Titel:
Abschiebungsverbot bzgl. Afghanistan bejaht
Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 73c Abs. 2
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Der Widerruf des gewährten Abschiebungsschutzes setzt nicht nur voraus, dass die Voraussetzungen für das ursprünglich zuerkannte Abschiebungsverbot (hier: § 60 Abs. 7 AufenthG) entfallen sind, sondern auch, dass nicht aus anderen Gründen Abschiebungsschutz nach nationalem Recht (hier: § 60 Abs. 5 AufenthG) zu gewähren ist. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einem jungen, gesunden arbeitsfähigen Mann, der in seinem Herkunftsland weder über Vermögen noch über ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt und infolge seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland seit seinem Kleinkindalter die Landessprachen Afghanistans nur rudimentär beherrscht, ist nicht davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Afghanistan, Widerruf Abschiebungsverbot, Aufgewachsen in Deutschland, Abschiebungsverbot bejaht, Abschiebungsverbot, Widerruf, Existenzminimum, Sprachkenntnis
Fundstelle:
BeckRS 2021, 11708
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für ... vom … Januar 2021 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Der 1998 geborene Kläger ist Staatsangehöriger Afghanistans, Zugehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und islamischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder am … Oktober 2000 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am … Oktober 2000 Asylantrag.
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Auf entsprechendes Verpflichtungsurteil des Verwaltungsgerichts … vom … August 2006 (M 23 K 03.52253) stellte das Bundesamt für ... (Bundesamt) mit Bescheid vom ... April 2007 fest, dass (unter anderem) beim Kläger das Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
3
Mit Urteil des Amtsgerichts … vom … Juni 2020 wurde der Kläger zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren wegen vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei tatmehrheitlichen Fällen in Mittäterschaft in Tatmehrheit mit Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung je in Mittäterschaft verurteilt.
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Im Rahmen der Anhörung zu einem geplanten Widerruf brachte der Kläger im Wesentlichen vor, dass er in Deutschland aufgewachsen und bereits als Baby ausgewandert sei. Er sei leider schnell auf die schiefe Bahn gekommen, habe falsche Freunde gefunden und sei durch seine Legasthenie in der Schule nicht weit gekommen. Er habe jetzt eine feste Arbeit, einen Wohnsitz bei seiner Familie und auch deren volle Unterstützung. Er habe keinen Bezug zu seinem Ursprungsland, habe das Leben dort nie gesehen und seine komplette Familie sei aus diesem Land geflohen. Er habe dort keine Bekannten oder Freunde, sie hätten auch kein Geld und es gebe auch keine Arbeit. Dazu kämen die Anschläge, der Krieg und die große Armut. Er könne die persische Sprache nur amateurhaft bzw. überhaupt nicht lesen und schreiben, was es für ihn noch schwieriger mache, sich dort eine Zukunft aufzubauen.
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Sein Prozessbevollmächtigter führte aus, dass der Kläger seit vielen Jahren in Deutschland lebe und kein Bezug zu seinem Geburtsland Afghanistan habe. Soziale Bindungen bestünden nicht. Er spreche die Sprache nur rudimentär, könne weder persisch lesen noch schreiben, was alles essenziell wichtige Voraussetzungen für die Schaffung einer existenzsichernden Lebensgrundlage in einem fremden Land seien. Eine Rückkehr nach Afghanistan würde ihn vor erhebliche und existenzbedrohende Schwierigkeiten stellen. Darüber hinaus sei die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage in Afghanistan weiterhin äußerst angespannt. Die aktuelle Covid-19-Pandemie würde eine Rückkehr nach Afghanistan zusätzlich erheblich erschweren. Laut Medienberichten sei Afghanistan weitaus schwerer von der Pandemie getroffen als bisher angenommen. Besonders prekär wirke sich die Situation auf den Arbeitsmarkt aus. Es sei daher nicht zweifelsfrei davon auszugehen, dass sich der Kläger ohne familiären Rückhalt bei der Rückkehr nach Afghanistan eine Lebensgrundlage schaffen könnte.
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Mit Bescheid vom … Januar 2021, per Einschreiben am … Januar 2021 zur Post gegeben, widerrief das Bundesamt das mit Bescheid vom *. April 2007 festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Nr. 1) und stellte fest, dass das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegt (Nr. 2). Zudem wurde die sofortige Vollziehung des Bescheides angeordnet (Nr. 3).
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Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht mehr vor, sodass die Feststellung des Abschiebungsverbots nach § 73c Abs. 2 AsylG zu widerrufen sei. Der Kläger sei mittlerweile volljährig und damit in der Lage, sein Existenzminimum im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan selbstständig zu sichern. Fälle, in denen Rückkehrer aus Europa infolge Hungers oder Mangelernährung verstorben wären, seien nicht bekannt. Rückkehrer aus Deutschland hätten auch die Möglichkeit, Reintegrationshilfen zu erlangen. Berichte, dass Rückkehrer generell oder in sehr großer Zahl und unabhängig von ihren persönlichen Umständen ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gebe es nicht. Es könne auch nicht angenommen werden, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit auftreten würden, dass jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine solche Erkrankung drohen würde. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichten nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Allein die Rückkehr aus einem westlichen Land nach Afghanistan führe nicht zu einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Gruppenverfolgung durch die Taliban. Auch im Hinblick auf die Sicherheitslage sei kein Verstoß im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK festzustellen. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und humanitären Auswirkungen der Corona-Pandemie in Afghanistan sei ebenfalls nicht festzustellen, dass die hohen Anforderungen dieser Vorschriften hinsichtlich der Person des Klägers vorlägen. Für alleinstehende, männliche, arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige ohne nennenswertes Vermögen sei zumindest zum jetzt maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt eine Verletzung des Art. 3 EMRK angesichts der aktuellen humanitären und wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie in Afghanistan nicht beachtlich wahrscheinlich. Das fehlende Vorhandensein eines familiären oder sonstigen Unterstützungsnetzwerks im Herkunftsland führe nicht dazu, dass der Ausländer bei Rückkehr in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihm eine Existenzsicherung auf niedrigem Niveau unmöglich machen würde. Dem Kläger, der zumindest über Grundkenntnisse einer der Landessprachen Afghanistans verfüge, sei eine Existenzsicherung auf niedrigem Niveau in Afghanistan möglich. In Anbetracht der hier bestehenden familiären Bindungen sei davon auszugehen, dass die Familie insbesondere in den Anfangsjahren im Bundesgebiet ihre Heimatsprache gesprochen habe und der Ausländer somit gegebenenfalls auch über mehr als nur rudimentäre Sprachkenntnisse verfüge. Nicht unberücksichtigt bleiben könne, dass der Ausländer ausweislich des vorliegenden Strafurteils im Bundesgebiet trotz seiner Legasthenie den Mittelschulabschluss erreicht habe. Danach habe er eine Ausbildung zum Verkäufer begonnen, jedoch nicht abgeschlossen und zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Stelle als Umzugshelfer bzw. im Restaurant seines Vaters in Aussicht gehabt, sodass er zumindest über berufliche Grunderfahrungen in anderen Bereichen verfügen dürfte. In der JVA sei er wiederum drei Wochen als Küchenhelfer tätig gewesen. Unabhängig davon müsse der Ausländer sich auf Tätigkeiten im Niedriglohnsektor, die keine besondere Qualifikation voraussetzten, verweisen lassen. Insbesondere im Baugewerbe oder bei Tätigkeiten in der Landwirtschaft dürften lesende und schreibende Kenntnisse einer afghanischen Landessprache nicht erforderlich sein. Da sich der Kläger mittlerweile mit seiner Familie ausgesöhnt habe, könne davon ausgegangen werden, dass er bei Rückkehr nach Afghanistan auch eine zumindest finanzielle geringfügige Unterstützung durch diese erfahren könne. Rückkehrer aus dem westlichen Ausland seien darüber hinaus aufgrund ihrer Sprachkenntnisse in einer vergleichsweise guten Position. Darüber hinaus könne er im Falle einer freiwilligen Rückkehr Rückkehrhilfen in Anspruch nehmen. Auch die Feststellung eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG komme nicht in Betracht. Es könne auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Gesundheitssystem in Afghanistan nicht deutschen oder europäischen Standards entspreche und möglicherweise eine entsprechende Versorgung nicht gewährleistet sein sollte, keine dem Ausländer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende wesentliche oder gar lebensbedrohliche Gesundheitsverschlechterung festgestellt werden. Es sei nicht ersichtlich, dass der Kläger aufgrund individueller Faktoren zu einem besonders gefährdeten Personenkreis gehören würde.
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Das Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG liege ebenfalls nicht vor. Wie dargetan führten die derzeitigen humanitären Bedingungen in Afghanistan auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Ausländers nicht zu der Annahme, dass bei seiner Abschiebung eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege.
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Die sofortige Vollziehung des Bescheides werde gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordnet. Sowohl unter spezialpräventiven als auch unter generalpräventiven Gesichtspunkten bestehe ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des Widerrufs. Aufgrund der wiederholten Strafauffälligkeit des Ausländers bestehe ein besonderes öffentliches Interesse am Sofortvollzug, denn der Ausländer stelle eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Das mit Urteil des Amtsgerichts … abgeurteilte Verhalten stelle eine Fortsetzung der durch diesen bereits in der Vergangenheit gezeigten Loslösung von der hier geltenden Rechtsordnung und seines problematischen Umgangs mit der hier geltenden Rechtsordnung dar. Zwar sei davon auszugehen, dass zwischenzeitlich eine Strafaussetzung zur Bewährung erfolgt sei und sich die persönlichen Verhältnisse des Ausländers nicht unwesentlich verändert hätten (Aussöhnung mit der Familie, Aufnahme einer Beschäftigung), jedoch habe das Bundesamt eine eigenständige Prognose bezüglich des Bestehens eine Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der strafgerichtlichen Aussetzung der Strafe zur Bewährung stünden naturgemäß Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund und eine günstige Sozialprognose könne auch bei Bestehen eines gewissen Restrisikos getroffen werden. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass die Verurteilung erst wenige Monate zurückliege, der Ausländer derzeit unter laufender Bewährung stehe, er mithin bei einem erneuten Fehlverhalten mit einem Bewährungswiderruf rechnen müsse und er derzeit eher umfangreiche Hilfestellungen erhalte, könne zumindest zum jetzigen Zeitpunkt aus ordnungsbehördlicher Sicht nicht von einem Wegfall einer konkreten Wiederholungsgefahr, über die Bewährungszeit hinaus, ausgegangen werden. Dies gelte insbesondere unter Berücksichtigung der sich aus dem Urteil ergebenden gezeigten erheblichen kriminellen Energie des Klägers und seine Bereitschaft zur Missachtung hochwertiger Rechte und Rechtsgüter Dritter. Nach den Feststellungen des Gerichts habe der Kläger zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung Schulden unbekannter Höhe gehabt. Zwar gehe er mittlerweile einer Erwerbstätigkeit nach, dies allein vermöge jedoch nicht die Annahme zu rechtfertigen, dass sich die wirtschaftliche Situation mittlerweile so unproblematisch darstellen würde, dass eine Gefährdung der Allgemeinheit durch weitere, wirtschaftlich motivierte Straftaten mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könnte. Mithin sei vorliegend aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt, dass der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Auch solle in Deutschland lebenden Ausländern vor Augen geführt werden, welche konkreten Konsequenzen vergleichbare Straf- bzw. Gewalttaten auch für sie haben könnten.
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Hiergegen erhoben die Prozessbevollmächtigten des Klägers am ... Februar 2021 Klage und beantragten,
den Bescheid vom … Januar 2021 aufzuheben.
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Zur Begründung wurde insbesondere auf die im Verfahren abgegebene Erklärung und Stellungnahme verwiesen sowie ergänzend auf das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom … Dezember 2020 Bezug genommen. Danach dürfe derzeit auch ein alleinstehender, gesunder und arbeitsfähiger erwachsener Mann regelmäßig nicht nach Afghanistan abgeschoben werden, weil es ihm dort angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen infolge der Covid-19-Pandemie voraussichtlich nicht gelingen werde, auf legalem Wege seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen. Anderes gelte dann, wenn in seiner Person besondere begünstigende Umstände vorlägen. Dies könne etwa der Fall sein, wenn der Rückkehrer in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk habe, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfahre oder über ausreichendes Vermögen verfüge. Dies treffe auch auf den Kläger zu, dessen gesamte Familie und damit das einzig zur Verfügung stehende Netzwerk mit einem gesicherten aufenthaltsrechtlichen Status in Deutschland lebe.
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Die Beklagte beantragte,
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Zur Begründung bezog sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Auf einen gleichzeitig mit der Klage gestellten Antrag, deren aufschiebende Wirkung anzuordnen, wurde mit Beschluss vom … Februar 2021 die aufschiebende Wirkung der Klage wiederhergestellt (M 15 S 21.30259).
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte sowie auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung am … März 2021 Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und begründet, da der angegriffene Bescheid rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Dieser hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weiterhin Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots (§ 113 Abs. 5 VwGO).
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1. Es kann letztendlich dahingestellt bleiben, ob die Beklagte zu Recht davon ausging, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG nicht mehr vorliegen und daher die entsprechende Feststellung nach § 73c Abs. 2 AsylG widerrufen hat. Denn beim national begründeten Abschiebungsverbot handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140,319 Rn. 16 f.), so dass der Widerruf des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Nr. 1 des angefochtenen Bescheids nicht unabhängig von der Feststellung in Nr. 2 dieses Bescheides, dass kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt, beurteilt werden kann. Der Widerruf des gewährten Abschiebungsschutzes setzt nicht nur voraus, dass die Voraussetzungen für das ursprünglich zuerkannte Abschiebungsverbot (hier: § 60 Abs. 7 AufenthG) entfallen sind, sondern auch, dass nicht aus anderen Gründen Abschiebungsschutz nach nationalem Recht (hier: § 60 Abs. 5 AufenthG) zu gewähren ist (BVerwG, U.v. 29.9.2011 - 10 C 24/10 - juris Rn. 9; OVG NRW, U.v. 3.3.2016 - 13 A 1828/09.A - juris Rn. 36; VG München, B.v. 23.10.2020 - M 18 S 20.32512 - juris Rn. 35). Aufgrund der aktuellen Situation in Afghanistan, gerade auch im Hinblick auf die Corona-Pandemie, ist im vorliegenden Fall anzunehmen, dass der Kläger dort sein Existenzminimum nicht erzielen können wird und damit die (hohen) Anforderungen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hier erreicht sind:
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2. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 25). Soweit - wie in Afghanistan - ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 11). Der EuGH stellt in seiner neueren Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechtecharta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 89 ff.). Die dargestellte Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 26.10.2020 - 13a B 20.31087- juris Rn. 21; U.v. 28.11.2019 - 13a B 19.33361 - Rn. 21 ff.; U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31918 - juris Rn. 20 m.w.N.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 - juris Rn. 51 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, B.v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 - juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.6.2019 - 13 A 3930/18 - juris Rn. 111 f. m.w.N.). Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend, ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn. 22). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 26.10.2020 - 13a B 20.31087- juris Rn. 22; U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31918 - juris Rn. 21; OVG NW, U.v. 18.6.2019 - 13 A 3930/18 - juris Rn. 43 ff. m.w.N; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 - juris Rn. 43 m.w.N).
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3. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und der aktuellen Erkenntnismittel (vgl. z.B. OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 90 v. 4.2.2021, Strategic situation report: Covid 19, No. 89 v. 21.1.2021; Operational Situation Report v. 14.1.2021; BAMF, Briefing Notes v. 22.2.2021; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan in der Fassung vom 14. Januar 2021; EASO, Country Guidance, Dezember 2020; IOM, Information on the socio-economic situation in the light of COVID 19 v. 23.9.2020; IFC, Acute Food Insecurity Analysis August 2020 - March 2021, 8.11.2020, allg. abrufbar unter www.reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-ipc-acute-food-insecurity-analysis-august-2020-march-2021-issued) geht das Gericht davon aus, dass im Fall des Klägers ein besonderer Ausnahmefall im oben genannten Sinn zu bejahen ist:
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Der Kläger lebt seit seinem zweiten Lebensjahr und damit seit über 20 Jahren mit seiner Familie in der Bundesrepublik Deutschland, so dass er mit den Arbeits- und Lebensverhältnissen in Afghanistan nicht vertraut ist. Nach seinen glaubhaften Ausführungen in der mündlichen Verhandlung hat er keine, auch keine entfernten, Verwandten in seinem Heimatland und auch keine Freunde oder Bekannte, die ihm durch Kontakte und Beziehungen den Zugang zum Wohnungs- oder Arbeitsmarkt erleichtern könnten. Hinzu kommt, dass er nur rudimentär eine der Landessprachen Afghanistans spricht (zum Erfordernis der Verständnismöglichkeit vgl. z.B. BayVGH, B.v. 11.1.2012 - 13a ZB 20.32513 - UA Rn. 7; 5.1.2021 - 13a ZB 20.30103 - UA Rn. 5; U.v. 26.10.2020 - 13a B 20.31087 - juris Rn. 23), wie er vor Gericht plausibel erklären konnte. Da der Kläger somit in seinem Herkunftsland weder über Vermögen noch über ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt (vgl. VGH BW, U.v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 - juris), ist nicht davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Dies gilt umso mehr, als sich die eh schon schlechte wirtschaftliche Situation in Afghanistan aufgrund der Corona-Pandemie in den letzten Monaten drastisch verschärft hat und der afghanische Arbeitsmarkt extrem angespannt ist. Auf die oben genannten Erkenntnismittel und die Ausführungen des VGH Baden-Württemberg (U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17- juris) zur aktuellen humanitären und wirtschaftlichen Situation in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie wird insoweit Bezug genommen. Nach alledem ist nicht davon auszugehen, dass sich der Kläger auf dem afghanischen Arbeitsmarkt gegen andere Mitbewerber durchzusetzen vermag. Selbst mit einer gewissen (geringfügigen) finanziellen Unterstützung seiner in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Familie kann nicht angenommen werden, dass er sein Existenzminimum in Afghanistan erlangen kann, so dass die Anforderungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt sind.
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Der Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.