Titel:
Ausweisung wegen erheblicher mehrfacher Gewaltdelikte
Normenketten:
AufenthG § 11 Abs. 3, § 53 Abs. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1
EMRK Art. 8
Leitsatz:
Durch sein persönliches Verhalten gefährdet die öffentliche Sicherheit, wer bereits mehrfach strafrechtlich, zuletzt wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und 9 Monaten verurteilt wurde und bei dem die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung wegen des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit sowie disziplinarischer Verstöße in der Haft abgelehnt wurde. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung wegen erheblicher mehrfacher Gewaltdelikte und wiederholter Strafhaft, faktischer Inländer, Herkunftsland: Afghanistan, Aufenthaltsverbot, Afghanistan, Abschiebung, Ausweisung, wiederholte Strafhaft, Freiheitsstrafe, Bewährung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 24.08.2020 – 10 ZB 20.424
Fundstelle:
BeckRS 2020, 932
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung und das Verbot der Wiedereinreise für 7 Jahre bei Straffreiheit, ansonsten 9 Jahre, sowie die Abschiebungsanordnung aus der Haft bzw. -androhung nach Vollziehbarkeit des Ablehnungsbescheides des Bundesamtes nach Afghanistan, angeordnet mit Bescheid der Beklagten vom 29. Januar 2019.
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Der 1995 in München geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Nach Durchführung des Asylverfahrens erhielt er zunächst Duldungen, dann eine befristete Aufenthaltserlaubnis und hat seit dem 9. April 2013 eine Niederlassungserlaubnis. Der Kläger hat immer im Bundesgebiet gelebt. Er hat keine Ausbildung und bis auf den Oktober 2010 nicht gearbeitet sondern Sozialleistungen bezogen. Eltern und Geschwister leben in München. Einige seiner Geschwister haben mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit. Der Kläger hat keine Kinder und ist nicht verheiratet. Bei seiner Festnahme am 28. Dezember 2016 war er bei seinen Eltern gemeldet und wohnte dort.
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Der Kläger wurde viermal strafrechtlich verurteilt, davon wiederholt wegen gefährlicher bzw. vorsätzlicher Körperverletzung. Bereits vom 18. August 2015 - 26. Februar 2016 hat der Kläger eine Freiheitsstrafe verbüßt und wurde von der zuständigen Ausländerbehörde schriftlich verwarnt.
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Zuletzt wurde der Kläger mit Urteil des Landgerichts München I vom 10. Januar 2018 wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten verurteilt; die Entscheidung ist seit dem 19. März 2018 rechtskräftig. Zugrunde lag, dass der Kläger mit einer Machete eine Tankstelle überfallen hat. Mit Beschluss vom 3. Juni 2019 hat die Strafvollstreckungskammer die Aussetzung zur Bewährung nach Verbüßung von 2/3 der Strafe abgelehnt und dies im Wesentlichen mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit begründet, da die Rückfallgeschwindigkeit des Klägers hoch sei und er sich zunächst in der JVA, in der er sich zuerst befand, nicht beanstandungsfrei geführt habe.
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Mit Bescheid vom 29. Januar 2019 wies die Beklagte den Kläger aus dem Bundesgebiet aus (Ziff. 1), befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 7 Jahre unter der Bedingung des Nachweises der Straffreiheit, ansonsten 9 Jahre - jeweils ab der Ausreise (Ziff. 2) und ordnete unter der Voraussetzung der Vollziehbarkeit des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Oktober 2018 die Abschiebung aus der Haft nach Afghanistan an und drohte für den Fall der Haftentlassung unter Setzung einer Ausreisefrist von 4 Wochen die Androhung der Abschiebung nach Afghanistan oder einen anderen Staat, der rückübernahmebereit sei, an (Ziff. 3).
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Der Antragsteller habe in der U-Haft im Juli 2017 den Qualifizierenden Abschluss der Mittelschule erlangt und strebe für die Zukunft eine Ausbildung zum Automobilkaufmann oder Hotelfachmann an. Im Rahmen der Anhörung habe der Kläger mitgeteilt, dass er im Alltag ausschließlich deutsch spreche und seine Kenntnisse in Dari unbefriedigend seien. Er könne sich für seine Taten erneut nur entschuldigen und die lange Haftzeit habe ihn zum Nachdenken gebracht. Er beabsichtige, den Realschulkurs in der JVA Bayreuth zu besuchen und wolle nach seiner Haftentlassung eine Ausbildung machen und arbeiten, zum Beispiel bei der Deutschen Bahn oder bei BMW, wo sein jüngerer Bruder arbeite. Das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiege nach der im Einzelfall vorzunehmenden Abwägung das private Bleibeinteresse des Klägers (§ 53 Abs. 1 AufenthG). Vorliegend bestehe ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, da der Kläger wiederholt Straftaten von erheblicher Schwere, zuletzt als Gewalt gegen Personen mit Waffe, begangen habe. Sein persönliches Verhalten stelle gegenwärtig eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, da der Kläger seit seinem 15. Lebensjahr wiederholt mit Gewaltdelikten strafrechtlich in Erscheinung getreten sei und sich die Gewalttätigkeit gesteigert habe. Der Kläger verbüße bereits die zweite Freiheitsstrafe und es bestehe die Gefahr weiterer Straftaten, da sich in den letzten Jahren die kriminelle Energie massiv gesteigert habe und der Kläger beabsichtige, in das gleiche soziale Umfeld zurückzukehren wie vor der Inhaftierung. Da der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitze und sich über 5 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe, wiege auch sein Bleibeinteresse besonders schwer (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Die Abwägung der privaten Bindungen und der Folgen der Ausweisung mit der Schwere der begangenen Straftaten und der konkret bestehenden Gefahr weiterer schwerer Straftaten ergäbe, dass das öffentliche Ausweisungsinteresse höher zu bewerten sei. Art. 8 EMRK sei berücksichtigt worden. Die Ausweisung sei verhältnismäßig, da der erwachsene Kläger seine Familie nicht benötige, diese ihn auch in der Vergangenheit nicht positiv beeinflussen konnte und in seinem Fall keine geglückte Integration vorläge. Die Eltern des Klägers sprächen Dari, sodass davon auszugehen sei, dass zuhause auch Dari gesprochen werde und er dies könne. Die Wiedereinreisesperre und das Aufenthaltsverbot seien nach Abwägung der privaten und öffentlichen Interessen angemessen (§ 11 AufenthG).
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Mit Schriftsatz vom 15. Februar 2019 erhob die damalige Bevollmächtigte des Klägers Klage.
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Der jetzige Bevollmächtigte des Klägers beantragte,
I. Aufhebung des Bescheides vom 29. Januar 2019
II. Befristung des Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbots auf 3 Jahre und 9 Monate.
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Dem Befristungsantrag läge zugrunde, dass die Länge der Wirkungen der Ausweisung der Länge der strafrechtlichen Verurteilung entspreche und dies angemessen sei. Der Kläger habe in der JVA einen Schulabschluss gemacht und nehme jede Ausbildungsmöglichkeit wahr. Er sei durch den Selbstmord seines Bruders aus der Bahn geworfen worden, als er in der 9. Klasse war. Bis dahin habe es keine Schulprobleme gegeben. Der Kläger bereue, zeige Einsicht und wolle ein geregeltes Leben führen. In Afghanistan habe er nur entfernte Verwandte. Er spreche die Sprache schlecht, habe keinen Beruf und keine Kenntnis des Landes. Es bestehe dort die Gefahr der Radikalisierung. Der Kläger sei ein faktischer Inländer und zur Zeit der Begehung der Taten noch sehr jung gewesen. Nach seiner Entlassung könne er in Vollzeit als Putzmann arbeiten; ein entsprechender Arbeitsvertrag werde beigefügt. Er mache aktuell einen Metalllehrgang und in der Haft habe eine Nachreifung der Persönlichkeit stattgefunden. Eine Teilnahme am Realschullehrgang in der JVA Bayreuth sei nicht möglich, da nach Auskunft der JVA eine Verlegung nach Bayreuth nicht geplant sei.
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Vorgelegt wurden Führungsberichte der JVA Bernau vom 11. Juni 2018 und 15. Januar 2020. Danach erhält der Kläger Besuch von einem Bruder und seiner Mutter und habe nach Auskunft des Psychologischen Dienstes keine Kontakte in seinem Heimatland und keine Sprachkenntnisse in Farsi, Dari oder Paschtu. Das expressive Gewaltpotential sei einem eher niederschwelligen Bereich zuzuordnen, da bei dem Kläger psychopathologisch keine Auffälligkeiten erkennbar seien. Er sei bemüht, an bestehenden Defiziten zu arbeiten und habe (mit Ausnahme des türkischen Gebets) nicht an weiteren Behandlungsmaßnahmen oder Angeboten teilgenommen. Zuletzt habe es einen weiteren Anlass zu disziplinarrechtlichen Beanstandungen gegeben. Der Kläger habe sich vorsätzlich bei der Essensausgabe übervorteilt und lediglich geringes Arbeitsinteresse aufgezeigt und sich wiederholt Anordnungen widersetzt. Zuvor in der JVA München habe er drei, überwiegend empfindliche Disziplinarmaßnahmen erhalten, da er unter anderem zweimal eine körperliche Auseinandersetzung mit Mitgefangenen gehabt habe.
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Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.
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Der Antrag auf Aufhebung des Bescheides vom 29. Januar 2019 und der Antrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 3 Jahre und 9 Monate haben keinen Erfolg, da der Bescheid der Beklagten vom 29. Januar 2019 insgesamt rechtmäßig ist und den Kläger daher nicht in seinen Rechten verletzt; er hat keinen Anspruch auf Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 3 Jahre und 9 Monate (§ 113 Abs. 1, Abs. 4, Abs. 5, § 114 VwGO).
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Zur Vermeidung von Wiederholungen wird zunächst auf die zutreffende Begründung des Bescheides der Beklagten vom 29. Januar 2019 Bezug genommen.
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Ergänzend dazu gilt Folgendes:
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Die Beklagte ist zutreffend davon ausgegangen, dass es sich bei dem Kläger um einen so genannten "faktischen Inländer" handelt, da dieser im Bundesgebiet geboren wurde und hier aufgewachsen ist. Sie hat diesem Umstand im Rahmen der Abwägung des öffentlichen Interesses an der Ausreise mit den privaten Interessen des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet berücksichtigt. Zutreffend ist die Beklagte davon ausgegangen, dass der Kläger, dessen Eltern aus Afghanistan in das Bundesgebiet gekommen sind, ausreichende Sprachkenntnisse in der Familie erworben hat und allenfalls Defizite im Schriftlichen bestehen. Die Beklagte hat umfangreich gewürdigt, dass Eltern und Geschwister des Klägers im Bundesgebiet leben und er hier seine gesamte Kindheit und Jugend verbracht hat. Ebenfalls zutreffend ist die Feststellung im Bescheid, dass der Kläger im Bundesgebiet weder berufliche noch sonstige soziale Bindungen hat. Er hat weder die Schule abgeschlossen noch - mit Ausnahme von 4 Wochen - jemals gearbeitet. Er ist erwachsen und auf die Unterstützung seiner Familie nicht angewiesen. Der Umstand, dass er seinen gesamten Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet hat, stellt vor dem Hintergrund der erheblichen Straffälligkeit des Klägers keinen Umstand dar, aufgrund dessen von einem hilfreichen sozialen Umfeld auszugehen wäre.
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Insgesamt ist das Gericht nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger zwar nominell faktischer Inländer ist, eine entsprechende verfestigte Integration aber nicht stattgefunden hat.
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Zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geht von dem Kläger aufgrund seines persönlichen Verhaltens weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus. Ausweislich der Führungsberichte der JVA hat der Kläger auch dort Disziplinarprobleme. Dies zeigt, dass der Kläger auch unter den streng geordneten Verhältnissen einer JVA nicht in der Lage ist, sich einzufügen. Unter Berücksichtigung dessen, dass er seit seinem 15. Lebensjahr bereits zweimal zu einer Haftstrafe verurteilt wurde zeigt dies, dass der Kläger nicht willens und nicht in der Lage ist, sein persönliches Verhalten zu kontrollieren und bestehende Regeln einzuhalten. Der Umstand, dass der Kläger bei seinen strafrechtlichen Verurteilungen regelmäßig Reue gezeigt hat und Besserung sowie ein geordnetes Leben gelobte, ist vor dem Hintergrund wiederholter Straftaten und wiederholter Haftstrafen nicht überzeugend.
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Die Einschätzung der Beklagten, dass die öffentliche Sicherheit durch das persönliche Verhalten des Klägers gefährdet wird, findet ihre Bestätigung in dem Beschluss des Landgerichts Traunstein vom 3. Mai 2019, mit dem die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung wegen des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit sowie der disziplinarischen Verstöße in der Haft abgelehnt wurde. Die Beklagte hat zutreffend ihrer Entscheidung zugrunde gelegt, dass sich die Gewalttaten des Klägers von der Intensität her gesteigert haben; zuletzt hat er mit einer Machete bewaffnet Tankstellen überfallen. Der Umstand, dass der Kläger nach seiner Entlassung wieder bei seinen Eltern wohnen könnte und als Putzmann in Vollzeit eine Arbeitsstelle hätte, ändert an dieser äußerst ungünstigen Sozialprognose ebenso wenig, wie der Umstand, dass der Kläger die Straftaten in jungen Jahren beging und mittlerweile den Qualifizierten Mittelschulabschluss sowie einige Ausbildungskurse mit Erfolg abgeschlossen hat. Der Kläger hatte bereits früher die Gelegenheit zu arbeiten und dies nicht getan. Er hat auch vor seiner Inhaftierung bei seinen Eltern gewohnt und der Familienverbund hielt ihn nicht von der Begehung erheblicher Straftaten ab.
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Der Verpflichtungsantrag auf Befristung der Sperrwirkungen der Ausweisungsverfügung, der erstmals in der mündlichen Verhandlung gestellt wurde, hat ebenfalls keinen Erfolg.
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Die Beklagte hat gemäß § 11 Abs. 3 AufenthG nach pflichtgemäßem Ermessen über die Länge der Frist entschieden und umfangreiche Ermessenserwägungen - auch unter Berücksichtigung der Vorgaben des Art. 8 EMRK - angestellt. Es ist im Hinblick darauf, dass es sich bei dem Kläger um einen Wiederholungstäter handelt, er bereits die zweite Strafhaft verbüßt und sich die Gefährlichkeit seiner Delikte, zuletzt Tankstellenüberfall mit einer Machete, in kurzen Abständen erheblich gesteigert hat, rechtlich nicht zu beanstanden, dass eine Festsetzung der Frist auf 7 Jahre bzw. 9 Jahre bei weiterer Straffälligkeit vorgenommen wurde. Unter Berücksichtigung des dem Gericht im Rahmen des § 114 VwGO eingeräumten Prüfungsumfangs sind Ermessensfehler nicht erkennbar.
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Die Annahme der Klägerseite, es bestehe aufgrund eines Anspruchs oder einer Ermessensreduzierung auf Null, ein Recht des Klägers darauf, dass eine Befristung auf 3 Jahre und 9 Monate - entsprechend der Länge der verhängten Strafhaft gäbe -, findet keine Grundlage in § 11 AufenthG. Das Wiedereinreise - und Betretensverbot des § 11 AufenthG orientiert sich weder vom Zweck noch von den Voraussetzungen her an der Länge der Strafhaft. Vielmehr ist die Länge der Frist anhand einer Prognose über die Dauer und Länge der Gefahr weiterer Straftaten unter Überprüfung anhand der Wertentscheidungen und Vorgaben des Grundgesetzes und Art. 8 EMRK zu bestimmen (BayVGH, U.v. 25.8.2014 - 10 B 13.715). Dies hat die Beklagte getan.
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Die Klage war daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 VwGO abzuweisen.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.