umsatz pro Jahr. Zusätzlich bezog der Kläger Sozialleistungen. Zurzeit arbeitet der Kläger in Vollzeit auf dem Bau als Elektrohelfer. Der Kläger hat Schulden in Höhe von ca. 30.000 EUR.
4
Gemäß seinen eigenen Angaben begann der Kläger etwa im Jahr 1997 mit dem Konsum von Marihuana und hat bis zu seiner Inhaftierung im Jahr 2017 durchgängig, bis auf einige kurze Zeiten der Abstinenz, verschiedene Drogen (u.a. Marihuana, Ecstasy, LSD, Speed, Amphetamin, Kokain und Ethylphenidat) sowie Alkohol konsumiert. In einem psychiatrischen Gutachten vom 22. Oktober 2018 wurde eine Cannabisabhängigkeit und eine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert. Eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter (ADHS) sowie eine rezidivierende depressive Störung (ICD 10: F33) konnten nicht sicher festgestellt werden.
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Am *. Dezember 2018 verurteilte das Landgerichts … * den Kläger wegen unerlaubten bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zwei Monaten und ordnete die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an.
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Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Kläger über das sog. „Darknet“ im sog. TOR-Netzwerk und über die dortige Plattform „… …“ von Februar bis April 2016 verschiedene Rauschmittel (insbesondere LSD und y-Pyrrolidinovalerophenen-Hydrochlorid) erwarb und gewinnbringend verkaufte. Die von den Kunden des Klägers erworbenen und mit der Onlinewährung „…“ bezahlten Betäubungsmittel ließ der Kläger entweder von seinen Bezugsquellen direkt an die Kunden ausliefern oder übersandte sie selbst per Post, indem er sie u.a. in kleineren Computer-Komponenten versteckte. Zusammen mit den Drogen bewahrte der Kläger Waffen in seinem Zimmer, von dem er den Drogenhandel aus betrieb, auf.
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Der Kläger wurde am … Juli 2017 festgenommen und befand sich zunächst in Untersuchungsspäter in Strafhaft. Am …Dezember 2018 wurde der Kläger ins Isar-Amper-Klinikum … zur Drogentherapie nach § 64 StGB verlegt. Nach Durchlaufen verschiedener Lockerungsstufen, wohnt der Kläger seit 16. Mai 2020 in einer therapeutischen Wohngemeinschaft. Mit Beschluss vom 21. Oktober 2020 wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zum 1. November 2020 zur Bewährung ausgesetzt. Die Führungsaufsicht wurde für 5 Jahre angeordnet.
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Mit Bescheid vom 8. August 2019 wies die Beklagte den Kläger aus (Ziffer 1), befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot, unter der Bedingung der Straf- und Drogenfreiheit, auf sieben Jahre ansonsten auf neun Jahre (Ziffer 2) und ordnete die Abschiebung in die Russische Föderation aus der Haft an, bzw. setzte eine Ausreisefrist von vier Wochen nach Haftentlassung fest und drohte, für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise, die Abschiebung in die Russische Föderation bzw. in einen anderen Staat, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, an (Ziffer 3).
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Die Beklagte stützte die Ausweisung auf § 53 Abs. 1 AufenthG und stellte fest, dass der Status des Klägers als sog. Kontingentflüchtling nicht zu einem erhöhten Ausweisungsschutz führe. Aufgrund der schweren Straftat des Klägers würden sowohl spezial- wie auch generalpräventive Erwägungen für die Ausweisung des Klägers sprechen und schwerer wiegen als sein Bleibeinteresse. Dementsprechend sei die Ausweisung des Klägers die verhältnismäßige Antwort auf seine Straftat.
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Mit Schreiben vom … August 2019 erhob der Bevollmächtigte des Klägers Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragte,
der Bescheid der Beklagten wird aufgehoben.
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Zur Begründung führte er aus, dass der Kläger kein russischer Staatsangehöriger sei und folglich nicht in die Russische Föderation abgeschoben werden könne. Ferner sei, nach Beendigung der Unterbringung, bei Suchtmittelabstinenz nicht mit weiteren einschlägigen Straftaten des Klägers zu rechnen sei.
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Mit Schreiben vom 27. August 2019 beantragte die Beklagte,
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Zur Begründung wiederholte sie die Gründe des Bescheids und betonte, dass aufgrund der schweren Straffälligkeit auch generalpräventive Gründe die Ausweisung rechtfertigen würden und dass trotz des langjährigen Aufenthalts des Klägers in der Bundesrepublik die Integration mangelhaft sei.
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In der mündlichen Verhandlung änderte die Beklagte den Bescheid ab und setzte das Einreise- und Aufenthaltsverbot von sieben bzw. neun Jahren auf fünf bzw. sieben Jahre herab. Weiterhin wiederholten die Parteien ihre jeweiligen bereits schriftsätzlich gestellten Anträge.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die vorgelegte Behördenakte, die beigezogenen Strafakte der Staatsanwaltschaft … * (Az.: … … …*) sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Die im streitgegenständlichen Bescheid verfügte Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Das fünf- bzw. siebenjährige Einreise- und Aufenthaltsverbot ist, genauso wie die Abschiebungsandrohung, rechtmäßig ergangen.
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Die Ausweisung des Klägers erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (Vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris, Rn. 12) als rechtmäßig.
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1. Rechtsgrundlage für die Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG, wonach ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen wird, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen am weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
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a) Auf den Kläger ist nicht der erhöhte Abschiebungsschutz des § 53 Abs. 3, 3a, 3b AufenthG anzuwenden. Der Kläger ist nicht im Besitz einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU (§ 53 Abs. 3 AufenthG). Die Niederlassungserlaubnis des Klägers wird als besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse berücksichtigt (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Weiterhin ist der Kläger weder ein Asylberechtigter, ein Flüchtling noch ein subsidiär Schutzberechtigter (§ 53 Abs. 3a, 3b AufenthG). Wie die Beklagte korrekterweise ausgeführt hat, finde auf sog. Kontingentflüchtlinge der erhöhte Abschiebungsschutz keine Anwendung. Jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion können sich nicht allein aufgrund ihrer Aufnahme auf das flüchtlingsrechtliche Abschiebungsverbot berufen (vgl. BVerwG, U.v. 22.12.2010 - 19 B 09.824 - juris).
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b) Der weitere Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet stellt eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG dar, da mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der Kläger erneut erheblich straffällig wird (vgl. zum Prognosemaßstab BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris).
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Der Kläger hat über fast zwei Jahrzehnte verschiedenste Drogen konsumiert und laut Gutachten vom 22. November 2018 lag sowohl eine Cannabis- und Alkoholabhängigkeit sowie ein übermäßiger Konsum anderer Substanzen (Amphetamine, LSD und Ecstasy, Kokain, andere Stimulanzen, Benzodiazepine, Ritalin und Ritalinähnliche Präparate etc.) vor. Das Landgericht … * stufte die Straftaten des Klägers als Beschaffungskriminalität ein, die auf dem Hang des Klägers, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, beruhte. Aufgrund der - teils dissozialen - Persönlichkeitsstruktur des Klägers sei davon auszugehen, dass der Kläger bei nichtbehandelter Sucht weitere erhebliche Delikte aufgrund seines Hanges begehe. Dieser Einschätzung schließt sich das Gericht an.
22
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (BayVGH, B. v. 8.4.2019 - 10 ZB 18.2284 - juris, Rn. 12, mit weiteren Nachweisen).
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Dies ist beim Kläger (noch) nicht der Fall. Zwar hat der Kläger seine stationäre Unterbringung beendet, allerdings hat er sich noch nicht in Freiheit nach Therapieende bewährt. Es ist zu beachten, dass sowohl die Entziehungsklinik als auch der Gutachter nur davon ausgehen, dass das Risiko weiteren Suchtmittelkonsums deutlich reduziert wurde (Ärztliche Stellungnahme kbo v. 5.10.2020) bzw. die Abhängigkeitserkrankung abgemildert wurde (Gutachten v. 12.9.2020). Laut dem Gutachten ist bei Suchtmittelabstinenz nicht mit weiteren einschlägigen Straftaten zu rechnen. Eine dauerhafte Suchtmittelabstinenz hat der Kläger allerdings noch nicht glaubhaft gemacht. Die anhaltende Abstinenz findet weiterhin in einem geschützten und überwachten Umfeld statt. So lebt der Kläger in einer therapeutischen Wohngemeinschaft, besucht wöchentliche Therapiegruppen in der Wohngemeinschaft, hat Einzelgespräche in der Wohngemeinschaft sowie in der Entziehungsklinik und es finden regelmäßige Suchtmittelkontrollen statt. Eine volle Bewährung in Freiheit kann daher zurzeit noch nicht angenommen werden. Hierfür spricht auch die Tatsache, dass der Kläger für fünf Jahre unter Führungsaufsicht steht. Die Bewährung in Freiheit scheint im Einzelfall des Klägers auch erforderlich, insbesondere aufgrund des langjährigen Konsums von Rauschmitteln und der weiterhin bestehenden Problematik der Selbsteinschätzung und Frustrationstoleranz (vgl. Gutachten v. 12.9.2020). Insbesondere im Hinblick auf die Frustrationstoleranz ist zu berücksichtigen, dass der Kläger früher bereits wegen Problemen in der Arbeit Drogen konsumiert hat (s. Gutachten 22.11.2018). Auch die behandelnden Ärzte der Entziehungsklinik stellen fest, dass Voraussetzung für die Fortdauer der Abstinenz eine anhaltende affektive Stabilität und eine Zufriedenheit in den Bereichen Arbeit, Freizeitverhalten und Beziehungsverhalten ist (Ärztliche Stellungnahme kbo v. 5.10.2020). Zwar bescheinigt Condrobs, dass der Kläger mit Suchtdruck in Stresssituationen gut umgeht und die bisherige berufliche und soziale Integration als erfolgreich bewertet werden kann, allerdings erscheint mindestens die berufliche Zufriedenheit in Zukunft problematisch. Der, auch von Condrobs angesprochene, Wunsch des Klägers eine Ausbildung als Fachinformatiker zu machen, konnte bisher nicht realisiert werden und die Arbeitsagentur hat eine derartige Umschulung abgelehnt. Und auch wenn der jetzige Arbeitsgeber des Klägers sehr zufrieden mit ihm ist, ist es der Kläger nicht. Laut ärztlichen Stellungnahme des kbo vom 5.Oktober 2020 ist der Kläger sehr unzufrieden mit seiner Tätigkeit als Elektrohelfer und fokussiert auf eine Tätigkeit in dem IT-Bereich, die allerdings, trotz zahlreicher Bewerbungen, nicht umgesetzt werden konnte. Seine jetzige Tätigkeit erscheint auf Dauer aufgrund einer bestehenden Schulterathrose mit Schmerzsyndrom auch problematisch. Zuletzt ist zu beachten, dass der Kläger etwa 30.000 EUR Schulden hat. Zwar arbeitet der Kläger zurzeit, allerdings hat das Erzielen von Einkommen den Kläger auch früher nicht vom Handeltreiben mit Betäubungsmitteln - zur Finanzierung seines Lebensunterhalts und dem Abbau seiner Schulden - abgehalten (vgl. Strafurteil v. 7.12.2018). Unter Berücksichtigung dieser Punkte kann aktuell nicht von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr ausgegangen werden und es besteht weiterhin die Gefahr, dass der Kläger erhebliche Straftaten begeht.
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Unabhängig davon gefährdet der Aufenthalt des Klägers auch in Hinblick auf generalpräventive Erwägungen die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Auch allein generalpräventive Gründe können ein Ausweisungsinteresse begründen (BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 1 C 16/17 - juris Rn. 16). Andere Ausländer sollen davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen.
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Der Kläger hat in professioneller Weise mit erheblicher krimineller Energie unter hohem Verschleierungsaufwand einen schwunghaften Drogenhandel im sog. Darknet betrieben. Die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, sind schwerwiegend und berühren ein Grundinteresse der Gesellschaft. Der Gerichtshof der Europäischen Union sieht in der Rauschgiftsucht ein „großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit“ (vgl. EuGH, U.v. 23.11.2010 - C-145/09, Tsakourdis - NVwZ 2011, 221 Rn. 47). Der Drogenhandel stellt eine schwere Beeinträchtigung grundlegender gesellschaftlicher Interessen dar (BVerwG, U.v. 14.5.2013 - 1 C 13/12 - juris Rn. 12). Die Gefährlichkeit des Handelns des Klägers wird dadurch gesteigert, dass er einerseits bewaffnet war und andererseits Drogen mit hoher Gefährlichkeit und hohem Abhängigkeitspotential verkauft hat. Dementsprechend besteht ein erhöhtes generalpräventives Interesse an der Ausweisung des Klägers. Im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf das Fehlverhalten des Klägers werden andere Ausländer nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen.
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Das generalpräventive Ausweisungsinteresse ist auch noch aktuell, da die Tilgungsfrist des § 46 Abs. 1 Nr. 4 BZRG noch nicht abgelaufen ist.
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b) Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der gegenläufigen Interessen ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt und die Ausweisung nicht unverhältnismäßig ist, § 53 Abs. 1 AufenthG.
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aa) Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse auf Grund der Höhe der strafrechtlichen Verurteilung (5 Jahre und 2 Monate) besonders schwer. Aufgrund der Niederlassungserlaubnis des Klägers steht dem Ausweisungsinteresse ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gegenüber (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG).
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bb) Unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten persönlichen Belange des Klägers und der Positionen aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK überwiegt jedoch das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers. Die Entscheidung wahrt im Übrigen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
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Da sowohl die Mutter und die Halbschwester sowie weitere Verwandte des Klägers in Deutschland leben, berührt die Abschiebung die familiären Beziehungen des Klägers in Deutschland. Dennoch stehen Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK der Abschiebung nicht entgegen. Der volljährige Kläger ist nicht mehr auf seine Mutter (bzw. umgekehrt) angewiesen. Er ist bereits ohne diese 1995 in die Bundesrepublik eingereist. Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis über die emotionale Verbundenheit hinaus ist nicht ersichtlich und wurde auch nicht vorgetragen. Gleiches gilt für die Halbschwester und die übrigen Verwandten des Klägers
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Ebenso ist die Ausweisung mit Art. 8 EMRK vereinbar. Art. 8 Abs. 1 EMRK bestimmt, dass jedermann Anspruch auf Achtung seines Privatlebens hat. Der Eingriff einer Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nach Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Der Eingriff in die Schutzgüter des Art. 8 EMRK kommt namentlich dann in Betracht, wenn der Betroffene im Aufenthaltsstaat über intensive persönliche und familiäre Bindungen verfügt. Insbesondere bei Ausländern, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist, ist ein Eingriff in Art. 8 EMRK denkbar (BVerwG v. 29.9.1998 - BVERWG Aktenzeichen 1C896 1 C 8.96 - juris). Zu diesem Personenkreis zählen vor allem im Bundesgebiet geborene Ausländer der zweiten Generation (vgl. BayVGH B.v. 11.7.2007 - 24 ZB 07.743 - juris; B.v. 18.3.2015 - 10 C 14.2655 - juris Rn. 27).
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Der Kläger wurde nicht im Bundesgebiet geboren und kam erst mit achtzehn Jahren nach Deutschland. Dennoch hat er hier für mehr als 25 Jahre gelebt. Allerdings kann nicht von einer vollständigen Integration ausgegangen werden. Der Kläger hat in Deutschland weder einen Schulabschluss noch eine Ausbildung gemacht. Er war nur in sehr begrenztem Umfang abhängig beschäftigt und seine selbständige Tätigkeit hat nicht ausgereicht, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Weiterhin hat er fast für die gesamte Zeit, in der er in Deutschland bis zu seiner Inhaftierung gelebt hat, illegale Drogen konsumiert.
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Seine Rückkehr nach Russland erscheint möglich und zumutbar. Der Kläger spricht Russisch und er ist in Russland aufgewachsen, dort zur Schule gegangen, hat dort eine Ausbildung gemacht und gearbeitet. Darüberhinaus hat der Kläger weiterhin ein soziales und kulturelles Interesse an russischen Festivals (Gutachten v. 22.11.2018). Wahrscheinlich lebt auch noch der Stiefvater des Klägers, mit dem er vor seiner Ausreise zusammengelebt hat, in Russland.
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Der Kläger ist auch russischer Staatsangehöriger. Er hat nach dem Untergang der Sowjetunion bis zu seiner Ausreise im Jahr 1995 auf dem Gebiet der Russischen Föderation gelebt. Im Jahr 1995 haben die russischen Behörden dem Kläger auch einen Reisepass, zwar auf Passvordrucken der UdSSR, ausgestellt. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger seine russische Staatsangehörigkeit nach 1995 verloren hätte, sind nicht ersichtlich oder vorgetragen. Der reine Auslandsaufenthalt führt nicht zu einem Untergang der russischen Staatsangehörigkeit. Es ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger sowohl in den verschiedenen Verwaltungsverfahren als auch in dem Strafverfahren angegeben hat, dass er russischer Staatsangehöriger sei.
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Unter Berücksichtigung sämtlicher beim Kläger zu beachtender Belange, insbesondere jedoch der Schwere und der Gefährlichkeit der vom Kläger begangenen Tat, der weiterhin bestehenden Wiederholungsgefahr und der beschränkten Integration des Klägers, fällt die nach § 53 Abs. 1, 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Auch Art. 6 GG und 8 EMRK stehen der Ausweisung des Klägers nicht entgegen. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig.
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2. Auch das festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 2 des Bescheides ist rechtmäßig.
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Dass nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG n.F. ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gesondert angeordnet werden muss, macht den Bescheid vom 8. August 2019 nicht fehlerhaft, denn nach obergerichtlicher Rechtsprechung zur früheren Rechtslage war in einer behördlichen Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG a.F. regelmäßig auch die Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots von bestimmter Dauer zu sehen (BayVGH, B.v. 11.9.19 - 10 C 18.1821 - Rn. 13). Die Beklagte hat vorliegend die Wirkung der Ausweisung auf fünf bzw. sieben Jahre befristet. Hierin und auch unter Hinzuziehung der Begründung im Bescheid ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von bestimmter Dauer zu sehen.
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Die Dauer der Sperrfrist verhält sich vorliegend im gesetzlich vorgegebenen Rahmen (§ 11 Abs. 3, Abs. 5 AufenthG). Ausgehend von der Gefahr weiterer Straftaten durch den Kläger, der Dauer der Führungsaufsicht (s.o.) und unter Berücksichtigung der mangelhaften Integration des Klägers im Bundesgebiet erscheint eine reduzierte Frist von fünf bzw. sieben Jahren nicht unverhältnismäßig, um eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die Begehung weiterer Straftaten zu begegnen.
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3. Auch die Abschiebungsanordnung begegnet keinen Bedenken. Da feststeht, dass der Kläger russischer Staatsangehöriger ist, kann er auch nach Russland abgeschoben werden (s.o.). Ein besonderer Abschiebungsschutz für Kontingentflüchtlinge besteht nicht (s.o.). Im Übrigen kann auf die richtigen Ausführungen in dem Bescheid vom 8. August 2019 verwiesen werden.
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Die Klage ist nach alledem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 ZPO.