Titel:
Schulwegkosten, Schülerin mit sozio-emotionaler Störung, Verweis auf Wertmarke des Versorgungsamtes, Vorzeigen des Schwerbehindertenausweises auf dem Schulweg, Wegstreckenentschädigung, Einsatz eines privaten Kraftfahrzeuges für Fahrt zur Bushaltestelle
Normenketten:
SchKfrG Art. 2 Abs. 1 S. 3
SchBefV § 3 Abs. 2 S. 2
SchBefV § 3 Abs. 3 S. 1
SGB IX § 228 Abs. 1
SGB IX § 152 Abs. 5
SGB I § 46 S. 2
Schlagworte:
Schulwegkosten, Schülerin mit sozio-emotionaler Störung, Verweis auf Wertmarke des Versorgungsamtes, Vorzeigen des Schwerbehindertenausweises auf dem Schulweg, Wegstreckenentschädigung, Einsatz eines privaten Kraftfahrzeuges für Fahrt zur Bushaltestelle
Fundstelle:
BeckRS 2021, 10336
Tenor
I. Der Bescheid des Landratsamts Miltenberg vom 30. September 2019 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die zum Besuch der J.-K.-Schule in E. im Schuljahr 2019/2020 angefallenen Beförderungskosten in Höhe von insgesamt 940,75 EUR zu erstatten.
III. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
IV. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Parteien streiten um die Übernahme von Schülerbeförderungskosten.
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1. Die am … … 2006 geborene Klägerin besuchte im Schuljahr 2019/ 2020 die Jahrgangsstufe 7 der J. K. Schule in E., ein Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Lernen.
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Die Klägerin leidet an einer sozio-emotionalen Störung und verfügt über einen bis Dezember 2022 gültigen Schwerbehindertenausweis mit den Merkzeichen „G“ und „H“, der ihr einen Grad der Behinderung von 80 bescheinigt und sie in Verbindung mit einer Wertmarke des Versorgungsamtes zur kostenlosen Beförderung im öffentlichen Personennachverkehr berechtigt.
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2. Mit Erfassungsbogen vom 6. Juni 2019 beantragten die sorgeberechtigten Eltern der Klägerin die Übernahme der Beförderung vom Wohnort … … zur J. K. Schule in E. Mit Email vom 13. Juni 2019 trugen sie ergänzend vor, dass sich für die Klägerin aufgrund ihrer sozio-emotionalen Störung erhebliche Schwierigkeiten ergäben, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule zu gelangen. Mit der einzigen direkten Busverbindung erreiche die Klägerin die Schule morgens bereits um 7:05 Uhr. Eine schulische Betreuung sei jedoch erst ab 7:30 Uhr sichergestellt. Da die Klägerin auf ein gewisses Maß an Aufsicht angewiesen sei, sei dies für sie nicht zumutbar. Auch auf dem Rückweg ergäben sich Schwierigkeiten, da es für die Tage, an denen die Klägerin Nachmittagsunterricht habe, keine geeignete direkte Busverbindung gebe. Ein Umsteigen in einen anderen Bus sei der Klägerin nicht zuzumuten. Sie sei mit möglichen Anschlussschwierigkeiten bei Busverspätungen überfordert. Es werde daher um Prüfung gebeten, wie eine sichere Beförderung der Klägerin auf dem Schulweg gewährleistet werden könne. Der Schwerbehindertenausweis der Klägerin wurde in Kopie beigefügt.
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Nach vorangegangenem Schriftwechsel bzw. Telefonkontakt teilte der Beklagte mit Schriftsatz vom 22. August 2019 mit, dass die durch den Schwerbehindertenausweis gegebene Möglichkeit der unentgeltlichen Beförderung Vorrang vor der Ausgabe von Schülermonatsfahrkarten habe und der Klägerin deswegen keine Fahrkarte ausgestellt werden könne. Da die Identifikationskarte Scheckkartenformat habe, sei auch im Hinblick auf das Ausweisformat keine Diskriminierung schwerbehinderter Menschen gegeben.
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Mit E-Mail vom 25. August 2019 widersprach die Mutter der Klägerin den Ausführungen zur fehlenden Diskriminierung durch ein Vorzeigen des Schwerbehindertenausweises. Dieser habe eine andere Größe und vollständig andere Färbung als eine Schülerfahrkarte. Außerdem müsse zusätzlich die Wertkarte des Versorgungsamts vorgezeigt werden, die entweder neben dem Ausweis oder dahinter platziert werden müsse, während die Schülerfahrkarte nur ein Ausweisdokument sei. Die Klägerin habe ihre Wertmarke zwischenzeitlich verloren und werde keine Ersatzwerkmarke beantragen. Hierzu sei sie ebenso wenig verpflichtet wie zur Beantragung eines Schwerbehindertenausweises. Aufgrund der geschilderten Schwierigkeiten hinsichtlich der am Wohnort vorhandenen Busverbindungen werde man die Klägerin mit dem privaten Kraftfahrzeug zu einer Bushaltestelle fahren, von der aus eine ihr zumutbare Busverbindung zur Schule existiere.
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3. Mit Bescheid vom 27. September 2019, den Eltern der Klägerin am 2. Oktober 2020 zugestellt, stellte der Beklagte fest, dass ein Beförderungsanspruch gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 Schülerbeförderungsverordnung (SchBefV) bestehe. Diesen erfülle der Beklagte, indem er auf die Wertmarke des Versorgungsamtes verweise, die einen kostenfreien Transport zur Schule ermögliche.
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Zur Begründung wurde ausgeführt: Der Verweis auf die Wertmarke des Versorgungsamtes entspreche einer wirtschaftlichen und sparsamen Mittelverwendung, an die der Beklagte gebunden sei. Das Versorgungsamt habe bestätigt, dass die Klägerin die Voraussetzungen zur Ausstellung einer kostenfreien Wertmarke erfülle und eine Neuausstellung der Wertmarke nach Verlust oder Ablauf der Gültigkeit kostenfrei mit nur wenig Aufwand möglich sei. Der Schwerbehindertenausweis im Scheckkartenformat sei benutzerfreundlich und zeitgemäß. Eine Diskriminierung durch die Vorlage des Ausweises auf dem Weg zur Förderschule sei nicht erkennbar.
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Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 29. Oktober 2019 ließ die Klägerin bei Gericht Klage erheben.
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Zur Begründung wurde ausgeführt: Es sei keine Rechtsgrundlage ersichtlich, die den Verweis auf einen Schwerbehindertenausweis, der vorrangig einzusetzen sei, rechtfertige. Das Vorgehen des Beklagten habe nichts mit den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu tun. Der Schwerbehindertenausweis diene dazu, Nachteile auszugleichen und nicht dazu, zusätzliche Nachteile zu schaffen. Es nicht auszuschließen, dass andere Kinder das Vorzeigen des Schwerbehindertenausweises bemerkten und die Klägerin deswegen „hänseln“ würden. Mit einer solchen Situation könne die Klägerin aufgrund ihrer sozio-emotionalen Störung nicht umgehen.
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Auch sei es der Klägerin nicht zumutbar, ohne sichergestellte Betreuung an der Schule vor Unterrichtsbeginn zu warten und auf dem Schulweg in einen anderen Bus umzusteigen.
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Die sozio-emotionalen Störung wirke sich dergestalt aus, dass die Klägerin Schwierigkeiten habe, Verhaltensweisen anderer zu erfassen und einzuordnen. Abweichungen von ihrem geregelten Alltag könne sie emotional nicht verarbeiten. Es könne dann zu Gewalt- oder Wutausbrühen kommen oder dazu, dass die Klägerin sich derart zurückziehe, dass sie irgendwo sitzenbleibe, innerhalte und abwarte, was geschehe und nicht wisse, wie sie sich weiter verhalten solle. Aus einer solchen Lage könne sie sich alleine nicht befreien. Zu den Auswirkungen ihrer sozio-emotionale Störung legte die Klägerin ein psychologisches Attest der Psychologischen Psychotherapeutin … … vom 29. Januar 2021 sowie eine gutachterliche Stellungnahme des Kinder- und Jugendarztes … … vom 9. Februar 2021 vor. Auf den Inhalt dieser beiden Schreiben wird Bezug genommen.
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Die Beförderung sei von den Sorgeberechtigten der Klägerin im streitgegenständlichen Schuljahr deshalb so gehandhabt worden, dass diese die Klägerin mit ihrem privaten Kraftfahrzeug morgens an die 4,6 km vom Wohnort entfernte Haltestelle „…“ (bzw. baustellenbedingt vorübergehend zur Ersatzhaltestelle „…“) nach … gefahren hätten und die Klägerin dort in einen Bus eingestiegen sei, der um 7:42 Uhr an der Schule angekommen sei. Insgesamt sei dies im Schuljahr 2019/2020 an 121 Tagen so praktiziert worden. Hierfür seien Kosten in Höhe von 278,30 EUR angefallen (121 Tage x 0,25 EUR x 9,2 km). An den Schultagen, an denen Nachmittagsunterricht stattgefunden habe (insgesamt 41 Tage), habe die Klägerin nach Schulschluss eine direkte Busverbindung zu der 3,5 km vom Wohnort entfernten Haltestelle „…“ genommen und sei dort mit dem privaten Kraftfahrzeug abgeholt worden. Die Kosten hierfür beliefen sich auf 71,75 EUR (41 Tage x 0,25 EUR x 7 km). Für den Kauf von Busfahrkarten, die in Kopie beigefügt wurden, seien im Schuljahr 2019/2020 Kosten in Höhe von 590,70 EUR angefallen. Insgesamt seien der Klägerin damit Beförderungskosten in Höhe von 940,75 EUR zu erstatten.
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Die Klägerin lässt zuletzt beantragen,
- 1.
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Der Bescheid des Landratsamts Miltenberg vom 30. September 2019 wird aufgehoben.
- 2.
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Der Beklagte wird verpflichtet, die bei der Klägerin zum Besuch der J. K. Schule in E. im Schuljahr 2019/2020 angefallenen Beförderungskosten in Höhe von insgesamt 940,75 EUR zu erstatten.
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Der Beklagte beantragt,
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Zur Begründung wurde ausgeführt: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten Schulwegkosten.
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Da die Klägerin aufgrund ihres Schwerbehindertenausweises in Verbindung mit einer Wertmarke des Versorgungsamts zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr berechtigt sei, bestehe kein Anspruch auf Ausstellung einer Schülernetzfahrkarte. Eine Benachteiligung oder Diskriminierung hierdurch sei nicht gegeben.
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Die beantragten Pkw-Kosten seien aufgrund bestehender Busverbindungen nicht notwendig. Morgens existiere generell eine durchgehende Verkehrsverbindung, mit der die Klägerin um 7:05 Uhr die Schule erreiche. Eine reguläre Betreuung finde nach Auskunft der Schule ab 7:30 Uhr statt, jedoch sei die Schule ab 7:00 Uhr geöffnet, sodass sich Schülerinnen und Schüler im Schulgebäude bzw. der Aula aufhalten könnten. In der Regel seien sogar Lehrkräfte und Mitarbeiter der Schulverwaltung bereits vor 7:30 Uhr vor Ort. An den Wochentagen, an denen die Klägerin Nachmittagsunterricht habe, sei auf der Rückfahrt ein einmaliges Umsteigen erforderlich. Dies sei Schülerinnen und Schülern im Allgemeinen und auch im Falle der Klägerin zumutbar. Nach Aussage der J. K. Schule und deren Eindruck im Schulalltag könne die Klägerin den Schulweg problemlos bewältigen. Andernfalls könne sich die Frage stellen, ob der Besuch einer Schule mit einem anderen Förderschwerpunkt angezeigt sei. Es werde angeregt, eine Stellungnahme der Schule einzuholen.
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Des Weiteren werde beantragt, die Berufung zuzulassen, da die Frage, ob die Beförderungspflicht des Aufwandsträgers mit Verweis auf die Wertmarke des Versorgungsamts erfüllt werden könne, grundsätzliche Bedeutung gem. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO habe.
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Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Entsprechende Einverständniserklärungen liegen mit den Schreiben der Klägerbevollmächtigten vom 5. Mai 2020 und des Beklagten vom 16. April 2020 vor.
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1. Die Klage ist zulässig und begründet.
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Die Klägerin hat für das Schuljahr 2019/2020 einen Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten Beförderungskosten. Der Bescheid des Landratsamts Miltenberg vom 30. September 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO.
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Gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Schulwegkostenfreiheitsgesetz (SchKfrG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl. S. 452), zuletzt geändert durch Verordnung vom 26. März 2019 (GVBl. S. 98), i.V.m. § 1 Satz 1 Nr. 1 und § 1 Satz 2 Halbsatz 2 Schülerbeförderungsverordnung (SchBefV) in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. September 1994 (GVBl. S. 953, BayRS 2230-5-1-1-K), zuletzt geändert durch Verordnung vom 12. Februar 2020 (GVBl. S. 144), ist die notwendige Beförderung der Schüler auf dem Schulweg zu Förderschulen durch den Aufgabenträger sicherzustellen. Bei der Erfüllung der Beförderungspflicht sind die Belange der Schülerinnen und Schüler, der Schulen und der Aufgabenträger angemessen zu berücksichtigen, § 3 Abs. 1 Satz 2 SchBefV. Nach § 3 Abs. 2 Satz 1 SchBefV erfüllen die Aufgabenträger ihre Beförderungspflicht vorrangig mit Hilfe des öffentlichen Personenverkehrs. Andere Verkehrsmittel, wie ein privates Kraftfahrzeug, sind nur einzusetzen, soweit dies notwendig oder insgesamt wirtschaftlicher ist, § 3 Abs. 2 Satz 2 SchBefV. Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 SchBefV kann der Aufgabenträger seine Beförderungspflicht im Einzelfall dadurch erfüllen, dass er für den zumutbaren Einsatz von privaten Kraftfahrzeugen eine Wegstreckentschädigung anbietet. Für deren Höhe gilt nach § 3 Abs. 3 Satz 2 SchBefV Art. 6 Abs. 6 des Bayerischen Reisekostengesetzes entsprechend.
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Nach diesen Maßgaben hat die Klägerin für das Schuljahr 2019/2020 sowohl einen Anspruch auf Erstattung der ihr für den Kauf von Busfahrkarten angefallenen Kosten in Höhe von 590,70 EUR als auch auf die geltend gemachte Wegstreckenentschädigung in Höhe von 350,05 EUR.
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1.1. Als Schulaufwandsträger ist der Beklagte gem. § 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SchBefV zur Beförderung der Klägerin zu der von ihr im Schuljahr 2019/2020 besuchten Förderschule verpflichtet.
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Zur Erfüllung seiner Beförderungspflicht kann der Beklagte nicht auf die Wertmarke des Versorgungsamtes, die der Klägerin bei einem Vorzeigen zusammen mit dem Schwerbehindertenausweis nach § 228 Abs. 1 des Neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX) in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Dezember 2018 (BGBl I S. 3234), zuletzt geändert durch Gesetz vom 9. Oktober 2020 (BGBl I S. 2075), eine kostenfreie Beförderung im Personennahverkehr ermöglicht, verweisen.
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Eine solche Erfüllungsmöglichkeit der Beförderungspflicht sehen das Schulwegkostenfreiheitsgesetz und die Schülerbeförderungsverordnung nicht vor. Sie lässt sich nicht aus dem Gebot zur Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 Satz 3 SchKfrG, das einen sparsamen Umgang mit öffentlichen Mitteln verlangt, ableiten. Ein Verweis schwerbehinderter Schüler auf eine nach § 228 Abs. 1 SGB IX bestehende Möglichkeit der unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr bei Vorzeigen ihres Schwerbehindertenausweises auf dem Schulweg stellt eine grundrechtsrelevante, rechtfertigungspflichtige Ungleichbehandlung dar, für die es einer hinreichend konkreten und verfassungskonformen Rechtsgrundlage bedarf. Ein Rückgriff auf das an den Aufgabenträger gerichtete allgemeine Gebot zur Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit in Art. 2 Abs. 1 Satz 3 SchKfrG genügt hierfür nicht.
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Unabhängig davon wäre ein Verweis der Klägerin auf die ihr nach § 228 Abs. 1 SGB IX zustehende unentgeltliche Beförderungsmöglichkeit auch nicht aus wirtschaftlichen Gründen des Beklagten gerechtfertigt.
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Bei der kostenfreien Beförderungsmöglichkeit nach § 228 Abs. 1 SGB IX handelt sich um einen Nachteilsausgleich für schwerbehinderte Menschen. Nach § 1 SGB IX ist es Sinn und Zweck aller Teilhabeleistungen des Neunten Sozialgesetzbuches, die Selbstbestimmung behinderter Menschen und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Personennahverkehr nach § 228 Abs. 1 SGB IX soll die soziale Teilhabe schwerbehinderter Menschen unterstützen, indem ihre Mobilität gefördert wird. Die Geltendmachung von Nachteilsausgleichen unterliegt grundsätzlich der freien Disposition der Berechtigten. Auf einseitige Rechte und Vergünstigungen kann nach allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts grundsätzlich verzichtet werden.
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Etwas anderes gilt vorliegend auch nicht nach dem Rechtsgedanken des § 46 des SGB I, wonach ein Verzicht auf Sozialleistungen unwirksam ist, soweit durch ihn andere Personen oder Leistungsträger belastet oder Rechtsvorschriften umgangen werden. Das Schwerbehindertenrecht ist allein zum Schutz schwerbehinderter Menschen konzipiert (vgl. zum SchwbG BSG, U.v. 26.2.1986 - 9a RVs 4/83 - juris). Es steht deshalb im Belieben schwerbehinderter Menschen, ob und in welchem Umfang sie von Rechten und Vergünstigungen, die ihnen zustehen, Gebrauch machen wollen (BSG, U.v. 26.2.1986 - 9a RVs 4/83 - juris). Demzufolge kann weder die Inanspruchnahme von Vergünstigungen noch das gänzliche oder teilweise Absehen davon die Solidargemeinschaft belasten (BSG, U.v. 26.2.1986 - 9a RVs 4/83 - juris).
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Ohne dass es noch entscheidungserheblich darauf ankommt, könnte von der Klägerin auch nicht verlangt werden, auf dem Schulweg ihren Schwerbehindertenausweis vorzuzeigen.
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Der Schwerbehindertenausweis dient nach § 152 Abs. 5 SGB IX dem Nachweis für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, die schwerbehinderten Menschen gesetzlich zustehen. Jedoch wird bereits die Bezeichnung des Ausweises von vielen Menschen als stigmatisierend angesehen, wie die Debatte um eine Umbenennung in Teilhabeausweis sowie und die mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Initiative einer schwerbehinderten Schülerin zur Einführung einer Schwer-in-Ordnung-Ausweishülle, die inzwischen von zahlreichen Bundesländern kostenfrei ausgegeben wird, verdeutlichen. Bei der Nutzung des Schwerbehindertenausweises zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personenverkehr ist zudem zu berücksichtigen, dass sich dieser äußerlich deutlich von Fahrkarten des öffentlichen Personenverkehrs unterscheidet, was - insbesondere bei einer nicht offensichtlichen Schwerbehinderung - ein Hemmnis hinsichtlich der Geltendmachung des Nachteilsausgleichs darstellen kann. Für den Schulweg minderjähriger, und damit besonders vulnerabler, schwerbehinderte Schüler gilt dies in besonderem Maße. Im Fall der Klägerin kommt darüber hinaus hinzu, dass nach den vorgelegten Stellungnahmen ihrer psychologischen Psychotherapeutin und des behandelnden Kinder- und Jugendarztes mögliche Nachfragen zu ihrem Schwerbehindertenausweis bei dieser ein negatives Selbstbild und eine Überforderung erzeugen würden sowie aufgrund ihrer sozio-emotionalen Störung zu unvorhersehbaren Reaktionen führen könnten.
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Die Klägerin aus Gründen der Einsparung von Schulwegkosten auf die Wertmarken des Versorgungsamtes zu verweisen, ist daher mit dem Sinn und Zweck des Nachteilsausgleiches unvereinbar.
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Die Klägerin hat daher einen Anspruch auf Ausstellung von Schülernetzfahrkarten für den Weg zur J. K. Schule und kann für das vergangene Schuljahr die Erstattung der selbst erworbenen Fahrscheine beanspruchen.
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1.2. Daneben hat die Klägerin auch einen Anspruch auf Wegkostenentschädigung gem. § 3 Abs. 3 Satz 2 SchBefV für die von ihren Eltern im Schuljahr 2019/2020 getätigten Fahrten zu den Bushaltestellen „…“ (bzw. baustellenbedingt vorübergehend zur Ersatzhaltestelle „…“) und „…“ mit dem privaten Kraftfahrzeug.
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Aufgrund des Vorrangs der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel bei der Erfüllung der Beförderungspflicht (§ 3 Abs. 2 Satz 1 SchBefV) ist der Einsatz eines privaten Kraftfahrzeugs nur in Ausnahmefällen zulässig, soweit dies notwendig oder insgesamt wirtschaftlicher ist, § 3 Abs. 2 Satz 2 SchBefV. Dabei bedarf es im Vorfeld einen Antrag auf Billigung der Privatfahrten beim Aufgabenträger, der hier jedenfalls konkludent gestellt wurde.
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Im Fall der Klägerin ist ein Ausnahmefall des notwendigen Einsatzes eines privaten Kraftfahrzeugs nach § 3 Abs. 2 Satz 2 SchBefV gegeben. Die Klägerin hat nachgewiesen, dass sie aufgrund ihrer sozio-emotionalen Störung eine Busverbindung benötigt, bei der kein Umsteigen erforderlich ist und mit der sie die Schule erst nach Beginn der regulären Betreuungszeiten erreicht.
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Nach den Stellungnahmen der Psychologischen Psychotherapeutin … … vom 29. Januar 2021 und des Kinder- und Jugendarztes … … vom 9. Februar 2021 ist die Klägerin aufgrund ihrer sozio-emotionalen Störung nicht in der Lage, mit Komplikationen in ihrem Alltag umzugehen. Mit Anschlussschwierigkeiten bei Busverspätungen wäre sie laut der beiden Stellungnahmen überfordert. Nach der gutachterlichen Stellungnahme des Kinder- und Jugendarztes reagiere die Klägerin in solchen Situationen völlig konfus und habe keinerlei weitere Idee zur Behebung der Situation, sondern sitze hilflos an der Bushaltestelle und wisse sich nicht zu helfen. Aus einem derartigen Zustand komme sie über Stunden nicht mehr heraus. Selbst wenn sie dann Hilfe erhalte, um in die Schule oder nach Hause zu kommen, sei an ein Lernen, eine Therapie oder eine Erledigung von Hausaufgaben über Stunden nicht mehr zu denken.
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Des Weiteren wird in beiden Stellungnahmen eine erhebliche Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und Kommunikation, insbesondere mit Gleichaltrigen, konstatiert. Nach der gutachterlichen Stellungnahme des Kinder- und Jugendarztes nehme die Klägerin Erlebnisse aufgrund einer Wahrnehmungsstörung anders war als andere und könne aufgrund einer gestörten Sprachentwicklung in schwierigen Situationen nicht das in Worte fassen, was sie entgegnen wolle. Dadurch sei sie sehr verletzbar. Trotz Teilnahme an einem sozialen Kompetenztraining und der Anbindung einen Kinder- und Jugendpsychiater bestünden die seit dem Kleinkindalter vorhandenen Verhaltensauffälligkeiten fort und es sei zu einer Verschlechterung des Aggressionsverhaltens der Klägerin gekommen. Durch eine flankierende medikamentöse Behandlung habe sich zwar eine gewisse Stabilität entwickelt. Eine Belastbarkeit der Klägerin bestehe jedoch nicht.
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Der Inhalt der beiden Stellungnahmen wird dadurch gestützt, dass die Klägerin über einen Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen „H“ verfügt. Dies setzt nach § 3 Abs. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Juli 1991 (BGBl. I S. 1739), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2652), voraus, dass der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33 b EStG ist, d.h. für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf, § 33 b Abs. 3 Satz 4 EStG.
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Vor diesem Hintergrund ist eine Notwendigkeit nach § 3 Abs. 2 Satz 2 SchBefV für die Fahrten mit dem privaten Kraftfahrzeug zu den Haltestellen „…“ (bzw. baustellenbedingt vorübergehend zur Ersatzhaltestelle „…“) und „…“, von denen aus Busverbindungen zur J. K. Schule bestehen, die den besonderen Bedürfnissen der Klägerin Rechnung tragen, gegeben.
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Die Einholung einer Stellungnahme der J. K. Schule zur Frage der Zumutbarkeit einer Ankunft vor Beginn der regulären Betreuungszeiten an der Schule und eines Umsteigens auf dem Schulweg war entgegen der Anregung des Beklagten nicht veranlasst, da der Schule eine aussagekräftige Beurteilung der Auswirkungen der sozio-emotionalen Störung der Klägerin in Situationen außerhalb des geregelten Schulalltags nicht möglich ist.
44
Die Klägerin hat nach all dem einen Anspruch auf Wegkostenentschädigung gem. § 3 Abs. 3 SchBefV in der geltend gemachten Höhe.
45
2. Der Klage war deshalb mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
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Die Berufung ist nicht zuzulassen, da keiner der in § 124a Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO genannten Gründe vorliegt. Der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zu, weil sich die streitigen Rechtsfragen ohne weiteres aus dem Gesetz und der vorhandenen Rechtsprechung beantworten lassen.