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VG München, Urteil v. 26.03.2021 – M 6 K 17.35452
Titel:

Ausnahmefall schlechter humanitärer Bedingungen für Rückkehrer nach Afghanistan

Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Die relevanten Lebensverhältnisse für Rückkehrer in Afghanistan haben sich infolge der weltweiten Corona-Pandemie nochmals verschärft. (Rn. 23 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Afghanistan, Folgen der Corona-Pandemie, Afghanistan im Kindesalter verlassen, Abschiebungsverbot bejaht
Fundstelle:
BeckRS 2021, 10788

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. März 2017 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 3/4 und die Beklagte 1/4.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am … Mai 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier am … Juli 2015 einen Asylantrag.
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Bei seiner Anhörung am … September 2016 vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gab der Kläger im Wesentlichen an, er habe bis zu seiner Ausreise 2010 in der afghanischen Stadt A* … im Haushalt seiner Eltern mit drei Geschwistern gelebt, bis sein Vater, der als Mudjahidin von den Taliban gesucht worden sei, spurlos verschwunden sei, und die Familie ein Jahr lang nach ihm gesucht habe. Damals habe den elfjährigen Kläger auf der Straße ein bärtiger Unbekannter mit Schal, ein Taliban, angesprochen und mit gezogener Pistole gezwungen, in seine Wohnung mitzukommen, um ihn sexuell zu missbrauchen. Der Kläger habe den Entführer durch einen Stich in den Bauchbereich getötet und habe fliehen können. Nach diesem Vorfall habe die Familie umgehend ihre Sachen gepackt und sei in den Iran ausgereist. Dort würden die Afghanen jedoch schlecht behandelt, diskriminiert, auf der Straße beschimpft und verhaftet werden. Seine Mutter habe hart arbeiten müssen, um die Familie durchzubringen. Der Kläger habe auf der Straße Kaugummis verkauft und habe entschieden, ins Ausland zu gehen, um die Familie zu unterstützen. Nach Afghanistan könne er nicht zurück, da er dort Verfolgung seitens der Taliban und eine strafrechtliche seitens des Staates befürchte.
3
Mit Bescheid vom 16. März 2017, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1) und auf Asylanerkennung (Ziffer 2) sowie auf Zuerkennung subsidiären Schutzes (Ziffer 3) ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb von dreißig Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Afghanistan oder einem anderen Staat angedroht, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).
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Auf die Begründung des Bescheids wird verwiesen.
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Am 20. März 2017 erhob der Kläger Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland und beantragte sinngemäß,
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den Bescheid der Beklagten vom 16. März 2017 in den Ziffern 1) sowie 3) bis 6) aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Mit Schriftsatz vom 4. April 2017 ließ der Kläger näher zur Anhörung beim Bundesamt und den Umständen seiner Entführung ausführen.
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Die Beklagte übersandte die Behördenakte in elektronischer Form. Mit Schriftsatz vom 23. März 2020 wurde beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Mit Beschluss vom 16. Februar 2021 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Mit Schriftsatz vom … März 2021 führte der Bevollmächtigte des Klägers insbesondere zur aktuellen Lage in Afghanistan und zum Vorliegen von Abschiebungsverboten aus.
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Zur mündlichen Verhandlung am 24. März 2021 erschien der Kläger und wurde informatorisch angehört. Er führte im Wesentlichen aus, seine verbleibende Familie befinde sich im Iran. Sein Onkel in Afghanistan sei verstorben. Er sei körperlich gesund und habe bei A* … … gearbeitet. Er sei in psychotherapeutischer Behandlung und nehme pflanzliche Medikamente.
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In der mündlichen Verhandlung beschränkte der Klägerbevollmächtigte die Klage auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG, nahm die Klage im Übrigen zurück. Die Beklagte war nicht vertreten.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung, die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Über den Rechtsstreit konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 24. März 2021 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). Die Beklagte wurde form- und fristgerecht geladen.
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Soweit die Klage zurückgenommen wurde (Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes), ist das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
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Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet.
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Soweit das Bundesamt das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten festgestellt, die Abschiebung nach Afghanistan angedroht und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot ausgesprochen hat, ist der streitgegenständliche Bescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Aus diesem Grund ist der streitgegenständliche Bescheid in den Nummern 4 bis 6 aufzuheben.
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1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit. Ein Abschiebungsverbot infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen ganz extremer Gewalt in Betracht und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen.
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Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 13). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen vielmehr ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreichen. Diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 11).
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2. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht - soweit ersichtlich - bislang davon aus, dass für alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige weiterhin im allgemeinen nicht die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gegeben sind (vgl. etwa BayVGH, B.v. 17.12.2020, 13a B 20.30957 - juris).
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Demgegenüber geht der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg derzeit davon aus, dass angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK derzeit regelmäßig erfüllt sind, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen (VGH BW, U.v. 17.12.2020, A 11 S 2042/20 - juris). Besondere begünstigende Umstände können nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt.
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3. Unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel, die auch dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg zugrunde liegen, geht das erkennende Gericht davon aus, dass im Fall des Klägers ein besonderer Ausnahmefall schlechter humanitärer Bedingungen i.S.d. § 60 Abs. 5 AufenthG zu bejahen ist.
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Die relevanten Lebensverhältnisse für Rückkehrer in Afghanistan haben sich infolge der weltweiten Corona-Pandemie nochmals verschärft. Insgesamt handelt es sich um eine dynamische Entwicklung. Nachdem im Frühjahr und Sommer 2020 weitgehende Ausgangssperren verhängt worden sind, die zu Grenzschließungen und Schließung von Teilen von Städten bzw. zu Bewegungsbeschränkung. Ein geführt haben, wurden die Maßnahmen inzwischen wieder aufgehoben bzw. gelockert. Die afghanische Regierung ordnete als Reaktion auf steigende Infektionszahlen an, dass ab Ende Dezember 2020 Hochzeitshallen und andere öffentliche Orte schließen müssen (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 23. November 2020). Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren (BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, vom 19.12.2020). Zwischenzeitlich können beispielsweise die Bewohner von Kabul wieder ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen (OCHA, Afghanistan - Brief No. 48 COVID-19, 28 May 2020, S. 3; OCHA, Afghanistan - Brief No. 55 COVID-19, 21 June 2020, S. 3f; BAMF, Briefing Notes Gruppe 62, 15. Juni 2020, S. 1; EASO Special Report: Asylum Trends and Covid-19, June 2020, S. 11). In den meisten Städten haben Geschäfte und Restaurants geöffnet (OCHA, Afghanistan - Strategic Situation Report: COVID-19, No. 65 (26 July 2020), S. 2). Schwörer geht in ihrem Gutachten davon aus, dass es nach der festgestellten Ineffektivität der „Lockdown“-Anordnungen der Regierung im Frühjahr 2020 nicht mehr zu Schließungen von Hotels und Teehäusern kommen werde und es für Rückkehrer ohne Netzwerk zwar schwerer aber nicht unmöglich sei, ein Dach über dem Kopf zu finden. 65% der Einwohner Kabuls leben in Mietobjekten, wobei selbst in informellen Siedlungen die Bewohner einen kleinen Betrag Miete für ihr Stück Land bezahlen müssten. Die Qualität einer Behausung ist nicht eine Frage eines Netzwerks, sondern eine Frage des Geldes. Die Frage, ob ein Rückkehrer Zugang zu einer Behausung hat, die Minimalstandards entspricht ist deshalb eine Frage seiner wirtschaftlichen Lage. Es lasse sich auch allgemein sagen, dass die Pandemie keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise in Kabul hatte; Mieten in Kabul seien nicht gestiegen, Hauspreise eher gesunken (Schwörer, S. 12).
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Auf dem Arbeitsmarkt haben sich die veränderten Umstände in einer höheren Arbeitslosigkeit niedergeschlagen. Das Arbeitsministerium berichtete schon im April 2020 von zwei Millionen Menschen, die aufgrund der Corona-Pandemie arbeitslos geworden sind (BAMF, Briefing Notes vom 27. April 2020). Insbesondere in Kabul, Herat (und Nangarhar) sind Arbeitsmöglichkeiten aufgrund der im März 2020 eingeführten Beschränkungen verloren gegangen (EASO, Afghanistan, Key socioeconomic indicators, Focus on Kabul City, Mazare Sharif and Herat City, August 2020, S. 29). Es wird aktuell teilweise vermutet, dass es unmöglich ist, ohne ein Netzwerk eine Anstellung zu finden: Bei der hohen Zahl an arbeitssuchenden Afghanen werden Verwandte Außenstehenden vorgezogen (Eva-Catharina Schwörer, Auswirkungen der Covid-19 Pandemie auf die Lage in Afghanistan, 30.11.2020, auch abrufbar unter: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/Gutachten-Auswirkungen-der-COVID-19-Pandemie-auf-die-Lage-in-Afghanistan-Eva-Catherina-Schwoerer - 1.pdf, S. 16). Für 2020 geht die Weltbank von einer Rezession aus. Es wird erwartet, dass die Armutsquote auf 73 Prozent steigen wird (EASO, Afghanistan, Key socioeconomic indicators, Focus on Kabul City, Mazare Sharif and Herat City, August 2020, S. 29) bzw. schon auf mindestens 72 Prozent gestiegen ist (Schwörer, S. 18)
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Die Auswirkungen des Lockdowns, insbesondere die gestiegenen Preise und eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten, haben die Nahrungsmittelversorgung beeinträchtigt. Etwa 16,9 Millionen Menschen befinden sich in akuter Ernährungsunsicherheit, davon etwa 5,5 Millionen Menschen in einem Notfall-Status („Emergency“). Maßnahmen der Preiskontrolle sind nach wie vor unerlässlich, um die Schwächsten zu schützen. Von Konflikten betroffene Binnenvertriebene sind angesichts des Verlusts ihres Einkommens, des fehlenden Zugangs zu Produktionsmitteln und Nahrungsmittelreserven besonders von Ernährungsunsicherheit bedroht. Diese Situation wird durch die Verringerung der verfügbaren Tages- und Gelegenheitslohnmöglichkeiten in der Nähe städtischer Zentren noch verschärft (OCHA, Afghanistan COVID-19 Multi-Sectoral Response Operational Situation Report, Stand: 14. Januar 2021, S. 7).
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Rückkehrer aus Deutschland erhalten zwar auch Rückkehrhilfen (hierzu im Einzelnen: OVG Bremen, U.v. 24.11.2020 - 1 LB 351/20 - juris Rn. 46). Diese können jedoch die Existenz eines Rückkehrers im Falle eines fehlenden Netzwerks nicht nachhaltig sichern, sondern sind darauf angelegt eine anfängliche Unterstützung bzw. eine nur vorübergehende Bedarfsdeckung zu schaffen (VGH BW, U.v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20- juris Rn. 110).
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Die Preise für die wichtigsten Nahrungsmittel sind deutlich höher als vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie, was unter anderem auf die Grenzschließungen, „Lockdown“-Maßnahmen und Hamsterkäufe zurückzuführen ist. Die Preise für Grundnahrungsmittel, die im Mai 2020 einen Höchststand erreicht hatten, sind seither wieder gesunken, liegen aber immer noch deutlich über dem Durchschnittspreis der letzten 3 Jahre (vgl. VGH BW, U.v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 - juris Rn. 69). Nach den Zahlen des World Food Programme von der 3. Februarwoche 2021 (vgl. WFP, Afghanistan Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 41, covering 3rd week of February 2021) haben sich die Preise für die Grundnahrungsmittel Weizen, Kochöl, Hülsenfrüchte, Zucker verteuert, sodass die Kaufkraft des Lohns für ungelernte Arbeit in Relation zum Preis für Weizen gegenüber der Situation vor Covid-19 (März 2020) auf - 19,9% sank. Eine weitere Preissteigerung für Nahrungsmittel wie Weizenmehl und Reis wird vom IFC nicht erwartet (IFC, Afghanistan - Acute Food Insecurity Analysis August 2020-March 2021, a.a.O).
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Nach Einschätzung der UN-OCHA sind im Jahr 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. mit Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen (Lagebericht vom 16.7.2020, a.a.O.). IFC erwartet, dass im Zeitraum November 2020 bis März 2021 13,15 Mio. Menschen (rund 42% der Bevölkerung) von akuter Lebensmittelunsicherheit (IFC Kategorien 3 und 4) betroffen sein werden, von denen fast 4,3 Mio. Personen nur einen Schritt von der Hungersnot entfernt sein werden (IFC, Afghanistan - Acute Food Insecurity Analysis August 2020 - March 2021, a.a.O). UN-OCHA geht davon aus, dass die sozio-ökonomischen Auswirkungen von Covid-19 zu einer dramatischen Auswirkung der Ernährungsunsicherheit führen, ähnlich der Dürre in 2018. Menschen in den IPC Kategorien 3 und 4 haben Anspruch auf kostenlose WFP-Lebensmittelspenden (Schwörer, S. 13), die auch durchgeführt werden (vgl. FEWS NET, Afghanistan, Food Security Outlock Update, 12/2020). Das bedeutet, dass rund die Hälfte aller Afghanen so arm sind, dass sie ohne die kostenlosen Lebensmittel der UN verhungern würden (Schwörer S. 13 auf WFP verweisend). Der Landwirtschaftssektor konnte sich aufgrund der günstigen Wetterverhältnisse fast vollständig von der Dürre in 2018 erholen (Schwörer, S. 15). Dennoch - jedenfalls derzeit noch anhaltend in der mageren Winterjahreszeit - sind die Preise für Lebensmittel um durchschnittlich 10% - 23% gestiegen, während das Einkommen der „einfachen Arbeiterhaushalte“ Corona bedingt wegen eingeschränkter Erwerbsmöglichkeiten um rund 19% gesunken ist.
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Die Anzahl der Tage pro Woche, an denen Arbeit zur Verfügung steht, lag in der 5. Januarwoche 2021 zwischen Null (Daikundi), vielfach einem, zumeist zwei (so auch in Kabul - gesunken) und drei und vier Tagen (nur in Laghman, Ghazni, Paktika, Wardak). Der Verdienst für ungelernte Arbeitskräfte liegt zwischen 300 und 400 AFG pro Tag (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gruppe 62 - Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 14.9.2020, allgemein abrufbar unter https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw38-2020.html?nn=282314). Das Famine Early Warning Systems Network rechnet, dass ein Tagelöhner derzeit durchschnittlich 2,4 Tage pro Woche für 325 AFG pro Tag arbeiten kann (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gruppe 62 - Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 16.11.2020, a.a.O.).
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Die Armutsgrenze liegt bei ca. 2.100 Afghani pro Person im Monat (World Bank/UNHCR, Living conditions and settlement decisions of recent Afghan returnees, 2019, S. 19, allgemein abrufbar unter https://doi.org/10.1596/31944; Amnesty International beziffert die Armutsgrenze bei ca. 1.200 Afghani im Monat, vgl. Amnesty International, Auskunft zur Sicherheitslage in Afghanistan, 5.2.2018, S. 55), wobei sie infolge des oben geschilderten Anstiegs der Nahrungsmittelpreise jüngst etwas höher liegen dürfte.
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Im Ausland erworbene Fähigkeiten (z.B. Ausbildung, Schulbildung) können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen, zumindest mittel- und langfristig, ggf. bei Eigenexistenzgründungen und einer Fähigkeitsnachfrage, die nicht mit im Land ansässigen Afghanen bedient werden kann, wenn sich die Wirtschaft und die Nachfrage in Afghanistan erholt.
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Nach einhelliger Erkenntnislage spielen persönliche Kontakte bzw. unterstützende Netzwerke bei der Arbeitssuche) sowohl bei gelernter / angelernter wie auch bei ungelernter Arbeit eine wichtige oder sogar ausschlaggebende Rolle (z.B. BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, vom 13.11.2019, Stand: Update v. 21.7.2020, S. 330; Schwörer, S. 14ff.). Schwörer trifft die Einschätzung, dass es derzeit aufgrund der wirtschaftlichen Situation und der stark eingeschränkten Ressourcen ohne Netzwerk unmöglich sei, eine angestellte Arbeit zu finden (s.o.). Diese Einschätzung Schwörers betrifft nicht nur die zahlenmäßig wenigen Stellen als Angestellte in einem (Klein) Unternehmen, also der formelle (d.h. offiziell erfasste) Sektor des Arbeitsmarktes, vielmehr - wie Schwörer ausweislich des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg mündlich zu ihren schriftlichen Ausführungen noch verdeutlichend ausführte - gleichermaßen die Tagelöhner-Arbeitsmarktsituation oder den sonstigen Niedriglohnsektor. Auf die letztgenannten Arbeitsbereiche kommt es nach Auffassung des erkennenden Gerichts kurz- bis mittelfristig nach Rückkehr an.
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4. Das Gericht ist aufgrund einer Gesamtschau der Umstände und des in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnenen Gesamteindrucks davon überzeugt, dass dieser bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
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Angesichts der beschriebenen Auswirkungen der Corona-Pandemie und des durch die Vielzahl der aus Pakistan und dem Iran zurückkehrenden Flüchtlinge aktuell noch verschärften Verdrängungswettbewerbs auf dem afghanischen Arbeitsmarkt - dürfte der Kläger gegenwärtig nicht imstande sein, eine Arbeit zu finden und sich damit zumindest ein Existenzminimum zu sichern. Zwar ist der Kläger körperlich gesund und hat in Deutschland in der Systemgastronomie gearbeitet und zuvor im Iran bereits Kaugummi auf der Straße verkauft, doch verfügt der Kläger weder über Vermögen noch ist er mit dem afghanischen Arbeitsmarkt vertraut. In Afghanistan ist er nur ein Jahr zur Schule gegangen. Gegenüber dem Bundesamt gab er an, dass die wirtschaftliche Lage der Familie sehr schlecht war. Auf ein unterstützendes Netzwerk kann er nicht zurückgreifen. Die Familie des Klägers ist in den Iran gezogen als dieser etwa elf bis zwölf Jahre alt war. Kontakte nach Afghanistan bestehen nach übereinstimmenden, glaubhaften und glaubwürdigen Angaben des Klägers nicht, auch der verbliebene Onkel in Afghanistan, zu dem der Kläger aber auch vorher keinen Kontakt hatte, ist verstorben. Bei Gesamtbetrachtung des Einzelfalls des Klägers ist nach derzeitiger Erkenntnismittellage von einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen auszugehen.
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5. Ob daneben auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner abschließenden Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (grundlegend: BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140,319 Rn. 16 f.).
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO bzw. - soweit die Klage zurückgenommen wurde - § 155 Abs. 2 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 - 10 B 60.08 - juris). Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung.