Inhalt

VG München, Gerichtsbescheid v. 09.04.2020 – M 10 K 19.643
Titel:

Dreitagesvermutung für den Zugang eines Bescheides über Sondernutzungsgebühren

Normenketten:
BayKAG Art. 13 Abs. 1 Nr. 3, Nr. 4b aa
AO § 122 Abs. 2 Nr. 1, § 157 Abs. 1 S. 2
VwGO § 58 Abs. 2, § 70 Abs. 1 S. 1, § 84 Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Die Dreitagesvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO greift nicht ein, wenn die Beklagte den Tag der Aufgabe des angefochtenen Bescheids zur Post nicht in den Akten vermerkt hat. In diesem Fall muss die Beörde den vollen Beweis für den tatsächlichen Zeitpunkt des Zugangs des angegriffenen Bescheids erbringen. Aufgrund der in § 122 Abs. 2 Nr. 1 HS. 2 AO vorgesehenen Beweislastregel geht die Unerweislichkeit des Zugangszeitpunkts zu Lasten der Behörde. (Rn. 23 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sondernutzungsgebühren, Keine Unzulässigkeit der Klage wegen Versäumung der Widerspruchsfrist, Versand des Gebührenbescheids mit einfachem Brief, Kein Vermerk über die Aufgabe zur Post, Kein sonstiger Zustellnachweis, Nichtigkeit des Sondernutzungsgebührenbescheids, Keine Bezeichnung des Gebührenschuldners, Vollstreckung, Vollstreckungsauftrag, Widerspruchsfrist, Sondernutzung, Gebühr, öffentliche Straße, Versäumung, Gebührenbescheid, Zustellnachweis, Bezeichnung, Gebührenschuldner
Fundstelle:
BeckRS 2020, 7935

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 29. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Oberbayern vom 10. Januar 2019 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Erhebung von Sondernutzungsgebühren durch die Beklagte.
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Die Beklagte erhebt für die Ausübung einer Sondernutzung auf den in ihrer Straßenbaulast stehenden Straßen, Wegen und Plätzen Sondernutzungsgebühren auf Grundlage ihrer Satzung über die Gebühren für Sondernutzungen auf öffentlichen Straßen in der Landeshauptstadt München (Sondernutzungsgebührensatzung - SoNuGebS) vom 25. Juni 2014 in der Fassung der Änderung vom 13. Juli 2015.
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Der Kläger ist Inhaber des Kfz-Sachverständigenbüros … * … im Stadtgebiet der Beklagten. An dem Gebäude, in dem sich das Kfz-Sachverständigenbüro befindet, sind außen eine Lichtleiste sowie ein Nasenleuchttransparent mit der Aufschrift „Kfz Unfall Gutachten …“ angebracht.
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Wegen dieser Objekte setzte die Beklagte mit Bescheid vom 29. Juni 2017 für den Zeitraum ab der Anbringung der Objekte am 1. März 2014 Sondernutzungsgebühren in Höhe von 85,41 EUR für das Jahr 2014 und in Höhe von jeweils 102,50 EUR für die Jahre 2015 bis 2017 zuzüglich einer Verwaltungsgebühr in Höhe von 20 EUR, insgesamt also 412,91 EUR, fest. Die für das Jahr 2017 getroffene Festsetzung über 102,50 EUR gelte auch für die Folgejahre. Der Bescheid war adressiert an: „Herrn Kfz-Sachverständigenbüro, … Straße 78, … …“. Das Feld „Schuldner/in“ im vorgedruckten Bescheidstext war nicht ausgefüllt. Der Tag der Aufgabe dieses Bescheids zur Post ist in der Behördenakte nicht vermerkt; es befindet sich auch kein Nachweis über die Zustellung des Bescheids in der Akte.
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Ausweislich des Ausstandsverzeichnisses vom 23. Oktober 2017, in dem als Schuldner ebenso „Herrn Kfz-Sachverständigenbüro“ genannt war, wurde der Vollstreckungsauftrag wegen Sondernutzungsgebühren, Säumniszuschlägen, Mahn- und Verwaltungsgebühren in Höhe von insgesamt 449,41 EUR erteilt.
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Der Kläger teilte der Beklagten mit Schreiben vom „2. Mai 2018“, eingegangen bei der Beklagten am 23. April 2018, mit, dass versucht worden sei, eine Forderung bezüglich der Außenwerbung des Büros einzutreiben. Die Adresse sei zwar korrekt gewesen, aber der Firmennamen sei nicht „Gutachterbüro“. Auch die rückwirkende Berechnung sei nicht verständlich. Es werde gebeten, die Vollstreckung sofort einzustellen.
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Die Beklagte betrachtete dieses Schreiben als Widerspruch, half diesem nicht ab und legte ihn der Widerspruchsbehörde zur Entscheidung vor. Mit Bescheid der Regierung von Oberbayern vom 10. Januar 2019, zugestellt ausweislich der Postzustellungsurkunde am 21. Januar 2019, wurde der Widerspruch des Klägers vom „2. Mai 2018“ wegen Nichteinhaltens der Widerspruchsfrist zurückgewiesen. Auf die Gründe des Bescheids wird Bezug genommen.
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Der Kläger hat mit Schreiben seines Verfahrensbevollmächtigten vom 12. Februar 2019, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am gleichen Tag, Klage erhoben und beantragt,
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Der Bescheid vom 29. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Januar 2019 wird aufgehoben.
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Zur Begründung wird ausgeführt, der Kläger als Inhaber des Sachverständigenbüros … * … wende gegen die von der Beklagten und der Widerspruchsbehörde angenommene Verfristung des Widerspruchs eine fehlerhafte Zustellung des Bescheids aufgrund falscher Parteibezeichnung im Bescheid ein. Der Bescheid vom 29. Juni 2017 liege dem Kläger nicht vor.
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Mit Schreiben vom 16. Dezember 2019 hat die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung werde auf den Akteninhalt verwiesen.
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Die Beteiligten sind mit Schreiben vom 21. November 2019, zugestellt am 27. bzw. 29. November 2019, zur beabsichtigten Entscheidung des Gerichts durch Gerichtsbescheid angehört worden.
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Mit Beschluss vom 7. April 2020 hat das Gericht den Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die vorgelegte Behördensowie die Gerichtsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

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1. Über die Klage konnte durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden vorher hierzu gehört (§ 84 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
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2. Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg.
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a) Die Klage ist zulässig; insbesondere ist die Klagefrist gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO gewahrt worden.
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Eine Unzulässigkeit der Klage kann auch nicht daraus abgeleitet werden, dass das Schreiben des Klägers vom „2. Mai 2018“, das von der Beklagten sehr großzügig zugunsten des Klägers nicht lediglich als Einwendung gegen die Vollstreckung, sondern als Widerspruch gegen die Gebührenfestsetzung als solche ausgelegt worden ist (vgl. zur Auslegung aus dem objektiven Empfängerhorizont: Hüttenbrink in BeckOK VwGO, 52. Ed., 1.7.2019, § 69 Rn. 4), nicht innerhalb der Widerspruchsfrist bei der Beklagten eingegangen wäre (zur Unzulässigkeit der Anfechtungsklage bei Versäumung der Widerspruchsfrist: BVerwG, U.v. 8.3.1983 - 1 C 34/80 - NJW 1983, 1923).
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Die Widerspruchsfrist beträgt nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO einen Monat. Es gilt vorliegend nicht die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 i.V.m. § 70 Abs. 2 VwGO, da die Rechtsbehelfsbelehrung:zum Bescheid vom 29. Juni 2017 richtig erteilt worden ist.
22
Die Widerspruchsfrist beginnt grundsätzlich mit der Bekanntgabevermutung des angegriffenen Bescheids vom 29. Juni 2017 gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Nr. 3b Kommunalabgabengesetz (KAG) zu laufen, da der Bescheid mit einfachem Brief versandt worden ist.
23
Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
24
Im vorliegenden Fall greift diese Dreitagesvermutung jedoch nicht ein, da die Beklagte den Tag der Aufgabe des angefochtenen Bescheids zur Post nicht in den Akten vermerkt hat.
25
Angesichts dessen kann sich die Beklagte nicht auf die Vermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO berufen. Sie hätte vollen Beweis für den tatsächlichen Zeitpunkt des Zugangs des angegriffenen Bescheids erbringen müssen, was ihr hier insbesondere mangels Vorliegen eines sonstigen Zustellnachweises nicht gelungen ist. Aufgrund der in § 122 Abs. 2 Nr. 1 HS. 2 AO vorgesehenen Beweislastregel geht die Unerweislichkeit des Zugangszeitpunkts zu Lasten der Beklagten.
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Da nach Aktenlage auch nicht ersichtlich ist, wann der Bescheid dem Kläger (zu einem späteren Zeitpunkt) tatsächlich zugegangen ist, ist der Widerspruch des Klägers als fristgerecht anzusehen.
27
b) Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 29. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Oberbayern vom 10. Januar 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Fraglich ist bereits, ob der angefochtene Bescheid wegen fehlerhafter Adressierung („Herrn Kfz-Sachverständigenbüro“) rechtswidrig ist. Dies wäre der Fall, wenn der richtige Adressat nicht durch Auslegung ermittelbar wäre. Diese Frage kann jedoch offen bleiben, da der angegriffene Bescheid vom 29. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Oberbayern vom 10. Januar 2019 jedenfalls mangels Bezeichnung des Gebührenschuldners gemäß § 157 Abs. 1 Satz 2 AO i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Nr. 4b) aa) KAG nichtig ist.
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Nach § 157 Abs. 1 Satz 2 AO i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Nr. 4b) aa) KAG muss der Gebührenbescheid die festgesetzte Gebühr nach Art und Betrag bezeichnen und angeben, wer die Gebühr schuldet.
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An der Bezeichnung des Gebührenschuldners fehlt es im vorliegenden Fall. Das Feld „Schuldner/in“ im Bescheidsvordruck ist nicht ausgefüllt. Auch sonst wird im Bescheid ein Gebührenschuldner nicht explizit benannt. Der Gebührenschuldner ist vorliegend auch nicht durch Auslegung bestimmbar. Insbesondere kann aus der Adressierung des Bescheids kein Rückschluss auf den Gebührenschuldner gezogen werden, da die Bezeichnung „Herrn Kfz-Sachverständigenbüro“ gerade nicht eindeutig ist. Es wird aus dem Bescheid nicht klar, ob das Sachverständigenbüro als eigene Rechtspersönlichkeit (sollte es diese haben, wofür nach Aktenlage nichts spricht), ob Herr … (als Inhaber des Sachverständigenbüros) oder Herr … - jeweils alleine - oder die Herren … … … in Gesamtschuldnerschaft herangezogen werden sollten.
31
Rechtsfolge dieses Verstoßes gegen die Anforderungen des § 157 Abs. 1 Satz 2 AO ist die Nichtigkeit des Bescheids nach § 125 AO i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Nr. 3b KAG, da der Bescheid nicht hinreichend bestimmt im Sinne des § 119 Abs. 1, § 157 Abs. 1 Satz 2 AO i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Nr. 3b, Nr. 4b) aa) KAG ist (vgl. Rosenke in BeckOK AO, 11. Ed., 1.1.2020, § 157 Rn. 151 m.w.N.).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 84 Abs. 1 Satz 3, 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit fußt auf §§ 84 Abs. 1 Satz 3, 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.