Titel:
Erweiterte Gewerbeuntersagung bei Anstiftung zum Veruntreuen von Arbeitsentgelt
Normenketten:
GewO § 35 Abs. 1 S. 1, S. 2
StGB § 266a
Leitsatz:
Hat eine Gewerbetreibende einen Dritten angestiftet, Arbeitnehmer formal als Selbständige zu beschäftigen, obwohl sie in einem abhängigen weisungsgebundenen Beschäftigungsverhältnis standen, und gegenüber den Sozialversicherungsträgern weder die notwendigen Angaben zu den Beschäftigten zu machen noch für diese Sozialversicherungsbeiträge abzuführen, wodurch Arbeitsentgelt in erheblicher Höhe vorenthalten und veruntreut wurde, lässt dies auf einen Charakter der Gewerbetreibenden schließen, der - obwohl seit Begehung der Tat einige Jahre vergangen sind und sie sich seither nichts mehr zuschulden hat kommen lassen - die Annahme rechtfertigt, dass sie ein entsprechendes Verhalten auch bei Ausübung eines anderen Gewerbes oder anderer gewerblicher Tätigkeiten an den Tag legen würde. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erweiterte Gewerbeuntersagung, Unzuverlässigkeit, Gewerbebezogene Straftat, erweiterte Gewerbeuntersagung, gewerbebezogene Straftat
Fundstelle:
BeckRS 2020, 9741
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen eine erweiterte Gewerbeuntersagung.
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Zum 20. Februar 2003 und 1. Februar 2009 zeigte die Klägerin bei der Beklagten die Ausübung des Gewerbes „Tätigkeit im Logistikbereich, Durchführung von Gütertransporten mit Kraftfahrzeugen, deren zulässiges Gesamtgewicht einschließlich Anhänger bis zu 3,5 t beträgt“ an.
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Mit Schreiben der Staatsanwaltschaft Augsburg vom 19. Dezember 2017 wurde der Beklagten mitgeteilt, dass die Klägerin mit Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 14. November 2017 wegen Anstiftung zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 166 Fällen gemäß § 266a Abs. 1, Abs. 2, 26, 28 Abs. 1, 52 Strafgesetzbuch (StGB) rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten verurteilt wurde. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Der Verurteilung liegt nach den Feststellungen des Amtsgerichts Augsburg zugrunde, dass die Klägerin als Subunternehmerin der D. GmbH zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt vor Mai 2011 beschlossen hat, die Beschäftigung formal Selbständiger auf einen Dritten auszulagern. Grund dafür war die Sorge der Klägerin, dass die Beschäftigung formal Selbständiger durch den Zoll aufgedeckt werden könnte. Gemeinsam mit ihrem Ehemann trat die Klägerin an den mit demselben Urteil des Amtsgerichts Augsburg verurteilten Herrn K. heran und überzeugte diesen, künftig als Subunternehmer für die Firma der Klägerin eigene formal selbständige Paketausfahrer und Sortierer als Subunternehmer zu beschäftigen. Im Zeitraum von Mai 2011 bis Mai 2015 beschäftigte Herr K. als Einzelgewerbetreibender 29 Arbeitnehmer gegen Entgelt. Dabei war sowohl Herrn K. als auch der Klägerin bewusst, dass diese 29 Personen nicht selbständig tätig waren, sondern in einem abhängigen weisungsgebundenen Verhältnis standen. Die formal von Herrn K. als Subunternehmer beauftragten Arbeitnehmer übten ihre Arbeit in organisatorischer Abhängigkeit zum Betrieb des Herrn K. aus. Herr K., die Klägerin und deren Ehemann hatten sowohl die Arbeitszeit als auch den Arbeitsablauf organisiert und vorgegeben. Die Arbeitnehmer setzten - mit Ausnahme von eigenen Fahrzeugen der Fahrer - keine eigenen Betriebsmittel oder Kapital ein, noch trugen sie in andere Weise ein unternehmerisches Risiko. Die Bezahlung der Sortierer erfolgte nach geleisteten Arbeitsstunden, die Bezahlung der Fahrer nach geleisteten Stopps. Eine Verhandlung über den Lohn war nicht möglich, Urlaub musste mit Herrn K., der Klägerin und deren Ehemann abgestimmt werden. Die Fahrer trugen Kleidung der D. GmbH, die Sortierer mussten einheitlich in Kleidung der Firma der Klägerin und ihres Ehemannes arbeiten. Zwischen der Arbeit der festangestellten Sortierer und den formal Selbständigen bestand kein Unterschied. Auch in den Fällen, in denen die Beschäftigten zuerst formal selbständig beschäftigt wurden und später eine Festanstellung erhielten, änderte sich hierdurch nichts im täglichen Arbeitsablauf. Die Klägerin und ihr Ehemann waren gegenüber den als Subunternehmer beauftragten Arbeitnehmern weisungsbefugt und traten als Ansprechpartner für die Sortierer bzw. Fahrer auf. Sie verhandelten die Entlohnung und waren für die Einstellung der als Subunternehmer beschäftigten Arbeitnehmer zuständig. Bei Urlaub oder Krankheit mussten die Arbeitnehmer mit der Klägerin und ihrem Ehemann Rücksprache halten, die sich um Ersatz kümmerten. Als Arbeitgeber war Herr K., wie er und die Klägerin sowie deren Ehemann wussten, gemäß § 28a SGB IV der jeweils zuständigen Krankenkasse als Einzugsstelle gegenüber verpflichtet, für den in der Kranken-, Pflege- oder Rentenversicherung oder nach dem Recht der Arbeitsförderung kraft Gesetzes versicherten Beschäftigten zu Beginn der versicherungspflichtigen Beschäftigung zutreffende Angaben über den Umfang der Beschäftigung zu machen, monatliche Sozialversicherungsmeldungen für den Arbeitnehmer, insbesondere zum Lohn, gegenüber der Einzugsstelle abzugeben und die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung an die zuständige Einzugsstelle zu melden und abzuführen. Herr K. unterließ es, wie auch die Klägerin und ihr Ehemann wussten, in 166 Fällen, die von ihm in den Monaten Mai 2011 bis Mai 2015 als Arbeitnehmer beschäftigten Arbeiter ordnungsgemäß zu melden, die monatlichen Meldungen an die Krankenkassen zu tätigen und die Arbeitnehmerbeiträge abzuführen. Auf Grund der unterbliebenen Meldungen der sozialversicherungsrechtlich erheblichen Tatsachen unterließen es die zuständigen Einzugsstellen, die anfallenden Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 360.219,50 Euro einzuziehen. Bei der Strafzumessung hat das Amtsgericht Augsburg zu Gunsten der Klägerin berücksichtigt, dass sie bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist und durch ihr überschießendes Geständnis eine umfangreiche Beweisaufnahme entbehrlich machte. Auch wurde strafmildernd berücksichtigt, dass die Tatzeit bereits sechs Jahre zurücklag und dass sie Schadenswiedergutmachung angekündigt hat. Strafschärfend wurde gewertet, dass sich der Schaden im sechsstelligen Bereich bewegt und dass die Klägerin das Konstrukt bewusst gewählt hat, um rechtliche Konsequenzen aus der Beschäftigung von Scheinselbständigen zu umgehen.
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Das Kassen- und Steueramt der Landeshauptstadt M. teilte der Beklagten mit Schreiben vom 10. Januar 2018 mit, dass bei der Klägerin Gewerbesteuerrückstände in Höhe von 19.998,60 Euro bestünden. Laut Mitteilung des Kassen- und Steueramts der Landeshauptstadt M. vom 10. Oktober 2018 wurde der Klägerin für ihre Gewerbesteuerschulden von 30.876,- Euro Stundung mit Teilzahlungen bewilligt.
5
Mit Schreiben vom 26. Januar 2018 wurde die Klägerin zu einer beabsichtigten erweiterten Gewerbeuntersagung angehört. Zugleich wurde der Industrie- und Handelskammer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Klägerin nahm mit Schreiben ihrer Bevollmächtigten vom 20. Februar 2018 Stellung. Die Bevollmächtigte der Klägerin führte im Wesentlichen aus, die Klägerin habe im Strafverfahren ein vollumfängliches Geständnis abgelegt. Als Bewährungsauflage habe die Klägerin 10.000,- Euro an die Deutsche Rentenversicherung gezahlt, die nächsten Raten würden jeweils 1.000,- Euro im Monat betragen und seien für einen Zeitraum von drei Jahren zu entrichten. Wenn das Gewerbe der Klägerin untersagt würde, könnte sie die Bewährungsauflagen nicht mehr erfüllen. Dies sei nicht nur existenzgefährdend, sondern freiheitsgefährdend. Da gegen die Klägerin und ihren Ehemann dieselben Bewährungsauflagen verhängt worden seien und sie zwei minderjährige Kinder hätten, sei dies unverhältnismäßig.
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Mit Bescheid vom 11. Oktober 2018, zugestellt am 16. Oktober 2018, untersagte die Beklagte der Klägerin die Ausübung des Gewerbes „Tätigkeit im Logistikbereich, Durchführung von Gütertransporten mit Kraftfahrzeugen, deren zulässiges Gesamtgewicht einschließlich Anhänger bis zu 3,5 t beträgt“ als selbständiger Gewerbetreibenden im stehenden Gewerbe (Nummer 1). Zudem wurde der Klägerin die Tätigkeit als Vertretungsberechtigte eines Gewerbetreibenden und als mit der Leitung eines Gewerbebetriebes beauftragte Person sowie die Ausübung jeglicher selbständigen Tätigkeit im stehenden Gewerbe untersagt (Nummer 2). Der Klägerin wurde aufgegeben, ihre Tätigkeit spätestens zehn Tage nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Untersagungsverfügung einzustellen (Nummer 3). Für den Fall, dass die Klägerin dieser Verpflichtung nicht nachkommt, wurde die Anwendung unmittelbaren Zwangs angedroht (Nummer 4). Die Kosten des Verwaltungsverfahrens in Höhe von 454,98 Euro wurden der Klägerin auferlegt (Nummern 5 und 6).
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Zur Begründung führt die Beklagte im Wesentlichen aus, die Klägerin besitze nicht die zur selbständigen Ausübung ihres Gewerbes erforderliche Zuverlässigkeit. Ihr bisheriges Verhalten biete keine Gewähr für eine künftige ordnungsgemäße Ausübung ihres Gewerbes. Ihre Unzuverlässigkeit ergebe sich aus der Verurteilung wegen Anstiftung zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 166 Fällen. Dadurch dass den Sozialversicherungsträgern Krankenkassenbeiträge vorenthalten worden seien, habe die Klägerin nachhaltig das Vermögen der Sozialversicherungsträger geschädigt. Die Verurteilung stehe im Zusammenhang mit der gewerblichen Tätigkeit der Klägerin. Die Taten seien in großer Zahl erfolgt, es sei ein nicht unerheblicher Schaden entstanden. Es liege der Schluss nahe, dass die Klägerin nicht in der Lage sei, für eine ordnungsgemäße Gewerbeausübung zu sorgen und sich an die bestehende Rechtsordnung zu halten. Durch die dem Strafurteil zugrunde liegenden Taten beweise die Klägerin ein großes Maß an fehlendem Verantwortungsbewusstsein. Eine positive Zukunftsprognose könne bei der Anzahl der Fälle, für die die Sozialabgaben nicht ordnungsgemäß abgeführt worden seien, und dem Zeitraum von mehreren Jahren, über den sich die Taten erstreckt hätten, nicht gestellt werden. Das Schutzinteresse der Allgemeinheit bedinge die Gewerbeuntersagung. Die Allgemeinheit sei davor zu schützen, dass ihr die benötigten Geldmittel von der Klägerin in Auswirkung ihrer Unzuverlässigkeit vorenthalten würden. Die Gewerbeuntersagung sei verhältnismäßig. Nach pflichtgemäßem Ermessen werde die Gewerbeuntersagung erweitert, da die Klägerin gewerbeübergreifend unzuverlässig sei und ein Ausweichen auf anderweitige Gewerbetätigkeiten zu erwarten sei. Die Ausdehnung der Gewerbeuntersagung sei sachgerecht und geboten. Das Interesse der Klägerin an der Ausübung jeglicher selbständigen Gewerbetätigkeit, auch als Vertretungsberechtigte, habe hinter dem Interesse der Allgemeinheit an der Abwendung weiterer Schäden zurückzutreten. Die Frist zur Einstellung des Betriebs sei angemessen. Insbesondere sei sie ausreichend, um der Klägerin eine vernünftige, aber zügige Abwicklung zu ermöglichen. Die Androhung des unmittelbaren Zwangs erfolge nach Art. 29, 34 und 36 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz. Das weniger einschneidende Zwangsgeld verspreche im Hinblick auf die charakterliche Einstellung der Klägerin zur Verletzung der Rechtsordnung keinen Erfolg.
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Mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 5. November 2018, bei Gericht eingegangen am 8. November 2018, ließ die Klägerin Klage erheben und beantragen,
den Bescheid der Beklagten vom 11. Oktober 2018 aufzuheben.
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Zur Klagebegründung führt der Bevollmächtigte der Klägerin im Wesentlichen aus, die Verurteilung für sich allein spreche nicht gegen eine dauerhaft positive Prognose. Es liege ein Einmalversagen vor. Es sei nicht ersichtlich, dass und aus welchen Gründen es in Zukunft zu neuen Pflichtverletzungen kommen werde. Auch habe die Klägerin, abgesehen von der Verurteilung, ihr Gewerbe seit Februar 2003 beanstandungsfrei ausgeübt und sich über Jahre hinweg nichts zuschulden kommen lassen. Die Ermessenserwägungen seien insofern unvollständig und fehlerhaft. Jedenfalls sei die Erstreckung der Gewerbeuntersagung auf alle anderen selbständigen Gewerbe ermessensfehlerhaft. Es würden jegliche Anhaltspunkte dafür fehlen, dass sich das der Klägerin unterstellte gewerberechtlich unzuverlässige Verhalten gewerbeübergreifend fortsetze. Auch seien keine Gründe dafür dargetan oder sonst ersichtlich, dass die erweiterte Gewerbeuntersagung und der damit verbundene Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit nach Art. 12 Grundgesetz erforderlich seien.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung führt die Beklagte mit Schreiben vom 6. Dezember 2018 im Wesentlichen aus, die Unzuverlässigkeit der Klägerin ergebe sich aus den der strafrechtlichen Verurteilung zugrundeliegenden Tatsachen. Nach dem Gesamteindruck, den die Klägerin in der Vergangenheit gezeigt habe, bestehe keinerlei Gewähr dafür, dass sie zukünftig ihren Verpflichtungen als Gewerbetreibende ordnungsgemäß nachkommen werde.
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Mit Beschluss vom 17. Dezember 2019 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Das Gericht hat am 10. Februar 2020 zur Sache mündlich verhandelt.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 10. Februar 2020 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig, insbesondere wurde sie innerhalb der Klagefrist von einem Monat gemäß § 74 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) erhoben. Die Klage ist aber nicht begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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1. Rechtsgrundlage für die Untersagung des von der Klägerin ausgeübten Gewerbes ist § 35 Abs. 1 Satz 1 Gewerbeordnung (GewO). Danach ist die Ausübung eines Gewerbes ganz oder teilweise zu untersagen, wenn Tatsachen vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden oder einer mit der Leitung des Gewerbebetriebs beauftragten Person in Bezug auf dieses Gewerbe dartun, sofern die Untersagung zum Schutze der Allgemeinheit oder der im Betrieb Beschäftigten erforderlich ist.
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a) Die Beklagte ist zu Recht von der gewerberechtlichen Unzuverlässigkeit der Klägerin ausgegangen.
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Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Gewerbetreibender unzuverlässig, wenn er nach dem Gesamteindruck seines Verhaltens nicht die Gewähr dafür bietet, dass er sein Gewerbe künftig ordnungsgemäß betreiben wird. Die Unzuverlässigkeit kann sich insbesondere aus der mangelnden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, dem Vorliegen von Steuerschulden, der Verletzung von steuerlichen Erklärungspflichten, dem Vorhandensein von Beitragsrückständen bei Sozialversicherungsträgern oder aus Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit der gewerblichen Betätigung ergeben (BVerwG, U.v. 15.4.2015 - 8 C 6/14 - juris; BVerwG, U.v. 2.2.1982 - 1 C 17/79 - BVerwGE 65, 9 ff).
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Für die erforderliche Prognose zur Feststellung der Unzuverlässigkeit ist aus den bereits vorhandenen tatsächlichen Umständen auf ein wahrscheinliches zukünftiges Verhalten des Gewerbetreibenden zu schließen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Zuverlässigkeit ist wegen der Möglichkeit der Wiedergestattung des Gewerbes nach § 35 Abs. 6 GewO der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung. Nachträgliche Veränderungen der Sachlage, wie eine Minderung von Verbindlichkeiten, bleiben außer Betracht (BVerwG, U.v. 15.4.2015 - 8 C 6/14 - juris; BVerwG, U.v. 2.2.1982 - 1 C 17/79 - BVerwGE 65, 9 ff).
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Aus dem ausschließlich sicherheitsrechtlichen, zukunftsbezogenen Regelungszweck von § 35 GewO folgt, dass es auf ein Verschulden des Gewerbetreibenden hinsichtlich der die Annahme der Unzuverlässigkeit rechtfertigenden Umstände nicht ankommt (BVerwG, B.v. 11.11.1996 - 1 B 226/96 - juris). Dies bedeutet aber nicht, dass die die Annahme der Unzuverlässigkeit rechtfertigenden Umstände bei rechtswidrigem Verhalten des Gewerbetreibenden ausnahmslos in jedem Fall bejaht werden können, ohne dass hierbei die Frage in den Blick genommen würde, inwieweit Pflichtverletzungen vorsätzlich bzw. fahrlässig begangen wurden. Ist ein strafrechtlich geahndetes persönliches Fehlverhalten des Gewerbetreibenden Anlass für die Prüfung einer Gewerbeuntersagung, so kann die Prüfung, ob sich der Gewerbetreibende künftig erneut falsch verhalten und damit die Allgemeinheit oder die im Betrieb Beschäftigten gefährden wird, regelmäßig nicht zutreffend beurteilt werden, ohne zum einen die Gründe für das Verhalten des Gewerbetreibenden zu kennen und zum anderen zu berücksichtigen, ob sich der Betreffende der Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens bewusst war (BayVGH, B.v. 20.7.2016 -22 ZB 16.284 - juris).
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Nicht das Strafurteil, sondern das Verhalten des Gewerbetreibenden, das zu dem Urteil geführt hat, kann eine Gewerbeuntersagung erfordern (BVerwG, B.v. 23.5.1995 - 1 B 78/95 - juris). Die Gewerbebehörden und Verwaltungsgerichte müssen sich selbst davon überzeugen, welcher Sachverhalt einer Strafe zugrunde gelegen hat - wobei sie in der Regel von den tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts ausgehen dürfen -, und in eigener Verantwortung prüfen, ob die der Bestrafung zugrunde liegenden Tatsachen eine Verneinung der Zuverlässigkeit rechtfertigen (BVerwG, B.v. 26.2.1997 - 1 B 34/97 - juris). Dabei kann sich die von der Behörde anzustellende Prognose, wonach der Gewerbetreibende auf Grund der für die Vergangenheit festgestellten Verstöße auch für die Zukunft als unzuverlässig gilt, schon auf eine erhebliche gewerbebezogene Straftat stützen (OVG NRW, B.v. 16.6.2016 - 4 B 1401/15 - juris).
22
Die Beantwortung der Frage, ob länger zurückliegende Straftaten einem Gewerbetreibenden im Rahmen eines Untersagungsverfahrens nach § 35 GewO noch entgegengehalten werden dürfen, hat auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller einschlägigen Umstände zu erfolgen, in die namentlich die Art und die Umstände der Delikte sowie die Entwicklung der Persönlichkeit des Betroffenen einzubeziehen sind (BayVGH, B.v. 5.3.2014 - 22 ZB 12.2174 - juris).
23
Nach diesen Maßstäben durfte die Beklagte die negative Zukunftsprognose hinsichtlich der gewerberechtlichen Zuverlässigkeit der Klägerin auf den der Verurteilung wegen Anstiftung zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 166 Fällen zugrundeliegenden Sacherhalt, wie er vom Amtsgericht Augsburg ermittelt wurde, stützen. Indem die Klägerin im Rahmen der Ausübung ihrer gewerblichen Tätigkeit einen Dritten angestiftet hat, Arbeitnehmer formal als Selbständige zu beschäftigen, obwohl sie in einem abhängigen weisungsgebundenen Beschäftigungsverhältnis standen, und gegenüber den Sozialversicherungsträgern weder die notwendigen Angaben zu den Beschäftigten zu machen noch für diese Sozialversicherungsbeiträge abzuführen, wurde Arbeitsentgelt von über 360.000,- Euro vorenthalten und veruntreut. Dabei handelte die Klägerin nach den Feststellungen des Amtsgerichts Augsburg in dem Entschluss, die Beschäftigung formal Selbständiger auf einen Dritten auszulagern, weil sie Sorge hatte, dass die Beschäftigung von Scheinselbständigen durch den Zoll aufgedeckt werden könnte. Dieser gewerbebezogene Rechtsverstoß ist geeignet, die Unzuverlässigkeit der Klägerin zu begründen. Aus dem Verhalten der Klägerin wird deutlich, dass sie den finanziellen Vorteil für sich selbst und den von ihr angestifteten Dritten über die Verpflichtung zur Abgabe wahrheitsgemäßer Erklärungen gegenüber den Sozialversicherungsträgern und zur Abführung der zu leistenden Sozialversicherungsbeiträge gestellt hat und nicht bereit war, Sozialversicherungsbeiträge für abhängig Beschäftigte zu leisten. Dabei ist die Klägerin nach den Feststellungen des Amtsgerichts Augsburg absichtsvoll und planvoll vorgegangen, um ihr Ziel zu erreichen, hat ihr strafrechtlich relevantes Verhalten über einen Zeitraum von vier Jahren aufrechterhalten und in Kauf genommen, dass den Sozialversicherungsträgern ein erheblicher Schaden entsteht. Hinzu kommt, dass die Klägerin nach den Feststellungen des Amtsgerichts Augsburg dieses Konstrukt der Anstiftung eines Dritten bewusst gewählt hat, um selbst rechtliche Konsequenzen aus der Beschäftigung von Scheinselbständigen zu umgehen. Dies lässt auf einen Charakter der Klägerin schließen, der - obwohl seit Begehung der Tat einige Jahre vergangen sind und sich die Klägerin seither nichts mehr zuschulden hat kommen lassen - die negative Zukunftsprognose, wie sie von der Beklagten angestellt wurde, trägt.
24
b) Gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO ist die Ausübung des Gewerbes bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen zu untersagen. Ein Ermessensspielraum steht der zuständigen Behörde insoweit grundsätzlich nicht zu. In Anbetracht des Verhaltens der Klägerin, wie es der rechtskräftigen Verurteilung wegen Anstiftung zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt zugrunde liegt, war die Untersagung der Gewerbeausübung auch zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich.
25
c) Die Gewerbeuntersagung ist nicht unverhältnismäßig. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine den gesetzlichen Anforderungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO entsprechende Gewerbeuntersagung allenfalls in extremen Ausnahmefällen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen kann (BVerwG, B.v. 19.1.1994 - 1 B 5/94 - juris). Anhaltspunkte für das Vorliegen eines solchen ex-tremen Ausnahmefalls sind, auch unter Berücksichtigung der vorgetragenen Bedeutung der Einkünfte der Klägerin aus ihrer gewerblichen Tätigkeit für die Existenzgrundlage ihrer Familie mit zwei minderjährigen Kindern, im vorliegenden Fall nicht ersichtlich.
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2. Rechtsgrundlage für die Erweiterung der Gewerbeuntersagung auf die Tätigkeit als Vertretungsberechtigte eines Gewerbetreibenden und als mit der Leitung eines Gewerbebetriebes beauftragte Person sowie auf die Ausübung jeglicher selbständigen Tätigkeit ist § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO. Danach kann die Untersagung auch auf die Tätigkeit als Vertretungsberechtigter eines Gewerbetreibenden oder als mit der Leitung eines Gewerbebetriebs beauftragte Person sowie auf einzelne andere oder auf alle Gewerbe erstreckt werden, soweit die festgestellten Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Gewerbetreibende auch für diese Tätigkeiten oder Gewerbe unzuverlässig ist.
27
a) Die Beklagte hat aus überzeugenden Gründen eine gewerbeübergreifende Unzuverlässigkeit der Klägerin angenommen.
28
Eine gewerbeübergreifende Unzuverlässigkeit liegt nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn der Gewerbetreibende Verpflichtungen verletzt, die für jeden Gewerbetreibenden gelten und nicht nur einen Bezug zu einer bestimmten gewerblichen Tätigkeit haben. Dies ist bei steuerlichen Pflichtverletzungen und bei ungeordneten Vermögensverhältnissen der Fall (BVerwG, U.v. 15.4.2015 - 8 C 6/14 - juris; U.v. 2.2.1982 - 1 C 17/79 - BVerwGE 65, 9 ff).
29
Dass die Klägerin nach den Feststellungen des Amtsgerichts Augsburg einen Dritten angestiftet hat, Arbeitnehmer formal als Selbständige zu beschäftigen, obwohl sie in einem abhängigen weisungsgebundenen Beschäftigungsverhältnis standen, und gegenüber den Sozialversicherungsträgern weder die notwendigen Angaben zu den Beschäftigten zu machen noch für diese Sozialversicherungsbeiträge abzuführen, wodurch Arbeitsentgelt in erheblicher Höhe vorenthalten und veruntreut wurde, lässt auf einen Charakter der Klägerin schließen, der - obwohl seit Begehung der Tat einige Jahre vergangen sind und sich die Klägerin seither nichts mehr zuschulden hat kommen lassen - die Annahme rechtfertigt, dass sie ein entsprechendes Verhalten auch bei Ausübung eines anderen Gewerbes oder anderer gewerblicher Tätigkeiten an den Tag legen würde.
30
b) Die Erstreckung der Gewerbeuntersagung auf andere gewerbliche Tätigkeiten ist auch erforderlich.
31
Erforderlich ist die Erstreckung der Gewerbeuntersagung, wenn zu erwarten ist, dass der Gewerbetreibende auf entsprechende andere gewerbliche Tätigkeiten ausweichen wird. Dabei folgt die Wahrscheinlichkeit der anderweitigen Gewerbeausübung schon daraus, dass der Gewerbetreibende trotz Unzuverlässigkeit an seiner gewerblichen Tätigkeit festgehalten hat, wodurch er regelmäßig seinen Willen bekundet hat, sich auf jeden Fall gewerblich zu betätigen. Die erweiterte Gewerbeuntersagung ist unter dem Gesichtspunkt wahrscheinlicher anderweitiger Gewerbeausübung schon dann zulässig, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, die es ausschließen, dass der Gewerbetreibende das andere Gewerbe in Zukunft ausübt, eine anderweitige Gewerbeausübung nach Lage der Dinge also ausscheidet (BVerwG, U.v. 15.4.2015 - 8 C 6/14 - juris; BVerwG, U.v. 2.2.1982 - 1 C 17/79 - BVerwGE 65, 9 ff). Solche besonderen Umstände sind im vorliegenden Fall weder vorgetragen noch ersichtlich.
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c) Ermessensfehler sind nicht ersichtlich, § 114 Abs. 1 VwGO.
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Die Erweiterung der Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO steht im Ermessen der Behörde. Ist ein Gewerbetreibender in Bezug auf andere - nicht ausgeübte - gewerbliche Betätigungen unzuverlässig und ist die Untersagung auch hinsichtlich dieser Betätigungen erforderlich, so ist eine Ermessensentscheidung, die von der Möglichkeit der erweiterten Gewerbeuntersagung Gebrauch macht, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht rechtswidrig, wenn der Verwaltungsentscheidung zumindest konkludent die maßgebliche Erwägung entnommen werden kann, die anderweitige Gewerbeausübung sei so wahrscheinlich, dass sich die Untersagung auch darauf erstrecken soll (BVerwG, U.v. 2.2.1982 - 1 C 17/79 - BVerwGE 65, 9 ff). Eine Ermessenserwägung dieser Art lässt sich der angefochtenen Untersagungsverfügung entnehmen.
34
d) Die Erweiterung der Gewerbeuntersagung ist nicht unverhältnismäßig. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass der Ausschluss eines gewerbeübergreifend unzuverlässigen Gewerbetreibenden aus dem Wirtschaftsverkehr auch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in seiner Ausprägung durch Art. 12 Grundgesetz in Einklang steht. Sind die Voraussetzungen auch der erweiterten Gewerbeuntersagung erfüllt, kann die Untersagung grundsätzlich nicht hinsichtlich der Folgen unverhältnismäßig sein (BVerwG, B.v. 12.1.1993 - 1 B 1/93 - juris). Anhaltspunkte für das Vorliegen eines extremen Ausnahmefalls sind im vorliegenden Fall, auch unter Berücksichtigung der vorgetragenen Bedeutung der Einkünfte der Klägerin aus ihrer gewerblichen Tätigkeit für die Existenzgrundlage ihrer Familie mit zwei minderjährigen Kindern, nicht ersichtlich.
35
3. Hinsichtlich der Bemessung der Frist zur Einstellung der Gewerbeausübung und hinsichtlich der Zwangsmittelandrohung bestehen keine rechtlichen Bedenken.
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Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.