Inhalt

VGH München, Entscheidung v. 18.05.2020 – 20 CS 20.1056
Titel:

Schließung von Schulen und Kindertageseinrichtungen

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 91, § 146 Abs. 4 S. 3, S. 6
IfSG § 4, § 28 Abs. 1 S. 1
BayVwVfG Art. 35 S. 2
BayEVG Art. 37
GG Art. 19 Abs. 4
Leitsätze:
1. Zwar besteht für eine Klageänderung im Beschwerdeverfahren regelmäßig kein Raum, weil die Beschwerde der Intention des Gesetzgebers zufolge nach § 146 Abs. 4 Satz 3 und Satz 6 VwGO nur zulässig ist, soweit sie der Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung dient. Aus Rechtsschutzgründen (Art. 19 Abs. 4 GG) ist im Falle der kurzen Geltungsdauer der angefochtenen Maßnahmen eine Ausnahme zu machen. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dem Robert-Koch-Institut kommt bei der Beurteilung der epidemiologischen Lage aufgrund seiner gesetzlichen Stellung als nationale Behörde u.a. zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen (§ 4 IfSG) herausragende Bedeutung zu. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Schließung von Schulen und Kindertageseinrichtungen, Betretungsverbot, Allgemeinverfügung, Ausschluss, Betreuungsverbot, Beurteilungsspielraum, Erforderlichkeit, Rechtsschutzverfahren, Schulbetrieb, unmittelbare Rechtsbetroffenheit
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 28.04.2020 – M 26 S 20.1657
Rechtsmittelinstanz:
BVerfG Karlsruhe, Beschluss vom 09.06.2020 – 1 BvR 1230/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 9823

Tenor

I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 28. April 2020 wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- EUR festgesetzt.

Entscheidungsgründe

1
Die Beschwerde der Antragsteller ist zulässig (§§ 146, 147 VwGO), hat aber in der Sache keinen Erfolg.
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Auch in Ansehung der im Beschwerdeverfahren allein zu prüfenden, in der fristgerechten Beschwerdebegründung niedergelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) - soweit diese über die bloße Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens hinausgehen und sich konkret mit der Begründung des Verwaltungsgerichts auseinander setzen - folgt der Senat dem Verwaltungsgericht bei seiner Einschätzung, dass im vorliegenden Fall keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Allgemeinverfügungen des Antragsgegners bestehen, sodass eine Aussetzung nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht in Betracht kommt.
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Der Senat geht im Rahmen der Zulässigkeit des Antrags, anders als das Verwaltungsgericht, nicht davon aus, dass Inhalt der Ziffer 1.1 der streitgegenständlichen Allgemeinverfügungen ein Unterrichtsverbot bzw. ein Betreuungsverbot an Kindertagesstätten gegenüber den Antragstellern ist. Denn die Ziffern 1.1 der jeweiligen Allgemeinverfügungen sind so gefasst, dass nur der Unterricht vor Ort und sonstige Schulveranstaltungen sowie das reguläre Betreuungsangebot in Kindertageseinrichtungen entfallen. Diese Anordnungen richten sich zunächst einmal an die Träger der Schulen und der Kindertageseinrichtungen. Die Antragsteller sind von der Anordnung der Ziffer 1.1 der Allgemeinverfügungen vom 8. Mai 2020 nur mittelbar betroffen. Zwar mag es sein, dass die durch die Allgemeinverfügungen veranlassten Maßnahmen die Antragsteller in ihrem Alltag massiv betreffen. Dies bedeutet jedoch nicht eine unmittelbare Rechtsbetroffenheit. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Maßnahmen, wie hier, vorübergehender Natur sind. Die Frage der Rechtsbetroffenheit, insbesondere der Antragsteller zu 1 und 2, stellt jedoch eine schwierige Rechtsfrage dar, dessen Klärung einem entsprechenden Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss, so dass der Senat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren von einer möglichen Rechtsverletzung der Antragsteller ausgeht. Bei den Antragstellern zu 2 bis 6 kommt hinzu, dass sie durch die Ziffern 1.2 bzw. 1.4 der jeweiligen Allgemeinverfügungen, in denen Betretungsverbote für die Schulen und Kindertagesstätten ausgesprochen werden, in ihren Rechten verletzt sein können.
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Die von den Antragstellern vorgenommene Antragsänderung analog § 91 VwGO ist zulässig. Zwar entspricht es der Rechtsprechung des Senats, dass für eine Klageänderung im Beschwerdeverfahren regelmäßig kein Raum besteht, weil die Beschwerde der Intention des Gesetzgebers zufolge nach § 146 Abs. 4 S. 3 und S. 6 VwGO nur zulässig ist, soweit sie der Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung dient. Ggf. muss erneut erstinstanzlicher Eilrechtsschutz in Anspruch genommen werden. Im vorliegenden Fall ist jedoch aufgrund der kurzen Geltungsdauer der angefochtenen Maßnahmen bis einschließlich 24. Mai 2020 bzw. 1. Juni 2020 aus Rechtsschutzgründen (Art. 19 Abs. 4 GG) im Falle einer objektiven Klageänderung eine Ausnahme zu machen.
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Zutreffend geht jedoch das Verwaltungsgericht davon aus, dass bei summarischer Prüfung viel dafür spricht, dass die Klagen der Antragsteller voraussichtlich erfolglos sein werden.
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Die Antragsteller sind zunächst der Meinung, dass die vom Antragsgegner getroffenen Maßnahmen, die Schließung der Schulen und Kindertagesstätten, nicht durch Allgemeinverfügungen, sondern durch ein formelles Parlamentsgesetz hätte geregelt werden müssen. Grund hierfür sei, dass diese Maßnahmen bereits zum zweiten Mal verlängert worden seien und es sich aus der Natur der Sache ergebe, dass sie noch weitere Male verlängert und länger andauern würden, solange kein Impfstoff oder Medikament gegen Covid-19 gefunden werde. Damit dringen die Antragsteller nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat ohne Rechtsfehler ausgeführt, dass die Schließungen auf die Rechtsgrundlage des §28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestützt werden können. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass der Antragsgegner als Träger der Infektionsschutzbehörden insoweit schrittweise vorgeht und durch befristete Maßnahmen gezwungen, aber auch berechtigt ist, auf die sich verändernde epidemiologische Lage zu reagieren. Im Übrigen hat der Deutsche Bundestag mit Inkrafttreten des §5 Abs. 1 Satz 1 IfSG (BGBl 2020 Teil I Nr. 14) aufgrund der derzeitigen Ausbreitung des neuen Coronavirus (SARS-CoV-2) in Deutschland eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt (BT-Plenarprotokoll 19/154 S. 19169 C). Ob dies bereits ausreicht, den Parlamentsvorbehalt zu gewährleisten, muss allerdings der Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
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Soweit die Antragsteller rügen, dass aufgrund der bereits mehrwöchigen Dauer der Schließungen der Beurteilungsspielraum des Antragsgegners zunehmend eingeengt werde und dieser deswegen den Nachweis schulde, dass tatsächlich ein erhebliches Infektionsrisiko von Kindern ausgehe, dieses zu einer Gefährdung von Risikogruppen und des Gesundheitssystems führen könne und dass sich dies auch nicht anders als durch Schulschließungen bzw. temporären Ausschluss von Kindern aus dem Betreuungs- und Schulbetrieb verhindern lasse, so hat sich das Verwaltungsgericht eingehend mit der bereits dort vorgebrachten Argumentation auseinandergesetzt (S. 11 bis 14 des Beschlusses) und ist zum Ergebnis gekommen, dass die angegriffenen Maßnahmen geeignet und erforderlich sind (vgl. auch VGH BW, B.v. 11.5.2020 - 1 S 1216/20 - juris). Durch schlichte Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vorbringens können die Antragsteller die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht in Frage stellen. Das Verwaltungsgericht hat insbesondere auf die aktuellen Einschätzung des Robert-Koch-Institutes (RKI) hingewiesen, in der ausgeführt wird, dass Kinder häufig einen asymptomatischen oder sehr milden Verlauf haben und dementsprechend oft nicht als SARS-CoV-2-Infizierte erkannt werden. Asymptomatische und präsymptomatische Übertragungen spielen aber im aktuellen Infektionsgeschehen prozentual eine wichtige Rolle und können ohne Schutzmaßnahmen im Alltag nur schwer verhindert werden. Vor allem jüngere Kinder können sich nicht in vollem Umfang an kontaktreduzierende und Hygienemaßnahmen halten. Es besteht damit die Gefahr, dass sich SARS-CoV-2 effektiv unter Kindern und Jugendlichen in Betreuungs- und Bildungseinrichtungen ausbreitet. Auf Grund der verschiedenen und engen außerschulischen Kontakte ist zudem von einem Multiplikatoreffekt mit Ausbreitung in den Familien und nachfolgend in der Bevölkerung auszugehen (Epidemiologisches Bulletin 19/2020 7. Mai 2020 S. 6/7). Dem RKI kommt bei der Beurteilung der epidemiologischen Lage aufgrund seiner gesetzlichen Stellung als nationale Behörde u.a. zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen (§ 4 IfSG) herausragende Bedeutung zu. Das Verwaltungsgericht hat sich auch eingehend mit der Erforderlichkeit der Maßnahmen auseinandergesetzt und ist zum Ergebnis gekommen, dass mildere, zur Erreichung des Zieles der Verhinderung weiterer Infektionen gleich geeignete Maßnahmen nicht vorhanden sind (S. 13/14 des Beschlusses).
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Die Schließung der Schulen und Kindertagesstätten erweist sich zur Erreichung des Zwecks der Verhinderung weiterer Infektionen auch als angemessen. Zwar mag es sein, dass die Antragsteller faktisch durch die getroffenen Maßnahmen vor allem in der Vergangenheit erheblich beeinträchtigt worden sind und dadurch auch in Eltern- und Erziehungsrechte der Antragsteller zu 1 und 2 sowie Bildungsrechte der Antragsteller zu 3 bis 5 eingegriffen wurde. Diese Eingriffe wiegen angesichts des Zieles der Maßnahmen, die Gesundheit der Bevölkerung vor einer weiteren Ausbreitung von Covid-19 zu schützen, nicht so schwer, dass sie eine Aufhebung der angefochtenen Maßnahmen der Allgemeinverfügungen vom 8. Mai 2020 rechtfertigen. Dies gilt vor allem auch deswegen, weil bereits kein Unterrichts- und Betreuungsverbot angeordnet wurde, denn Unterricht und eine Notbetreuung in Kindertagesstätten haben tatsächlich stattgefunden und finden tatsächlich statt. Zwar mögen die vom Antragsgegner und anderen Schulträgern erarbeiteten schulischen Angebote wie die Beschulung zu Hause und die Notbetreuung in Kindertagesstätte für die Antragsteller nur einen geringeren Wert darstellen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass tatsächlich Unterricht und Betreuung stattgefunden haben und von einem Unterrichtsverbot keine Rede sein kann. Vielmehr bleibt die gesetzliche Schulpflicht (Art. 37 BayEVG) unangetastet.
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Letztlich haben die Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats keine Umstände vorgebracht, welche entscheidend für sie ins Gewicht fallen. So trugen die Antragsteller im Rahmen des Hauptsacheverfahrens zuletzt vor, dass die Antragstellerin zu 4 ab dem 18. Mai 2020 und die Antragstellerin zu 5 ab dem 25. Mai 2020 wieder die Schule besuchen dürften. Für die Antragstellerin zu 3 werde dies erst ab dem 15. Juni 2020 möglich sein. In jedem Fall werde der Schulbesuch nach den Plänen des Antragsgegners auf unabsehbare Zeit im Wochenwechsel zwischen Präsenzunterricht und Heimunterricht stattfinden. Der Heimunterricht sei jedoch kein angemessener Ersatz für einen auf Interaktion angelegten Unterricht. Für die Antragstellerin zu 6 bestehe, zumindest derzeit, die Möglichkeit einer Notbetreuung. Damit können die Antragsteller schulische Angebote und Betreuungsangebote tatsächlich wahrnehmen.
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Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 47 Abs. 1, 2 i.V.m. 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Kraheberger Kokoska-Ruppert Dr. Hahn