Titel:
Ausweisung wegen erschlichenem Aufenthaltstitels
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54 Abs. 2 Nr. 8 lit. a, Nr. 9, § 55 Abs. 2 Nr. 5
BayVwVfG Art. 48
Leitsatz:
Die Verwirklichung der vorsätzlichen Straftat des Erschleichens eines Aufenthaltstitels durch einen Ausländer stellt eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar. Diese Gefährung überwiegt sein Bleibeinteresse sodass es auszuweisen ist. (Rn. 48 – 72) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung (aserbaidschanischer Staatsangehöriger), Erschleichen einer Aufenthaltserlaubnis, falsche Angaben über das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft, Spezialprävention, Generalprävention, Abwägung, Rücknahme eines Aufenthaltstitels
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 16.11.2017 – M 27 K 17.797
Fundstelle:
BeckRS 2021, 12472
Tenor
I.Die Berufung wird zurückgewiesen.
II.Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III.Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV.Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung und gegen die Rücknahme einer erteilten Aufenthaltserlaubnis und begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
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Der Kläger, ein 1973 geborener aserbaidschanischer Staatsangehöriger, reiste im Mai 2010 erstmals in das Bundesgebiet ein und heiratete am 26. Mai 2010 in Dänemark eine in Deutschland lebende serbische Staatsangehörige.
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Am 1. Juni 2010 beantragte und erhielt er eine bis zum 31. Mai 2011 befristete Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug; er und seine Frau hatten eine sog. Eheerklärung abgegeben, wonach sie gemeinsam in einer Wohnung lebten. Am 24. Mai 2011 wurde die Aufenthaltserlaubnis bis zum 31. Mai 2013 verlängert; der Kläger und seine Ehefrau gaben erneut eine Eheerklärung ab.
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Am 7. Mai 2013 beantragte der Kläger erneut die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, worauf ihm eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt wurde. Am 17. September 2013 unterzeichneten der Kläger und seine Ehefrau erneut eine Eheerklärung (bzgl. einer neuen Wohnanschrift); der Kläger erhielt am gleichen Tag eine bis zum 16. September 2016 geltende Aufenthaltserlaubnis.
5
Am 15. Juni 2015 beantragte der Kläger eine Niederlassungserlaubnis; als Familienstand gab er „ledig“ an, als Wohnung erneut eine andere Anschrift. Er legte außerdem einen Endbeschluss des Amtsgerichts München (Familiengericht) vom 10. Februar 2015 vor, mit dem die am 26. Mai 2010 geschlossene Ehe geschieden wurde. In den Gründen ist festgestellt, dass die Ehegatten seit dem 1. Juli 2013 getrennt lebten. Außerdem legte er einen Mietvertrag für seine jetzige Wohnung vor, der am 9. September 2010 abgeschlossen worden war (Beginn des Mietverhältnisses 16. Oktober 2010).
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Am 30. Dezember 2015 heiratete der Kläger in Aserbaidschan eine Frau, die ihrerseits wegen des Erschleichens eines Aufenthaltstitels (vorangegangene Scheinehe mit einem Arbeitskollegen des Klägers) aus der Bundesrepublik ausgewiesen wurde; ein Visumantrag blieb erfolglos. Die Ehe wurde daraufhin geschieden. Am 9. Juli 2016 heiratete der Kläger in Dänemark seine jetzige Ehefrau, die mit einem Schengen-Visum ins Bundesgebiet einreiste.
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Die Beklagte hatte am 19. Juni 2015 Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft gegen den Kläger und seine erste Ehefrau erstattet wegen des Verdachts, unrichtige und unvollständige Angaben zur Erlangung eines Aufenthaltstitels gemacht zu haben (Eheerklärung vom 17. September 2013).
8
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 5. Juli 2016 (844 Cs 383 Js 165338) wurden der Kläger und seine erste Ehefrau wegen des Erschleichens eines Aufenthaltstitels jeweils zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu 40,- bzw. 60,- Euro verurteilt. Das Gericht sah als Tathandlung die Eheerklärung vom 17. September 2013. Das Urteil wurde angefochten.
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Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 31. Januar 2017 wies die Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1), untersagte die Wiedereinreise für drei Jahre ab Ausreise (Nr. 2), nahm die ihm am 24. Mai 2011 und am 17. September 2013 verlängerten Aufenthaltserlaubnisse jeweils mit ursprünglicher Wirkung zurück (Nr. 3), lehnte den Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis vom 24. März 2015 [gemeint: 15. Juni 2015] ab (Nr. 4) und drohte ihm unter Bestimmung einer Ausreisefrist die Abschiebung nach Aserbaidschan oder einen anderen aufnahmebereiten Staat an (Nr. 5 des Bescheids).
10
In der sehr umfangreichen und ausführlichen Begründung des Bescheids ist im Wesentlichen dargelegt:
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Der Kläger habe ein schwer wiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG verwirklicht, da er mehrfach trotz Hinweisen auf die Strafbarkeit falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines Aufenthaltstitels gemacht habe, indem er seinen aktuellen Wohnsitz verschwiegen und den Trennungszeitpunkt 1. Juli 2013 verschwiegen bzw. hierzu falsche Angaben gemacht habe.
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Ein besonderes Bleibeinteresse bestehe nicht. Wegen der Rücknahme der früheren Aufenthaltserlaubnisse fehle es auch am Besitz einer Aufenthaltserlaubnis.
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In der Abwägung wird vor allem berücksichtigt, dass der Kläger erst im Mai 2010 in das Bundesgebiet eingereist sei, und somit mit dem Leben in seiner Heimat vertraut sei. Dort lebten auch seine Eltern und seine Ehefrau (seine dritte Ehefrau befand sich zu dieser Zeit wieder in Aserbaidschan).
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Die am 24. Mai 2011 und am 17. September 2013 verlängerten Aufenthaltserlaubnisse wurden gemäß Art. 48 Abs. 1 BayVwVfG mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Sie seien von Anfang an rechtswidrig gewesen, da der Kläger sie durch Abgabe von falschen Angaben und unvollständigen Erklärungen erhalten habe. In den ausführlichen Ermessenserwägungen ist dargelegt, dass das Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Zustände die Interessen des Klägers überwiege.
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Der Kläger erhob hiergegen am 27. Februar 2017 Klage mit dem Antrag, unter Aufhebung des Bescheids vom 31. Januar 2017 die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger eine Niederlassungserlaubnis, hilfsweise eine befristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
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Unter anderem wurde vorgetragen, in München sei die Gemeinde der aserbaidschanischen Staatsbürger sehr klein, es kämen aber immer wieder Touristen aus Aserbaidschan nach München, die sich hier einer ärztlichen Untersuchung und Behandlung unterziehen und länger in München aufhalten wollten. Für diese habe er ab dem 16. Oktober 2010 die Wohnung gemietet, in der er selbst erst seit etwa Ende November 2013 wohne. Zuvor habe er nur mit seiner ersten Ehefrau zusammengelebt und -gewohnt. Er sei auch nicht in die Eingehung der Scheinehe zwischen seiner (späteren) zweiten Ehefrau und seinem Arbeitskollegen involviert gewesen. Seine jetzige (dritte) Ehefrau habe ihren Familienstand deshalb als ledig angegeben, da die in Dänemark geschlossene Ehe noch nicht in ihre Ausweispapiere eingetragen sei. Somit seien die entsprechenden Vorwürfe gegen den Kläger haltlos und damit der Bescheid rechtswidrig. Das Strafverfahren sei noch nicht rechtskräftig abgeschlossen.
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In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 16. November 2017, in der die erste Ehefrau als Zeugin vernommen wurde, hoben die Vertreter der Beklagten die in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Rücknahme der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vom 24. Mai 2011 auf. Die Beteiligten erklärten insoweit „die Klage für erledigt“.
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Mit Urteil vom 16. November 2017 (M 27 K 17.797) stellte das Verwaltungsgericht das Verfahren ein, soweit das Verfahren übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt worden ist; im Übrigen wurde die Klage abgewiesen.
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Die Ausweisung sei rechtmäßig. Die Beklagte habe zu Recht das Vorliegen eines schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG aufgrund eines nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoßes des Klägers gegen Rechtsvorschriften angenommen. Sie habe sich hierbei auf die strafgerichtliche Verurteilung des Klägers vom 5. Juli 2016 stützen können; dass das Urteil noch nicht rechtskräftig sei, stehe dem nicht entgegen, da das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung nicht Voraussetzung für das Vorliegen dieses Ausweisungsinteresses sei, sofern hinreichende Anhaltspunkte für das Vorliegen des entsprechenden Rechtsverstoßes bestünden.
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Die Beklagte habe insbesondere aufgrund dieser strafgerichtlichen Verurteilung davon ausgehen können, dass die Trennung des Klägers von seiner (ersten) Ehefrau bereits am 1. Juli 2013 erfolgt war und er deshalb am 17. September 2013 auf dem entsprechenden Formblatt der Beklagten wahrheitswidrige Angaben gemacht habe. Als weiteres schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im vorliegenden Fall sei § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG erfüllt, da der Kläger damit gegenüber der Beklagten in einem Verwaltungsverfahren zur Erlangung eines deutschen Aufenthaltstitels falsche Angaben zum Zeitpunkt der Trennung von seiner damaligen Ehefrau gemacht habe. Bezüglich der Verneinung eines Bleibeinteresses i.S.v. § 55 AufenthG, der Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteresse gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG, der Rücknahme der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vom 27. September 2017, der Ablehnung der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder hilfsweise der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sowie der Ausreisefrist und Abschiebungsandrohung nahm das Verwaltungsgericht gemäß § 117 Abs. 5 VwGO auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid Bezug.
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Mit Beschluss vom 20. April 2018 (10 ZB 18.427) ließ der Senat die Berufung wegen eines Verfahrensfehlers zu.
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Zur Begründung seiner Berufung trug der Kläger vor, es bestehe kein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Die Verurteilung vom 5. Juli 2016 sei noch nicht rechtskräftig; auch bestünden keine hinreichenden Anhaltspunkte für das Bestehen eines Rechtsverstoßes. Im strafrechtlichen Berufungsverfahren seien auch die Zeugen geladen, deren Vernehmung das Verwaltungsgericht abgelehnt habe. Es werde sich ergeben, dass der Kläger und seine Ehefrau keine falschen Angaben über das Bestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft auch noch am 17. September 2013 gemacht hätten.
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Die Beklagte teilte mit, die aktuelle Ehefrau des Klägers sei mittlerweile mit einem italienischen Touristenvisum über Mailand nach München gekommen und aufgrund ihrer Schwangerschaft laut ärztlichem Attest nicht reisefähig. Sie verfüge nicht über einen Aufenthaltstitel für Deutschland; ein Ehegattennachzug scheide mangels der entsprechenden Voraussetzungen aus.
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Mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 12. Dezember 2018 (833 Ds 383 Js 199099/18) wurde die Anklage der Staatsanwaltschaft vom 22. Oktober 2018 gegen den Kläger wegen Anstiftung zum Erschleichen eines Aufenthaltstitels zur Hauptverhandlung zugelassen. Gegenstand der Anklage war die „Vermittlung“ der Ehe zwischen einem Arbeitskollegen und der späteren zweiten Ehefrau des Klägers (Eheschließung 13. Oktober 2013 in Dänemark). Das Verfahren wurde mit Beschluss des Landgerichts München I vom 25. Februar 2020 gemäß § 154 StPO eingestellt.
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Mit Urteil vom 25. Februar 2019 (25 Ns 383 Js 165338/15) änderte das Landgericht München I auf die Berufungen des Klägers und seiner ersten Ehefrau das Urteil des Amtsgerichts München vom 5. Juli 2016 (844 Cs 388 Js 165338/15) im Rechtsfolgenausspruch dahin ab, dass der Kläger zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu 60 Euro und seine erste Ehefrau zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu 30 Euro verurteilt wurde; die weitergehenden Berufungen der Angeklagten wurden als unbegründet verworfen. Das Gericht stellte fest, dass die Eheerklärung vom 17. September 2013 unrichtig war, da die Ehegatten, wie im Scheidungsverfahren mehrfach angegeben bzw. bestätigt, bereits seit dem 1. Juli 2013 getrennt lebten. Zudem sei der Kläger seit 2010 mit Mietvertrag vom 9. September 2010 ununterbrochen Mieter der Wohnung, in der er aktuell lebe. Das Gericht kam zu diesem Ergebnis unter anderem aufgrund der Vernehmung von 13 Zeugen. Beide Angeklagten hatten zur Sache keine Angaben gemacht, jedoch pauschal den ihnen zur Last gelegten Tatvorwurf bestritten.
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Das Bayerische Oberste Landesgericht verwarf mit Beschluss vom 22. Januar 2020 (205 St RR 1735/19) die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts als unbegründet.
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Der Kläger führte im vorliegenden Berufungsverfahrens abschließend noch aus, er sei zwar mittlerweile rechtskräftig wegen des Erschleichens eines Aufenthaltstitels zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen verurteilt worden. Der Tatvorwurf beschränke sich jedoch auf die falschen Angaben, die er und seine damalige Ehefrau am 17. September 2013 bei einer sogenannten Ehegattenerklärung gemacht hätten. Die Geldstrafe liege in ihrer Höhe nur knapp über der Bagatellgrenze, die bei 60 Tagessätzen anzunehmen sei. Ferner könne zu seinen Gunsten vorgebracht werden, dass er darüber hinaus bis heute straffrei geblieben sei. Auch stehe er seit 2010 im selben Arbeitsverhältnis, habe niemals staatliche Hilfe oder Unterstützung beanspruchen müssen und sich - abgesehen von der einzigen Straftat - sprachlich und insgesamt gut im Bundesgebiet integrieren können. In dem vorgelegten Zwischenzeugnis seines Arbeitgebers vom 30. November 2020 habe er sehr gute Beurteilungen erhalten. Dies alles spreche dafür, dass die in Rede stehende strafrechtliche Verurteilung ein einmaliges Fehlverhalten darstelle und sich nicht wiederholen werde.
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Er sei mit einer aserbaidschanischen Staatsangehörigen verheiratet, mit der er zwei Kinder habe, die 2018 bzw. 2019 jeweils in München geboren seien. Die Familie lebe mit ihm zusammen in seiner Wohnung. Er komme für den Familienunterhalt allein auf; er verdiene fast 3.500 Euro netto. Problematisch sei allerdings der fehlende Aufenthaltsstatus der Ehefrau und der beiden Kinder. In dem laufenden Verfahren sei der Ausländerbehörde angezeigt worden, dass Frau und Kinder bei ihm wohnten. Alle Familienmitglieder seien angemeldet.
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Ein weiteres Problem stelle nunmehr die aktuelle Situation in Aserbaidschan dar. Die Familie des Klägers und auch seiner jetzigen Ehefrau hätten zwar die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit, seien aber eigentlich Armenier und zählten als Christen zur Minderheit in Aserbaidschan. Die Familien lebten genau in dem Gebiet, wo zuletzt Kämpfe zwischen beiden Ländern stattgefunden hätten. Seine in Aserbaidschan lebenden Eltern seien hochbetagt, erhielten nur eine kleine Rente, und er habe keinen Kontakt zu ihnen.
30
Der Kläger beantragte zuletzt,
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1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 16. November 2017 wird aufgehoben, soweit damit die Klage des Klägers abgewiesen worden ist.
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2. Der Bescheid der Beklagten vom 31. Januar 2017 in der am 16. November 2017 geänderten Fassung wird aufgehoben.
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3. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger auf seinen Antrag hin eine Aufenthaltserlaubnis (nicht mehr Niederlassungserlaubnis) zu erteilen.
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Die Beklagte beantragte,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie trug vor, die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet ergebe sich sowohl aus spezialpräventiven wie aus generalpräventiven Gründen.
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Vom Kläger gehe weiterhin eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus. Durch die mittlerweile rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung werde der Tatvorwurf bestätigt, den die Beklagte in ihrem Bescheid vom 31. Januar 2017 und das Verwaltungsgericht im erstinstanzlichen Urteil vom 16. November 2017 zugrunde gelegt hätten. Damit stehe fest, dass der Kläger unrichtige bzw. unvollständige Angaben sowohl hinsichtlich des Bestands seiner ehelichen Lebensgemeinschaft als auch bezüglich seiner Wohnung gemacht habe. Hinzuweisen sei hier auch darauf, dass noch weitere Verfahren wegen verschiedener Delikte gegen den Kläger geführt worden seien, die - meist nach § 154 StPO - eingestellt worden seien. Insgesamt habe der Kläger somit durch sein vergangenes Verhalten zum Ausdruck gebracht, dass von ihm eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe. Insbesondere hinsichtlich der Falschangaben über den Bestand seiner ehelichen Lebensgemeinschaft und seinen Wohnsitz und den damit für ihn verbundenen positiven Wirkungen (Verfestigung im Bundesgebiet, Erschleichung Aufenthaltstitel, Beantragung Niederlassungserlaubnis) sei davon auszugehen, dass dieser in künftigen Verwaltungsverfahren erneut falsche Angaben über relevante persönliche Umstände machen werde, wenn dies für ihn nützlich erscheine. Auf künftiges rechtstreues Verhalten des Klägers lasse dies jedenfalls nicht schließen. Hiervon sei insbesondere auch deshalb auszugehen, weil auch im weiteren Verwaltungsverfahren die Neigung des Klägers zu unzuverlässigem Verhalten und teilweise fehlender Bereitschaft zur Mitwirkung zu erkennen sei. Dies betreffe beispielsweise die Klärung der aufenthaltsrechtlichen Fragen hinsichtlich seiner Ehefrau und seiner beiden Kinder sowie der Vorlage gültiger Nationalpässe. Mehrfachen Aufforderungen z.B. zur Vorlage von Unterlagen sei der Kläger regelmäßig nicht oder lediglich verspätet nachgekommen.
38
Unabhängig davon sei die Ausweisung des Klägers auch aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt. Im Hinblick auf das Erschleichen eines Aufenthaltstitels durch falsche Angaben gegenüber der Ausländerbehörde solle Ausländern vor Augen geführt werden, dass derartige Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz mit der sofortigen Aufenthaltsbeendigung und einem damit einhergehenden Aufenthaltsverbot bedacht würden. Dies gelte umso mehr, da die Behörden auf richtige und vollständige Angaben durch den jeweiligen Antragsteller im Verwaltungsverfahren angewiesen seien.
39
In der Gesamtabwägung überwiege das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse. Die persönlichen, durch Art. 8 EMRK, Art. 6 GG und Art. 7 GRCh geschützten Interessen stünden einer Ausweisung nicht entgegen. Der Kläger halte sich seit nunmehr 10 Jahren im Bundesgebiet auf, wobei ein Teil seines Aufenthalts jedoch auf falschen Angaben gegenüber der Ausländerbehörde beruhe. Seine dritte Ehefrau und der ältere Sohn lebten mit ihm zusammen, seien jedoch ebenfalls ausreisepflichtig; die Grenzübertrittsbescheinigung der Ehefrau sei bereits am 14. August 2018 abgelaufen, bisher sei keine weitere Vorsprache bzw. Verlängerung erfolgt. Es sei davon auszugehen, dass auch der zweite Sohn bei der Familie lebe; nähere Einzelheiten seien nicht bekannt, da er weder melde- noch ausländerrechtlich erfasst sei. Die Beklagte habe bereits am 28. Februar 2020 Geburtsurkunden angefordert, der Kläger diese jedoch erst am 13. August 2020 bzw. am 30. Dezember 2020 vorgelegt. Ebenfalls fehle es an einem Nationalpass. Die gesamte im Bundesgebiet mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft lebende Familie sei somit ebenfalls ausreisepflichtig. Trotz der geregelten langjährigen Beschäftigung als Kraftfahrer könne von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland nicht ausgegangen werden, zumal die berufliche individuelle Integrationsleistung auch auf einem durch Falschangaben erschlichenen Aufenthalt beruhe und dieser somit nur ein geringeres Gewicht zukomme.
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Eine Rückkehr nach Aserbaidschan sei ihm zumutbar, da er die Landessprache beherrsche, erst mit 37 Jahren nach Deutschland gekommen sei und mit seinen dort lebenden Eltern eine erste familiäre Anlaufstelle habe. Eine Entwurzelung habe demnach nicht stattgefunden. Seine Familie im Bundesgebiet sei hingegen ausreisepflichtig und könne den Kläger bei einer Rückkehr ins Heimatland begleiten.
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Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei nach pflichtgemäßem Ermessen entschieden worden, wozu auf den Bescheid vom 31. Januar 2017 verwiesen werde.
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Auch die Rücknahme entspreche pflichtgemäßem Ermessen. Auch unter Zugrundelegung bzw. Würdigung der neu eingetretenen Ereignisse, insbesondere der familiären Situation, der mittlerweile rechtskräftigen Verurteilung, der beruflichen individuellen Integrationsleistung und des nunmehr zehnjährigen Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet würden die öffentlichen Interessen an der Rücknahme des Aufenthaltstitels die privaten Belange des Klägers überwiegen. Auf die vorstehenden Erwägungen werde verwiesen. Insbesondere könne der Zweck der Rücknahme, die Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände, nur durch die Rücknahme des rechtswidrig erteilten Aufenthaltstitels gewährleistet werden. Die konsequente Rücknahme eines durch Falschangaben erschlichenen Aufenthaltstitels sei vor allem geeignet, auch unmittelbar auf das Verhalten anderer Ausländer einzuwirken und damit künftigen vergleichbaren Delikten generalpräventiv vorzubeugen.
43
Die Landesanwaltschaft Bayern beteiligte sich als Vertreter des öffentlichen Interesses am Verfahren. Sie stellte keinen eigenen Antrag, unterstützte jedoch den Antrag der Beklagten.
44
Der Senat hat am 29. März 2021 mündlich verhandelt.
45
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen und der Behördenakten verwiesen.
Gründe
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Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Die noch verfahrensgegenständliche Klageabweisung durch das Verwaltungsgericht ist rechtmäßig.
47
Gegenstand der Klage sind die gegen den Kläger mit dem Bescheid der Beklagten vom 31. Januar 2017verfügte Ausweisung, der Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots mit einer Befristung von drei Jahren, die Rücknahme der am 17. September 2013 erfolgten Verlängerung der ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis und die Androhung der Abschiebung sowie die begehrte Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
48
1. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
49
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der der Entscheidung des Senats (stRspr, vgl. zuletzt BVerwG, U.v. 9.5.2019 - 1 C 21.18 - juris Rn. 11).
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Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage im Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an seiner Ausreise mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
51
a) Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet ergibt sich sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen.
52
Der Kläger ist - mittlerweile rechtskräftig - wegen Erschleichens eines Aufenthaltstitels zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen verurteilt worden und erfüllt damit ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG sowie nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG. Bei der damit abgeurteilten Straftat handelt es nicht um einen nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinn des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Diese Vorschrift ist dahin zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er sowohl vereinzelt als auch geringfügig ist. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich nicht geringfügig; dies kann nur dann in Betracht kommen, wenn ein strafrechtliches Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt worden ist (siehe schon BVerwG, U.v. 24.9.1996 - 1 C 9.94 - juris Rn. 20 f.). Allgemein wird eine Straftat als noch geringfügig angesehen, wenn sie zu einer Verurteilung von bis zu 30 Tagessätzen geführt hat oder als geringfügig eingestellt worden ist und der wegen dieser Tat festgesetzte Geldbetrag nicht mehr als 500 Euro betragen hat oder wenn sie als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße von nicht mehr als 300 Euro geahndet worden ist; erforderlich ist jedoch immer eine wertende und abwägende Beurteilung (vgl. Katzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.1.2021, § 54 AufenthG Rn. 95 ff.; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 95; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.1.2021, § 54 AufenthG Rn. 323 ff.). Nach der Rechtsprechung des Senats stellen vorsätzliche Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften (wie etwa unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt, Täuschung der Ausländerbehörden) in aller Regel keine geringfügigen Rechtsverstöße dar (BayVGH, B.v. 18.9.2020 - 10 CE 20.1914, 10 CS 20.1915 - juris Rn. 30); bestätigt wird dies dadurch, dass der Gesetzgeber in § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines Aufenthaltstitels ausdrücklich als schwerwiegendes Ausweisungsinteresse festlegt.
53
Die Straftat des Klägers ist jedenfalls schon nicht geringfügig. Der Kläger wurde wegen der vorsätzlichen Straftat des Erschleichens eines Aufenthaltstitels (§ 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG) zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen verurteilt. Weder die Tathandlung (Täuschen über das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft, Täuschen über das Innehaben einer weiteren Wohnung, jeweils bei der Beantragung der Verlängerung der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis) noch die Strafhöhe lassen Raum für die Annahme einer lediglich geringfügigen Straftat. Auch sind keinerlei besondere Umstände erkennbar, die die Tat bzw. die Verurteilung in ihrer Bedeutung mindern könnten. Die vom Kläger vorgetragene damalige schwere Erkrankung seiner ersten Ehefrau während der Trennung und Scheidung könnte allenfalls deren damalige Falschangaben relativieren, nicht aber diejenigen des Klägers. Auch die Meinung des Klägers, das Abstellen allein auf eine vorsätzliche Tat sei nicht sachgerecht, weil dann auch geringfügige Verletzungen von Rechtsvorschriften, die von Strafrichtern regelmäßig eingestellt würden, ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse begründen würden, trifft nicht zu. Wie dargelegt, ist in derartigen Fällen durchaus das individuelle Gewicht des jeweiligen Rechtsverstoßes zu würdigen; eine strafrechtliche Verfahrenseinstellung würde in der Regel zu der Annahme eines auch im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG geringfügigen Rechtsverstoßes führen.
54
b) Die mit der Verwirklichung der genannten Tatbestände indizierte Gefährdung öffentlicher Interessen im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG besteht auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats fort, weil eine Wiederholungsgefahr besteht und vom Kläger somit nach wie vor eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeht.
55
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 12.10.2020 - 10 B 20.1795 - juris Rn. 28; BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18).
56
Der Kläger hat die ihm vorzuwerfenden Rechtsverstöße weder als isolierte Einzeltat begangen, noch sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass es sich dabei um eine außergewöhnliche Sondersituation handelte, deren Wiederholung nicht zu erwarten ist. Hinzuweisen ist darauf, dass gegen den Kläger noch ein weiteres Verfahren wegen Anstiftung zum Erschleichen eines Aufenthaltstitels („Vermittlung“ der Ehe eines Arbeitskollegen mit der späteren zweiten Ehefrau des Klägers) geführt wurde, in dem die Anklage vom Strafgericht zugelassen wurde und das erst am 25. Februar 2020 gemäß § 154 StPO eingestellt worden ist. Ferner weist die Beklagte mit ihrer abschließenden Stellungnahme auch darauf hin, dass gegen den Kläger noch weitere Verfahren wegen verschiedener Delikte geführt wurden, die - meist nach § 154 StPO - eingestellt worden sind.
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Nach alldem ist die Prognose gerechtfertigt, dass im Fall des Klägers auch in Zukunft die konkrete Gefahr besteht, dass er in künftigen Verwaltungsverfahren erneut falsche oder unvollständige Angaben über relevante persönliche Umstände machen wird, wenn ihm dies nützlich oder vorteilhaft erscheint. Diese Erwartung wird bereits bestätigt durch das zuletzt vom ihm an den Tag gelegte Verhalten hinsichtlich der melde- und aufenthaltsrechtlichen Situation seiner Ehefrau und seiner beiden Kinder. Die Beklagte hat in ihrer abschließenden Stellungnahme und ebenso in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass auch hier eine Neigung des Klägers zu unzuverlässigem Verhalten und teilweise eine fehlende Bereitschaft zur Mitwirkung zu erkennen sei. So habe er Unterlagen wie etwa die angeforderten Geburtsurkunden der Kinder nur nach teils mehrmaliger Aufforderung und mit langer Verzögerung vorgelegt. Die Kinder, ebenso wie die Ehefrau, halten sich illegal im Bundesgebiet auf, ohne dass der Kläger sich um die Erteilung eines Aufenthaltstitels oder auch nur etwa einer Duldung bemüht hätte; er hat insoweit nicht einmal Nationalpässe vorgelegt. Auch aus diesem Verhalten ist zu schließen, dass ein rechtstreues Verhalten des Klägers insbesondere in Bezug auf aufenthaltsrechtliche Vorschriften in Zukunft nicht zu erwarten ist.
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c) Unabhängig davon gefährdet der Aufenthalt des Klägers auch im Hinblick auf generalpräventive Erwägungen die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
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Eine Ausweisung kann auch nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht regelmäßig (zu Ausnahmen bei durch § 53 Abs. 3 bis 4 AufenthG besonders geschützten Personenkreisen BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 1 C 16/17 - juris Rn. 19 unter Verweis auf BT-Drs. 18/4097 S. 49) auf generalpräventive Gründe gestützt werden. Denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, U.v. 9.5.2019 - 1 C 21.18 - juris Rn.17; BayVGH, U.v. 12.10.2020 - 10 B 20.1795 - juris Rn. 32 ff.). Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es - anders als unter Geltung von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F. - nicht der Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie Drogendelikte, Delikte im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder im Zusammenhang mit Terrorismus. Nach der Rechtsprechung des Senats können im Einzelfall auch Falschangaben zur Erlangung einer Duldung (BayVGH, B.v. 10.12.2018 - 10 ZB 16.1511 - juris Rn. 19; B.v. 17.9.2020 - 10 C 20.1895 - juris Rn. 10), eine Identitätstäuschung gegenüber der Ausländerbehörde (BayVGH, B.v. 6.3.2020 - 10 ZB 19.2419 - juris Rn. 5), Falschangaben im Visumverfahren (BayVGH, B.v. 28.12.2018 - 10 C 18.1361 - juris Rn. 13), die Verletzung der Passpflicht (BayVGH, B.v. 4.5.2020 - 20.666 - juris Rn. 8) oder Körperverletzung (BayVGH, B.v. 27.4.2020 - 10 C 20.51 - juris Rn. 7) ein generalpräventives Ausweisungsinteresse begründen. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, U.v. 3.5.1973 - I C 33.72 - juris Rn. 34; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 64; Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Auflage 2020, § 7 Rn. 27; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.1.2021, § 53 AufenthG Rn. 32). Auch muss das Ausweisungsinteresse noch aktuell sein (BVerwG, U.v. 9.5.2019 - 1 C 21.18 - juris Rn.17). Darüber hinaus sind Art und Schwere der jeweiligen Anlasstat lediglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (so auch Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 63).
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Gemessen daran besteht im Fall des Klägers ein generalpräventives Ausweisungsinteresse. Gerade bei der vom Kläger begangenen vorsätzlichen Straftat im Zusammenhang mit seinen ausländerrechtlichen Pflichten besteht nach der dargestellten Rechtsprechung des Senats ein erhebliches öffentliches Interesse, andere Ausländer davon abzuhalten, vergleichbare Verstöße zu begehen. Die mit dem Vollzug des Aufenthaltsrechts beauftragten Behörden sind in vielen Fällen auf die eigenen Angaben des antragstellenden Ausländers angewiesen, da gerade persönliche und familiäre Umstände nicht oder nur mit hohem Aufwand durch die Behörden ermittelt werden können. Der Wahrheit und Vollständigkeit dieser Angaben kommt daher ein hoher Stellenwert zu, die der Gesetzgeber mit der Strafandrohung des § 95 Abs. 2 AufenthG (Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe) noch einmal verdeutlicht hat. Daher ist es gerechtfertigt, auch anderen Ausländern vor Augen zu führen, dass das Erschleichen eines Aufenthaltstitels durch falsche Angaben nicht nur zu strafrechtlichen Konsequenzen führt, sondern auch die Aufenthaltsbeendigung sowie ein nachfolgendes Einreise- und Aufenthaltsverbot nach sich ziehen kann.
61
Das generalpräventive Ausweisungsinteresse ist im Falle des Klägers auch noch aktuell. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 12.7.2018 - 1 C 16.17 - juris Rn. 23) für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln (vgl. BayVGH, B.v. 4.5.2020 - 10 ZB 20.666 - juris Rn. 8). Da das Erschleichen eines Aufenthaltstitels nach § 95 Abs. 2 AufenthG gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB in fünf Jahren verjährt, die regelmäßige Obergrenze also 10 Jahre beträgt, ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats etwa siebeneinhalb Jahre nach der Tat (Eheerklärung vom 17. September 2013) die Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses immer noch zu bejahen. Dies rechtfertigt sich auch deswegen, weil die strafrechtliche Verurteilung erst seit etwas über einem Jahr rechtskräftig ist (Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 22. Januar 2020), nachdem sich das Strafverfahren seit der Anzeigeerstattung durch die Beklagte im Juni 2015 über mehrere Jahre hingezogen hatte.
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d) Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet führt dazu, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise die Bleibeinteressen des Klägers überwiegt.
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Voraussetzung für eine Ausweisung bei einer bestehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers ist gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird. Dieser Grundsatz des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch § 54 und § 55 AufenthG weitere Konkretisierungen. Einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird von vornherein ein spezifisches bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen. Bei der Abwägung des Interesses an der Ausreise mit den Bleibeinteressen sind darüber hinaus die in § 53 Abs. 2 AufenthG aufgeführten Umstände (näher dazu etwa BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - juris Rn. 24 f.) in die wertende Gesamtbetrachtung einzubeziehen.
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Der Kläger erfüllt - wie dargestellt - ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG sowie nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG. Auch wenn der Kläger „nur“ zu einer Geldstrafe verurteilt und dem § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vom Gesetzgeber nur eine „Auffangfunktion“ beigelegt wurde (so die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/4097, S. 52), kommt dem Ausweisungsinteresse bei der Abwägung im konkreten Einzelfall ein erhebliches Gewicht zu. Der Kläger hat bei seiner Erklärung am 17. September 2013 falsche bzw. unvollständige Angaben gemacht und damit in rechtswidriger Weise die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis erreicht; in der Folge setzte sich die Rechtswidrigkeit seines Aufenthalts letztlich bis zum jetzigen Zeitpunkt fort. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Kläger zum Zeitpunkt seiner Erklärung möglicherweise bereits einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr aus einem eigenständigen Aufenthaltsrecht nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG gehabt hätte. Anstatt die Prüfung eines derartigen Rechts anzustoßen, hat er es aus letztlich nicht bekannten Gründen vorgezogen, falsche Angaben zu machen. Das Gewicht, das der Gesetzgeber dem sich aus Falschangaben gegenüber den Ausländerbehörden ergebenden Ausweisungsinteresse beigemessen hat, ergibt sich auch aus der Regelung in § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG, nach der falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines Aufenthaltstitels ausdrücklich als schwer wiegend festgelegt sind, selbst wenn solche Angaben nicht zu einer Verurteilung geführt haben.
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Das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt dieses schwerwiegende Ausweisungsinteresse nicht. Unbestritten besteht zu Gunsten des Klägers kein besonders schwer wiegendes Bleibeinteresse im Sinn von § 55 Abs. 1 AufenthG; insbesondere besitzt er keine Aufenthaltserlaubnis. Als „vertyptes“ schwer wiegendes Bleibeinteresse wirkt zugunsten des Klägers lediglich § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG, weil die Belange oder das Wohl der beiden Kinder des Klägers zu berücksichtigen sind. Dieser Vorschrift kommt allerdings nur eine Auffangfunktion zu, weil die Belange von Kindern (wie auch von anderen Familienmitgliedern) unabhängig davon in jedem Einzelfall mit dem ihnen zukommenden besonderen Gewicht (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) berücksichtigt werden müssen (Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, § 55 AufenthG Rn. 113; Katzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.1.2021, § 55 AufenthG Rn. 42). Die beiden Kinder des Klägers, die - ebenso wie seine Ehefrau - mit ihm zusammenleben, sind noch im Kleinkindalter; sie halten sich ebenso wie seine Ehefrau illegal in der Bundesrepublik auf. Der Kläger hat nach Aktenlage bisher keine Anstalten unternommen, um deren ausländerrechtlichen Status zu klären; nach dem Vortrag der Beklagten hat der Kläger auch Angaben insbesondere bezüglich der Kinder nur zögerlich bzw. mit großer Verspätung gemacht. Es kann daher erwartet werden, dass seine Ehefrau und seine Kinder mit ihm zusammen als Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehren werden; eine Trennung der Familienmitglieder ergibt sich aus der Ausweisung gerade nicht.
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Für den Kläger spricht ferner sein mittlerweile seit fast elf Jahren andauernder Aufenthalt im Bundesgebiet und seine langjährige berufliche Integration als Kraftfahrer (siehe das in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Arbeitszeugnis vom 16. März 2021). Allerdings ist hier zu sehen, dass gerade dieser Aufenthalt zu einem erheblichen Teil auf den (schon) im Jahr 2013 gemachten Falschangaben beruht.
67
Die Beklagte weist ferner zu Recht darauf hin, dass der Kläger erst im Alter von 37 Jahren in das Bundesgebiet eingereist ist. Er beherrscht die Landessprache und ist mit den Verhältnissen in seinem Herkunftsland von Jugend auf vertraut. Aus den Akten ergeben sich auch vielfältige persönliche Beziehungen und häufige Reisen nach Aserbaidschan; so hat er etwa gegenüber dem Verwaltungsgericht vorgetragen, dass er häufig „Touristen“ aus seinem Heimatland, die sich hier zu medizinischen Behandlungen aufgehalten hätten, beherbergt und betreut habe. Sein Vortrag, er und ebenso seine Ehefrau seien zwar aserbaidschanische Staatsangehörige, aber „eigentlich Armenier“ und zählten als Christen zur Minderheit in Aserbaidschan, weshalb sich aus der aktuellen Situation dort ein „Problem“ ergebe, bleibt völlig unsubstantiiert und vage. Der Senat geht daher davon aus, dass sich der Kläger mit seiner Familie ohne größere Schwierigkeiten in seinem Heimatland wieder zurechtfinden wird, auch wenn seine Eltern, wie er vorträgt, bereits hochbetagt sind und ihn mit ihrer geringen Rente nicht unterstützen können.
68
2. Die Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids, mit der die Wiedereinreise für drei Jahre untersagt wird, entspricht zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats den Anforderungen des § 11 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG (i.d.F. des Gesetzes vom 15.8.2019, BGBl I 1294). Bezüglich der Fristbestimmung (§ 11 Abs. 3 AufenthG) sind im Rahmen des § 114 Satz 1 VwGO beachtliche Ermessensfehler nicht erkennbar; der Kläger hat insoweit auch nichts vorgetragen.
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3. Die Rücknahme der am 17. September 2013 verlängerten Aufenthaltserlaubnis mit Wirkung für die Vergangenheit ist ebenfalls rechtmäßig.
70
Gemäß Art. 48 Abs. 1 BayVwVfG kann ein rechtswidriger, begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden, wobei gemäß Art. 48 Abs. 3 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Satz 4 BayVwVfG der Betroffene sich nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen kann, wenn er den Verwaltungsakt durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren; in diesem Fall wird der Verwaltungsakt in der Regel mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen.
71
Der Kläger hat die Verlängerung der ihm am 17. September 2013 erteilten (und bis zum 16. September 2016 gültigen) Aufenthaltserlaubnis, wie bereits dargelegt, durch falsche und unvollständige Angaben erwirkt, denn bei wahrheitsgemäßen Angaben hinsichtlich des Nichtbestehens der ehelichen Lebensgemeinschaft und der Wohnverhältnisse wäre seine ehebezogene Aufenthaltserlaubnis nach § 27 Abs. 1 i.V.m. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht verlängert worden. Hinsichtlich der Voraussetzungen für die Rücknahme im Einzelnen wird auf die ausführlichen Darlegungen in dem streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
72
Auch im Rahmen des § 114 Satz 1 VwGO beachtliche Ermessenfehler liegen nicht vor. Da maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit auch im Fall einer Rücknahme der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats ist (BVerwG, U.v. 13.4.2010 - 1 C 10.09 - juris Rn. 11), waren auch nach Bescheidserlass eingetretene Gesichtspunkte in die Ermessenserwägungen einzustellen. Die Beklagte hat in Erfüllung ihrer Obliegenheit zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle (BVerwG, U.v. 13.4.2010 - 1 C 10.09 - juris Rn. 24) ihre Ermessenserwägungen mit ihrer abschließenden Stellungnahme (eingegangen am 8. Januar 2021) aktualisiert und nach erneuter Würdigung an ihrer Ermessenentscheidung festgehalten. Ihre Feststellung, dass in Anbetracht aller Umstände (weiterhin) der Herstellung rechtmäßiger Zustände durch die Rücknahme der durch falsche und unvollständige Angaben erschlichenen Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis der Vorrang einzuräumen ist, ist nicht zu beanstanden.
73
4. Ebenso bleibt der Antrag, die Beklagte zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger zu verpflichten, erfolglos; der Kläger hat hierauf keinen Anspruch (§ 113 Abs. 5 VwGO).
74
Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht schon die Sperrwirkung der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG entgegen. Ihm dürfte selbst im Fall eines gesetzlichen Anspruchs kein Aufenthaltstitel erteilt werden.
75
5. Die Abschiebungsandrohung entspricht §§ 58, 59 AufenthG.
76
Nach alldem war die Berufung zurückzuweisen.
77
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
78
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
79
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.