Titel:
Kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes - Einzelfall
Normenketten:
AsylG § 4 Abs. 1 S. 1, § 31 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1, § 34 Abs. 1,
AufenthG § 11 Abs. 2, § 59, § 60 Abs. 5, Abs. 7, § 75 Nr. 12
Leitsatz:
Trotz äußerst schwieriger Lebensbedingungen in Sierra Leone muss davon ausgegangen werden, dass sich ein junger, gesunder, arbeitsfähiger Mann, der zudem fünf Jahre lang die Schule besucht hat, ein Existenzminimum zumindest durch Gelegenheitsjobs erarbeiten kann. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sierra Leone, Existenzminimum, Gelegenheitssjob, Abschiebungsschutz
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 30.03.2020 – 9 ZB 20.30692
Fundstelle:
BeckRS 2020, 9695
Tenor
I. Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen worden ist.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt), mit dem sein Asylantrag abgelehnt wurde. Er begehrt zuletzt noch die Zuerkennung subsidiären Schutzes sowie hilfsweise die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote.
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Der am … 1997 geborene Kläger, ein sierra-leonischer Staatsangehöriger vom Stamm der Fulla und islamischen Glaubens, reiste nach seinen Angaben am 23.6.2016 von Italien kommend mit dem Zug über Frankreich nach Deutschland nach Deutschland, wo er am 19.1.2017 einen Asylantrag stellte.
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Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 3.3.2017 gab der Kläger im Wesentlichen an, er sei als kleines Kind mit seiner Mutter nach Guinea gegangen. Im Januar 2016 sei er wieder nach Sierra Leone zurückgekehrt. Er habe zuletzt in Freetown gewohnt. Sierra Leone habe er am 15.6.2016 verlassen.
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Zu möglichen Verwandten in Sierra Leone könne er keine Angaben machen. Er habe einen Bruder, eine Schwester und einen Onkel in Guinea, zu denen er keinen Kontakt habe. Ferner gebe es noch weitere Tanten und Onkel, zu denen er aber ebenfalls keinen Kontakt habe. Der Kläger sei fünf Jahre lang in die Grundschule in Guinea gegangen. Er habe „ein bisschen Automechaniker“ gelernt.
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Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Kläger an, in Guinea habe er ein Mädchen geschwängert. Nach seinem Glauben sei dies verboten, wenn man vorher nicht geheiratet habe. Die Familie des Mädchens habe den Kläger töten wollen. Deshalb sei der Kläger nach Sierra Leone geflüchtet. Nachdem er vier Monate lang in Sierra Leone gewesen sei, habe die Familie des Mädchens gehört, dass er sich nunmehr in Sierra Leone aufhalte. Die Familie des Mädchens sei dann auch nach Sierra Leone gekommen. Ein Freund des Klägers habe ihm dann angeboten, ihn nach Mali zu fahren, bevor er in Sierra Leone getötet werde. In Mali habe er Geld von dem Freund erhalten, mit dem er weitergereist sei.
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Mit Bescheid vom 1.3.2018, dem Kläger zugestellt am 2.3.2018, erkannte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1) und lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2). Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Ziffer 3). Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG würden nicht vorliegen (Ziffer 4). Unter Androhung seiner Abschiebung nach Sierra Leone oder in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, forderte das Bundesamt den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Der Kläger habe nicht vorgetragen, wegen flüchtlingsrechtlich relevanter Merkmale im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG verfolgt worden zu sein. Daher komme weder eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch die Asylanerkennung infrage. Auch der subsidiäre Schutz könne nicht zuerkannt werden. Es sei nicht ersichtlich, wie die Familie der Freundin des Klägers, die in Guinea lebe, überhaupt von der Rückkehr des Klägers nach Sierra Leone erfahren haben sollte. Die hypothetische, entfernte Möglichkeit eines rein zufälligen Auffindens vermöge nicht den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfüllen. Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation in Sierra Leone komme auch die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote nicht in Betracht. Der Kläger - ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann - sei mit den westafrikanischen Lebensgewohnheiten, Normen, Werten und Riten vertraut. Deshalb sei davon auszugehen, dass es ihm gelingen werde, eine Lebensgrundlage für sich zu schaffen. Hinsichtlich der Begründung im Übrigen wird auf den Inhalt des Bescheids Bezug genommen.
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Am 13.3.2018 ließ der Kläger Klage erheben, die er nicht weiter begründete. Ziel der Klage war zunächst die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzes und weiterhin hilfsweise die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote.
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In der mündlichen Verhandlung am 13.1.2020 wurde der Kläger erneut zu seinen Fluchtgründen angehört. Bezüglich seiner Angaben wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
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In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger die Klage zurückgenommen, soweit er ursprünglich auch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt hat.
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Er beantragt nunmehr nur noch sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 3, 4, 5 und 6 des Bescheids des Bundesamtes vom 1.3.2018 zu verpflichten, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen.
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Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die Gründe des streitgegenständlichen Bescheids,
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Akten des Bundesamts, die dem Gericht in elektronischer Form vorgelegen haben, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige, insbesondere fristgemäß erhobene (vgl. § 74 Abs. 1 Hs. 1 AsylG) Klage ist nicht begründet. Die Entscheidungen des Bundesamts, den subsidiären Schutzstatus nicht zuzuerkennen sowie das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu verneinen und den Kläger unter Androhung seiner Abschiebung nach Sierra Leone zur Ausreise aufzufordern, sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Entsprechendes gilt für die vorgenommene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Die vom Bundesamt gemäß den §§ 31 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AsylG sowie den §§ 75 Nr. 12, 11 Abs. 2 AufenthG getroffenen Entscheidungen sind im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblich ist, nicht zu beanstanden.
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1. Die Ziffern 2 und 3 des streitgegenständlichen Bescheids (Ablehnung der Asylanerkennung sowie der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschafrt) werden mit der Klage nicht (mehr) angegriffen. Insoweit ist der angegriffene Bescheid bestandskräftig geworden (vgl. VGH BW, U.v. 26.10.2016 - A 9 S 908/13 - juris).
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2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes.
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Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
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Die Gefahr eines ernsthaften Schadens kann ausgehen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, da § 3c AsylG gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG entsprechend gilt.
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Für die Beurteilung der Frage, ob die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens begründet ist, gilt unabhängig davon, ob ein Antragsteller bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 - juris, Rn. 22 = BVerwGE 140, 22). Eine Privilegierung desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat, erfolgt aber durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie (QualRL - Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 ff.). Ein bereits erlittener bzw. vor der Ausreise unmittelbar drohender ernsthafter Schaden, sind danach ernsthafte Hinweise darauf, dass ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, auch im Falle einer Rückkehr einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies gilt nur dann nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Ausländer erneut von einem solchen Schaden bedroht wird. In der Vergangenheit liegenden Umständen ist damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beizumessen (vgl. auch OVG NRW, U.v. 21.2.2017 - 14 A 2316/16.A - juris, Rn. 24).
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Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Flüchtlings die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG U.v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 - juris, Rn. 16 = BVerwGE 71, 180 und U.v. 11.11.1986 - 9 C 316.85 - juris, Rn. 11). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Ausländer nur geglaubt werden, wenn die Widersprüche und Ungereimtheiten überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 - juris, Rn. 16, U.v. 1.10.1985 - 9 C 19.85 - juris, Rn. 16 und B.v. 21.7.1989 - 9 B 239.89 - juris, Rn. 3 = NVwZ 1990, 171).
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a) Dass dem Kläger in Sierra Leone die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch staatliche Stellen droht, ist nicht ersichtlich. Der Kläger selbst hat dies zu keinem Zeitpunkt vorgetragen. Er hatte nach seinem eigenem Vortrag zu keinem Zeitpunkt Probleme mit staatlichen Stellen in seinem Heimatland. Er behauptete lediglich, er sei wegen der Verfolgung durch die Familie des Mädchens nicht zur Polizei gegangen, weil diese korrupt sei und ihm nicht helfen werde.
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Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass die Verfassung von Sierra Leone Folter und andere grausame, inhumane oder entwürdigende Praktiken oder Bestrafungen verbietet. Die Todesstrafe ist für die Kapitalverbrechen Landesverrat und schweren Raub vorgesehen. Bei Mord ist sie zwingend vorgeschrieben. Die Kommission für Wahrheit und Versöhnung hat in ihrem Abschlussbericht deren Abschaffung empfohlen (vgl. Informationszentrum Asyl und Migration des Bundesamts, Glossar Islamische Länder - Band 17, Sierra Leone, Mai 2010). Auch wenn die Todesstrafe noch nicht abgeschafft ist, so wird ein Moratorium beachtet. Seit 1998 wurde sie nicht mehr praktiziert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Sierra Leone, Wien am 3.5.2017).
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b) Die Zufügung eines ernsthaften Schadens durch nichtstaatliche Akteure (vgl. §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3c Nr. 3 AsylG) hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht.
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Aufgrund der äußerst vagen und oberflächlichen Angaben, die der Kläger im Verlauf seines Asylverfahrens gemacht hat, bestehen schon ganz erhebliche Zweifel daran, dass der Kläger von wahren Begebenheiten berichtet hat. Selbst wenn man jedoch davon ausgehen wollte, dass die Familie des Mädchens, das der Kläger in Guinea geschwängert haben will, dem Kläger nach Sierra Leone gefolgt ist und diesen dort töten wollte, muss sich der Kläger auf internen Schutz verweisen lassen.
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Nach den §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3e Abs. 1 AsylG wird einem Ausländer der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt, wenn in einem Teil seines Herkunftslandes keine Gefahr besteht, dass er einen ernsthaften Schadens erleidet oder er dort Zugang zu Schutz vor einem ernsthaften Schaden nach den §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3d AsylG hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG) und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG).
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Nach den dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen ist dies dann der Fall, wenn sich der Kläger nicht in Kingtom (Freetown) niederlässt. Nach den Angaben des Klägers sei dies der letzte Aufenthaltsort in Sierra Leone gewesen. Dieser sei der Familie des Mädchens bekannt. Insbesondere in größeren Städten - etwa in Freetown, Waterloo, Makeni, Bo, Kenema oder Port Loko -, ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger dort von nichtstaatlichen Akteuren aufgespürt werden könnte. Insbesondere in den größeren Städten Sierra Leones ist es nach der Überzeugung des Gerichts möglich, unbehelligt von nichtstaatlichen Akteuren zu leben. In der Verfassung von Sierra Leone sind uneingeschränkte Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr verankert. Auch wenn es Berichte gibt, wonach Sicherheitskräfte bei Straßensperren außerhalb der Hauptstadt Bestechungsgelder von Fahrzeuglenkern verlangen, ist doch festzustellen, dass die Regierung diese Rechte respektiert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Sierra Leone, Wien am 3.5.2017, S. 18). Angesichts der in Sierra Leone bestehenden infrastrukturellen Mängel ist nicht einmal ansatzweise erkennbar, wie etwaige Verfolger den Kläger auffinden sollten, wenn er sich in einer größeren Stadt niederließe. In Sierra Leone existiert kein ordnungsgemäßes Zivilregister (AA, Auskunft an das Bundesamt vom 17.10.2017), so dass es selbst für staatliche Stellen schwierig sein dürfte, eine bestimmte Person in einer Großstadt ausfindig zu machen. So führt das Auswärtige Amt in einer Auskunft an das Verwaltungsgericht Regensburg vom 4.11.2019 (Gz.: 508-9-516.80/52992) aus, dass sich selbst Straftäter, die wegen eines Tötungsdelikts gesucht werden, durch einen Aufenthaltswechsel oder Fernhalten von der ermittelnden Polizeibehörde innerhalb Sierra Leones einer Strafverfolgung entziehen können. Sierra Leone verfüge nicht über ein funktionierendes zentrales Fahndungsbuch, weshalb nur die Polizeidienststelle, welche wegen des Delikts ermittele, Informationen über vermeintliche Straftäter habe. Wenn man sich aber staatlichen Ermittlungsbehörden und somit einem Strafverfahren durch einen Aufenthaltswechsel relativ einfach entziehen kann, so dürfte es für nichtstaatliche Akteure nahezu unmöglich sein, eine Person ausfindig zu machen, die sich bereits längere Zeit im Ausland aufgehalten hat und dann nach Sierra Leone zurückkehrt, wenn sie sich nicht erneut an dem Ort niederlässt, der ihren vermeintlichen Verfolgern bekannt ist. Beim Kläger kommt hinzu, dass seine vermeintlichen Verfolger angeblich aus Guinea stammen und im Jahr 2016 nur deshalb nach Sierra Leone gereist seien, um den Kläger aufzuspüren und ihn umzubringen. Dass sich die Familie nach nunmehr fast vier Jahren immer noch in Sierra Leone aufhält, ist deshalb schon äußerst fraglich, nachdem sie den Kläger 2016 nicht aufspüren konnte. Eine konkrete Bedrohung des Klägers durch nichtstaatliche Akteure ist deshalb nicht beachtlich wahrscheinlich. Das Gericht ist vielmehr nach alledem davon überzeugt, dass die aus Guinea stammende Familie des Mädchens eine Rückkehr des Klägers nach Sierra Leone nicht bemerken würde, wenn er sich dort an einem der Familie des Mädchens unbekannten Ort niederlassen würde.
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Ferner wäre es dem Kläger auch zuzumuten, in einen Landesteil zu gehen, der ihm unbekannt ist. Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage muss davon ausgegangen werden, dass es dem Kläger möglich ist, sich in jedem Teil Sierra Leones seine Existenz durch Gelegenheitsarbeiten sicherzustellen (vgl. dazu unten 3a)).
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c) Schließlich ist auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht gegeben. Der in Sierra Leone 11 Jahre andauernde Bürgerkrieg wurde im Jahr 2002 beendet. Die Sicherheitslage im ganzen Land ist stabil. Armee und Polizei sind landesweit stationiert und haben nach dem vollständigen Abzug der UN-Friedenstruppen im Jahr 2005 die Verantwortung für die innere und äußere Sicherheit übernommen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 3.5.2017, S. 6; Informationszentrum Asyl und Migration des Bundesamts, Glossar Islamische Länder - Band 17, Sierra Leone, Mai 2010).
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3. Zuletzt liegen auch Abschiebungsverbote im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vor.
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a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK - (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - juris), wonach niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verweist, ist eine unmenschliche Behandlung und damit eine Verletzung des Art. 3 EMRK allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen möglich (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C.15.12 - juris = BVerwGE 146, 12; U.v. 13.6.2013 - 10 C 13.12 - juris = BVerwGE 147, 8 = NVwZ 2013, 1489; EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 - NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 - Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 - NJOZ 2012, 952). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681, Rn. 278, 282 f.) verletzen humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Rückführung in den Herkunftsstaat „zwingend“ seien. Solche humanitären Gründe können auch in einer völlig unzureichenden Versorgungslage begründet sein (so auch BayVGH, U.v. 19.7.2018 - 20 B 18.30800- juris, Rn. 54).
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Trotz der schwierigen Lebensbedingungen in Sierra Leone kann eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Rückführung der Klagepartei in ihr Heimatland nicht angenommen werden. Die Wirtschaft Sierra Leones ist geprägt von der Landwirtschaft (überwiegend kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft) und der Rohstoffgewinnung. Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 4,5 Milliarden US-Dollar und einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 700 US-Dollar im Jahr 2015 eines der ärmsten Länder der Welt und belegt nach dem Human Development Index von 2016 Rang 179 der 188 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Die Wirtschaft wird mit etwa 51,4% am Bruttoinlandsprodukt vom landwirtschaftlichen Sektor dominiert. Der Dienstleistungssektor trägt mit 26,6% und der Industriesektor mit 22,1% zum Bruttoinlandsprodukt bei. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, wobei bisher keine verlässlichen statistischen Daten erhoben wurden. Die Mehrheit versucht mit Gelegenheitsjobs oder als Händler/in ein Auskommen zu erwirtschaften. Die Subsistenzwirtschaft wird in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 3.5.2017, S. 19 ff.).
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Die Lebensumstände in Sierra Leone sind damit zwar äußerst schwierig. Gleichwohl muss davon ausgegangen werden, dass sich der Kläger in Sierra Leone ein Existenzminimum erarbeiten kann (so im Ergebnis auch: VG München, B.v. 26.9.2017 - M 21 S 17.47358 - juris). Er ist gesund, jung und arbeitsfähig. Eigenen Angaben zufolge sei er fünf Jahre lang zur Schule gegangen. Außerdem habe er Automechaniker gelernt. Deshalb ist davon auszugehen, dass der Kläger etwa in einer Autowerkstatt einen Gelegenheitsjob finden kann. Selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, ist anzunehmen, dass er sich seine Existenz durch andere Gelegenheitsjobs sichern kann.
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b) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebeschutz nach dieser Bestimmung setzt grundsätzlich das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt.
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Bestehen für bestimmte Personengruppen allgemeine Gefahren, die nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich keine Berücksichtigung finden können, so kann in Einzelfällen gleichwohl Abschiebeschutz gewährt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist nämlich im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 GG gebieten danach die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn einer extremen Lebensgefahr oder einer extremen Gefahr der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit entgegen gewirkt werden muss, was dann der Fall ist, wenn der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert oder erheblichen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt sein würde (BVerwG, U.v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 - juris, Rn. 14 = BVerwGE 99, 324, U.v. 19.11.1996 - 1 C 6.95 - juris, Rn. 34 = BVerwGE 102, 249 sowie U.v. 12.7.2001 - 1 C 5.01 - juris, Rn. 16 = BVerwGE 115, 1). Eine derartige Gefahrensituation kann sich grundsätzlich auch aus den harten Existenzbedingungen und der Versorgungslage im Herkunftsstaat ergeben.
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Eine derartige Gefahr besteht jedoch für den Kläger nicht, was bereits oben unter Nr. 3 a) dargestellt wurde.
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4. Die in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung ist gleichfalls nicht zu beanstanden. Sie beruht auf den §§ 34 Abs. 1 AsylG, 59 AufenthG. Die der Klagepartei gesetzte Ausreisefrist von 30 Tagen beruht auf § 38 Abs. 1 AsylG.
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5. Die in Ziffer 6 des angegriffenen Bescheids ausgesprochene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf 30 Monate ist gleichfalls rechtmäßig. Die Beklagte musste nach den §§ 11 Abs. 2 Sätze 1 und 4, 75 Nr. 12 AufenthG eine Entscheidung über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG treffen. Über die Länge der Frist wird gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden. Ermessensfehler sind hier nicht ersichtlich. Grundsätzlich darf die Frist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nicht überschreiten. Hier hat das Bundesamt diese maximale Frist zur Hälfte ausgeschöpft, was nicht zu beanstanden ist. Besonderer Umstände, die eine kürzere Frist gebieten würden, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
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Soweit die Klage zurückgenommen wurde, hat der Kläger die Kosten nach § 155 Abs. 3 VwGO zu tragen. Im Übrigen ergibt sich die Kostentragungspflicht des Klägers aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.
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Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.