Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 25.03.2021 – AN 18 K 17.31063
Titel:

Abschiebungsverbot aus humanitären Gründen

Normenkette:
AufenthG § 60 Abs. 5
Leitsatz:
Ein Abschiebungsverbot aus humanitären Gründen nach Afghanistan besteht, wenn nach Überzeugungsgewissheit des Gerichts feststeht, dass der unter rechtlicher Betreuung stehende Ausländer sich nicht allein zurecht findet und Gefahr läuft, sich nicht selbst zu versorgen und dadurch zu verelenden. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Afghanistan, Abschiebungsverbot, gem. § 60 Abs. 5 AufenthG, arbeitsfähiger Mann, Epilepsie, Betreuung, Verelendung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 11961

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. Februar 2017 wird in Ziffer 4 bis 6 aufgehoben.
2. Das Bundesamt wird verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG in der Person des Klägers vorliegen.
3. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens, reiste nach eigenen Angaben am 10. Januar 2015 auf dem Landwege in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 21. September 2015 einen formellen Asylerstantrag.
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Im Rahmen seiner Anhörung gemäß § 25 AsylG am 25. Januar 2017 erklärte der Kläger gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), dass er sein Heimatland am 29. April 2013 verlassen habe, weil er unter einer Epilepsieerkrankung leide und wegen seiner Krankheit in Afghanistan diskriminiert worden sei. Die epileptischen Anfälle hätten begonnen, als er die 3. Klasse besucht habe. Wenn er einen Anfall bekomme, habe er Schaum am Mund, und der Mund verkrampfe sich. Er bekomme Schmerzen und könne nicht atmen. Er habe dann Krämpfe am ganzen Körper. In Afghanistan habe er teilweise acht Mal am Tag solche Anfälle erlitten. Eine ärztliche Behandlung habe sich die Familie in Afghanistan nicht leisten können.
3
Sie seien daher nur in die Apotheke gegangen und hätten ein Medikament gekauft (Phenobarbital), welches der Mutter empfohlen worden sei. Dieses Medikament habe jedoch überhaupt nicht geholfen. Als es mit den Anfällen in der 3. Klasse losgegangen sei, habe der Kläger nicht mehr täglich die Schule besuchen können und seine Noten seien schlechter geworden. Eigentlich habe man ihn von der Schule suspendieren wollen, da er nicht mehr zuverlässig gewesen sei. Da jedoch seine Mutter an dieser Schule Lehrerin gewesen sei, habe er bleiben können. In der 8. Klasse habe er die Schule beenden müssen, weil seine Lehrerin das Land verlassen habe.
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Der Kläger führte aus, dass er seit neun oder zehn Monaten keinen Kontakt mehr zu seinen in Afghanistan lebenden Eltern habe. Außerdem gebe es noch einen Cousin und auch Geschwister, mit denen er aber keinen Kontakt mehr habe. Der Kontakt zu den Eltern und den Geschwistern sei nach einer Bombenexplosion in der Schule der Mutter abgebrochen. Dabei sei die Mutter verletzt worden.
5
Der Kläger übergab zu den Akten des Bundesamtes mehrere Arztbriefe, darunter ein Arztbrief der Praxis Dr. med. …, vom 11. Januar 2017 (Blatt 75 f. der Bundesamtsakte). Darin ist unter „Diagnose“ vermerkt: „Generalisierte idiopathische Epilepsie und epileptische Syndrome“ sowie „Anpassungsstörungen“.
6
Des Weiteren liegt unter anderem eine ärztliche Bescheinigung des Privatdozenten Dr. med. …, Facharzt für Neurologie, … vom 1. Dezember 2015 (Blatt 85 der Bundesamtsakte) vor, wonach beim Kläger eine „idiopathische Epilepsie mit myoklonischen Anfällen und tonisch klonischen Anfällen“ besteht. Darin wird ausgeführt, dass im Falle eines tonisch klonischen Anfalls bei einer Anfallsdauer über drei Minuten eine Diazepam Rectiole verabreicht werden solle. Könne der Anfall damit nicht beendet werden, müsse ein Notarzt gerufen werden. Sollte ein solches Anfallsgeschehen in einem Umfeld auftreten, in dem keine Erfahrung im Umgang mit epileptischen Anfällen bestehe, werde primär das Rufen eines Notarztes empfohlen.
7
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 9. Februar 2017, dem Kläger mittels Postzustellungsurkunde am 13. Februar 2017 zugestellt, werden die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt (Ziffer 1), der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (Ziffer 2) sowie der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (Ziffer 3). In Ziffer 4 des Bescheids wird festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wird in Ziffer 5 aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen. Bei Nichteinhaltung wird außerdem die Abschiebung - in erster Linie - nach Afghanistan angedroht. In Ziffer 6 des Bescheids wird das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Gründe des Bescheids vom 9. Februar 2017 Bezug genommen (Blatt 91 ff. der Bundesamtsakte).
9
Mit bei Gericht am 27. Februar 2017 eingegangenem Schriftsatz erhob die Betreuerin des Klägers Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 9. Februar 2017.
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Durch Schriftsatz vom 3. März 2017, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach am 14. März 2017 eingegangen, beantrage die Beklagte
Klageabweisung.
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Mit Schriftsatz vom 19. März 2018 zeigte die Bevollmächtigte des Klägers die Vertretung an und beantragte Prozesskostenhilfe.
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Durch Beschluss der 18. Kammer vom 27. Januar 2021 wurde der Rechtsstreit der Berichterstatterin zur Entscheidung als Einzelrichterin übertragen.
13
Mit Beschluss der Einzelrichterin vom 27. Januar 2021 wurde dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt und die Prozessbevollmächtigte beigeordnet, soweit mit der Klage die Feststellung eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans begehrt wird. Im Übrigen wurde der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Rechtsanwaltsbeiordnung abgelehnt.
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In der mündlichen Verhandlung am 22. März 2021 wurde die Klage auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG beschränkt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die in der mündlichen Verhandlung vom 22. März 2021 beschränkte Verpflichtungsklage auf die Feststellung, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt, ist zulässig und begründet, so dass unter Aufhebung des insoweit nur noch angefochtenen Bundesamtsbescheids vom 9. Februar 2017 in den Ziffern 4 bis 6 das Bundesamt entsprechend zu verpflichten war. Die mündliche Verhandlung, in der sich die zur Entscheidung berufene Einzelrichterin (§ 76 Abs. 1 AsylG) ein Bild von dem Kläger und seines seelischen und körperlichen Zustandes machen konnte, hat ergeben, dass der Bundesamtsbescheid vom 9. Februar 2017 in den streitgegenständlichen Ziffern 4 bis 6 rechtswidrig ist und den Kläger in eigenen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 VwGO. Im hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) hat der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans, so dass das Bundesamt entsprechend zur Feststellung zu verpflichten war, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
17
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen werden. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass auch schlechte humanitäre Verhältnisse eine unmenschliche oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen können. Dies gilt allerdings insbesondere nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nicht einschränkungslos, so dass ein alleinstehender und arbeitsfähiger Mann in der Regel nach Afghanistan zurückgeführt werden kann, ohne dass dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nach sich ziehen würde (vgl. z.B. BayVGH, B. v. 17.12.2020, 13a B 20.30957, juris).
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Auf eine Entscheidung, ob und inwieweit sich die Corona-Panemie auf die humanitäre Lage in Afghanistan derart ausgewirkt hat, dass für alleinstehende männliche und arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben sind oder nicht, kommt es vorliegend nicht an.
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So hat sich die Einzelrichterin in der am 22. März 2021 durchgeführten mündlichen Verhandlung davon überzeugen können, dass es sich bei dem Kläger gerade nicht um einen leistungsfähigen bzw. arbeitsfähigen Mann handelt. Nach Befragung des Klägers steht zur Überzeugungsgewissheit der Einzelrichterin (§ 108 Abs. 1 VwGO) fest, dass der Kläger, der unter rechtlicher Betreuung steht und nach dem Dafürhalten des Gerichts noch nicht einmal in Deutschland in der Lage ist, sich allein zurecht zu finden, in Afghanistan Gefahr liefe, sich nicht selbst zu versorgen und dadurch zu verelenden.
20
Der Kläger machte in der mündlichen Verhandlung einen sehr angespannten, gleichzeitig unkonzentrierten und geistig abwesenden Eindruck. Dieser Eindruck wird bestätigt durch die Tatsache, dass der Kläger nicht einmal in der Lage gewesen ist, selbstständig und pünktlich zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen. Vielmehr musste er durch seine Betreuerin persönlich abgeholt und in das Gericht gebracht werden. Dieser Eindruck passt auch zu dem Bild, welches die in der mündlichen Verhandlung anwesende Betreuerin des Klägers gezeichnet hat. Dieser sei in seinem Alltag fast durchweg auf Unterstützung angewiesen. Er habe insbesondere große Mühe, sich zu konzentrieren, weswegen es für ihn sehr schwierig sei, eine berufliche Ausbildung zu beginnen, dort richtig Fuß zu fassen oder gar abzuschließen. Ihr Eindruck sei, dass er kaum Termine pünktlich wahrnehmen könne.
21
Nach alledem war der Klage stattzugeben und der Bescheid vom 9. Februar 2017 in seinen Ziffern 4, 5 und 6 aufzuheben.
22
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben.