Titel:
Erfolglose Asylklage eines jungen Mannes aus Sierra Leone
Normenketten:
AsylG § 3, § 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3, Art. 8
GG Art. 6
Leitsätze:
1. Es ist davon auszugehen, dass es jedenfalls in den Großstädten Sierra Leones - ggf. mit Ausnahme der Stadt des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts - möglich ist, grundsätzlich unbehelligt von Geheimbünden zu leben (Rn. 36). (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist einem jungen und gesunden Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen, der in Sierra Leone neun Jahre lang die Schule besucht und auch berufliche Erfahrungen gesammelt hat, möglich, jedenfalls nach der Überwindung von Anfangsschwierigkeiten seinen notwendigen Lebensunterhalt zu erwirtschaften, auch wenn er nicht auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen kann (Rn. 39). (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Herkunftsland Sierra, Leone, alleinstehender junger Mann, unglaubhaftes Verfolgungsvorbringen, keine Verfolgung durch Poro-Geheimgesellschaft, inländische Fluchtalternative, keine Berücksichtigung von Geschwistern bei der Rückkehrprognose, kein Abschiebungsverbot, Asylrecht, Sierra Leone, Poro-Geheimgesellschaft, Geschwister, Rückkehrprognose, Existenzminimum, Abschiebungsverbot
Fundstelle:
BeckRS 2020, 7899
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags und begehrt die Zuerkennung internationalen Schutzes sowie hilfsweise die Feststellung, dass Abschiebungsverbote hinsichtlich Sierra Leone vorliegen.
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1. Der Kläger ist nach eigenen Angaben ein am … … 2000 in Freetown geborener sierra-leonischer Staatsangehöriger muslimischen Glaubens und Volkszugehöriger der Temne. Er verließ sein Herkunftsland nach eigenen Angaben im Oktober 2016 und reiste am 22. Dezember 2017 gemeinsam mit seiner Schwester und seinem Cousin auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein. Am 25. Januar 2018 beantragte der Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) Asyl.
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In der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 19. März 2018 gab der Kläger im Beisein seines damaligen Vormunds an, nachdem seine Eltern 2015 an Ebola gestorben seien, sei er innerhalb von F. zu seinem Onkel und seiner Tante mütterlicherseits umgezogen. Hier habe er sich bis zu seiner Ausreise aufgehalten. In Sierra Leone habe er noch eine Tante mütterlicherseits. Er habe keinen Kontakt nach Hause, da er nicht wolle, dass jemand wisse, wo er sei. Er habe sechs Jahre lang die Grundschule und danach drei Jahre die Mittelschule besucht. Er habe keinen Beruf gelernt, aber in einer Bar gearbeitet. Zu den Gründen seines Asylantrags und seinem Verfolgungsschicksal erklärte der Kläger, er habe Sierra Leone wegen der Geheimgesellschaft Poro verlassen. In Sierra Leone gebe es viele solche Geheimgesellschaften. Etwa im Oktober 2016 - etwa zwei Wochen vor seiner Ausreise - sei er von der Poro-Geheimgesellschaft entführt worden. Auf der Straße sei er abends etwa neun Poro-Mitgliedern begegnet, einer habe ihn gegrüßt, ein anderer habe etwas zu ihm sagen wollen, sei jedoch von einem weiteren Mitglied gestoppt worden. Plötzlich hätten sie ihre Tasche geöffnet und Spray auf ihn gespritzt. Dann sei er ohnmächtig geworden. Sie hätten ihn in den Busch bzw. zu einem Landstück gebracht, wo sie ihre Versammlungen und Treffen abhielten. Sie hätten seine Hände gefesselt und ihn etwa für eine Woche und ein paar Tage auf dem Boden liegen gelassen. Es seien Zeremonien durchgeführt worden, um ihn dann in die Gesellschaft einzuführen. Es sei traditionelle Musik gespielt, Feuer gemacht und getanzt worden. Er sei an diesem Tag nicht alleine, sondern mit vielen anderen jungen Männern zusammen gewesen. Manche hätten sogar freiwillig eintreten wollen. Diese Gesellschaft arbeite mit der Regierung bzw. Politikern zusammen. Sie übten Magie aus. Was sie machten, sei nicht richtig. Sie würden damit Leute einschüchtern. Es sei hier um eine Gruppierung von Verbrechern gegangen, die Leute getötet hätten. Manchmal würden Leute von ihnen entführt und für Rituale als Opfer umgebracht, damit die Regierung erfolgreich sein könne. Das sei auch der Grund, warum die Poro junge Männer entführten. Sie beauftragten sie, um beispielsweise Oppositionelle zu töten. Das sei der Grund gewesen, warum er entführt worden sei. Sie hätten gewusst, dass er keine Eltern mehr habe. Der Leiter der Zeremonie habe sogar seine Zigarette auf seinem Rücken ausgedrückt. Darüber hinaus habe er zahlreiche Schläge auf den Rücken bekommen. Der Leiter der Zeremonie habe ihm gesagt, er könne jetzt nach Hause gehen und solle nach drei Tagen wieder zurückkehren. Es würde dann noch eine weitere Zeremonie durchgeführt werden und erst dann sei er richtiges Mitglied. Während seiner Gefangenschaft habe man ihm nichts gesagt, weil er noch kein Blut getrunken habe. Als er nach Hause zurückgekehrt sei, habe er seinem Onkel und seiner Tante alles erzählt. Er habe ihnen erzählt, dass viele Zeremonien durchgeführt worden seien, aber dass er kein Blut getrunken habe. Sein Onkel habe ihn gefragt, wann er noch einmal dorthin zurückkehren solle. Sein Onkel sei sicher gewesen, dass er ihn vor den Poro nicht schützen bzw. retten könne. Sein Onkel sei wie er Muslim gewesen. Wenn er Mitglied der Gesellschaft geworden wäre, hätte er nicht mehr gebetet, weil die Poro ihren eigenen Gott hätten. Sein Onkel sei dann dorthin gegangen und habe dem Führer gesagt, dass sich der Kläger nicht gut fühle. Er würde in ca. einer Woche mit ihm zurückkehren. Das sei ihm erlaubt worden. Sonst habe ihm sein Onkel nichts erzählt. Sein Onkel habe dadurch Zeit gewinnen wollen, um die Ausreise vorzubereiten. Er habe dann ein Ritual durchgeführt, wodurch alles aus dem vorhergehenden Ritual aus seinem Körper geschwemmt worden sei. Sein Onkel habe zu diesem Zeitpunkt schon alles für die Ausreise vorbereitet gehabt. Er habe auch seine Schwester und seinen Cousin mitgenommen, der damals erst etwa sieben Jahre alt gewesen sei, da er ihn nicht habe zurücklassen können, weil die Poro sonst ihn an seiner statt genommen hätten. Sein Onkel habe die Ausreise während dieser Woche zusammen mit seiner Schwester organisiert und habe sie auch finanziert. Woher er das Geld trotz seiner Arbeitslosigkeit gehabt habe, wisse er nicht genau. Er vermute, er sei zu seinen Freunden bzw. Kollegen gegangen. Er habe seinen Onkel gefragt, warum sie das Land verlassen würden. Er habe ihm geantwortet, es sei wegen den Poro, weil sie in Sierra Leone keine Zukunft hätten sowie weil er und seine Schwester keine Eltern mehr hätten. Seine Tante habe nicht mitgekonnt, da sie damals krank gewesen sei. Seine Schwester und sein Cousin seien ebenfalls in Deutschland. Er fühle sich für die beiden verantwortlich. Von ihrem Onkel seien sie in Libyen getrennt worden. Bei einer Rückkehr fürchte er, dass sein Leben sowie das seiner Schwester und seines Cousins in Gefahr seien.
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Mit Bescheid vom 12. Juni 2018 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), den Antrag auf Asylanerkennung (Ziffer 2) sowie den Antrag auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab. Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4), forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung nach Sierra Leone zur Ausreise auf (Ziffer 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
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Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG. Er habe seine begründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Bereits bei den Angaben zu den verwandtschaftlichen Beziehungen bestünden erhebliche Ungereimtheiten. So habe der Kläger vorgetragen, keinen Kontakt nach Hause zu haben bzw. zu wollen, damit niemand wisse, wo er sich aufhalte. Des Weiteren habe er nur noch eine Tante in Sierra Leone. Die Anhörung seiner Schwester habe jedoch ergeben, dass diese ein Facebook-Profil mit über 600 Freunden, unter anderem mit zahlreichen Personen des gleichen Familiennamens und Herkunftsorts habe und auch mit diesen in Kontakt stehe. Seine Schwester habe anfangs abgestritten, dass das ihr Profil sei. Über dieses habe auch das Facebook-Profil des Klägers gefunden werden können. Seine Freundesliste sei im Gegensatz zur Schwester nicht öffentlich. In beiden Profilen seien zahlreiche Kommentare, in denen die beiden als Bruder, Schwester, Sohn und Tochter unter anderem von Personen mit gleichem Familiennamen und Herkunftsort angesprochen würden. Zudem habe er Fotos mit zahlreichen Telefonnummern mit der Vorwahl von Sierra Leone auf seiner Facebook-Seite, die zum Teil mit den Bezeichnungen „Mama“ und „Papa“ versehen seien. Seine Schwester habe sich hierzu nicht äußern wollen. Auf Anfrage an den früheren Vormund des Klägers habe dieser über ihn eine Stellungnahme abgegeben. Es handle sich um Missverständnisse. Die mehrfach verwendeten Bezeichnungen „Bruder“ und „Schwester“ seien in Afrika unter Freunden üblich. Die Fotos der Telefonnummern auf seiner Facebook-Seite habe er vor seiner Ausreise dort eingestellt, damit er die Nummern parat habe, falls sein Handy verloren gehe. Die Personen mit gleichen Familiennamen auf dem Profil seiner Schwester seien Leute, mit denen mehr oder weniger Kontakt bestehe. Letztlich überzeuge seine Stellungnahme nicht. Seine Schwester habe keine Erklärung abgeben können. Zudem habe er die Frage verneint, ob Kontakt zu Familie oder Freunden ins Heimatland bestehe. Soweit er vorgetragen habe, er habe keinen Kontakt nach Hause, damit niemand wisse, wo er sei, so wäre dies auch von seiner Schwester zu erwarten gewesen. Im Übrigen erschließe sich auch nicht, warum der Kläger Fotos von Telefonnummern bezüglich seines Heimatlands mache, wenn er sowieso nicht wolle, dass jemand dort wisse, wo er sich aufhalte. In der Gesamtschau sei daher davon auszugehen, dass der Kläger, seine Schwester und sein Cousin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit über einen aufnahme- und tragfähigen Familienverband, jedenfalls unstrittig über einen großen Clan bzw. Bekannten-/Freundeskreis im Heimatland verfügten.
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Auch die vorgetragenen Fluchtgründe seien nicht überzeugend. Aus den vagen und detailarmen Angaben zu seiner Entführung durch die Poro-Society lasse sich nicht erschließen, dass der Kläger von tatsächlich Erlebtem berichtet habe. So erscheine bereits fraglich, dass seine ganze Zeremonie daraus bestanden haben solle, ein Getränk zu trinken, dass an ihm eine Zigarette ausgedrückt worden sei und er deshalb für acht Tage festgenommen worden sei. Fragwürdig sei zudem, dass in diesen acht Tagen niemand mit ihm gesprochen haben solle. Ebenfalls fraglich sei in diesem Zusammenhang, dass er kaum Angaben über seine Gefangenschaft habe machen können, dagegen aber habe wissen wollen, wie die Abläufe und Vorgehensweise der Poro-Society seien. Des Weiteren habe er den Widerspruch nicht glaubhaft auflösen können, dass wenn er mit niemandem gesprochen hätte, er nicht habe wissen können, dass er entführt worden sei, weil er keine Eltern mehr gehabt habe. Zudem sei nicht nachvollziehbar, dass bei einem derartigen Verfolgungsinteresse die Poro-Society den Kläger, nachdem sie ihn entführt habe, ihn nach seiner ersten Zeremonie gehen gelassen habe, aber dann zur nächsten Zeremonie einen Termin gegeben habe und sein Onkel diesbezüglich eine Fristverlängerung erhalten habe. Auch habe er in diesem Zusammenhang keine Angaben über die Verhandlung bzw. den Besuch des Onkels bei der Poro-Society bezüglich der Fristverlängerung machen können.
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Zudem bestätige die Auskunft des Auswärtigen Amts vom 9. Januar 2017 an das Verwaltungsgericht Augsburg, dass es in Sierra Leone viele Menschen gebe, die keine Mitglieder in einer Geheimgesellschaft seien. Sie könnten insbesondere in größeren Städten ohne Probleme leben. Diese Einschätzung treffe auf das ganze Land zu. Zudem gewähre die Verfassung von Sierra Leone Religionsfreiheit. Über Zwangsmaßnahmen sei nur sehr selten etwas bekannt geworden. Eine Verfolgung wegen Weigerung, einer Geheimgesellschaft beitreten zu wollen, diese als wahr unterstellt, sei daher nicht anzunehmen. Im Übrigen habe seine Schwester nicht einmal konkrete Umstände der Verfolgung ihres Bruders durch die Poro-Society wiedergeben können, obwohl diese für ihre Flucht maßgeblich gewesen sei. Dabei werde nicht verkannt, dass die Schwester selbst die Vorfälle nicht vollständig erlebt habe und insoweit auf die Erzählungen ihres Bruders angewiesen sei. Da anzunehmen sei, dass ihr Bruder sie nach über einjähriger gemeinsamer Reise und ca. halbjährigem gemeinsamen Aufenthalt in Deutschland gleichlautend informiert hätte, seien insoweit übereinstimmende Angaben zu erwarten. Dies sei jedoch nicht der Fall. Zusammenfassend lasse sich feststellen, dass es an einem schlüssigen Sachvortrag fehle.
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Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG lägen ebenfalls nicht vor. Gleiches gelte für Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Sierra Leone führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorläge, da die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab nicht erfüllt seien. Sierra Leone zähle zu den ärmsten Ländern der Erde und liege mit dem Human Development Index unter dem Durchschnittswert der Region Subsahara. Ein Großteil der Bevölkerung lebe in absoluter Armut und schlage sich mit Dienstleistungen oder Kleinhandwerk im informellen Sektor durch. Für zurückkehrende Sierra-Leoner, die über kein eigenes Vermögen und nicht über familiären Rückhalt verfügten, sei es wegen fehlender staatlicher Unterstützungsprogramme schwierig, sich das zum Überleben notwendige Existenzminimum zu erwirtschaften. Gleichwohl sei es unter Aufbringung entsprechender Anstrengung für gesunde und arbeitsfähige Personen möglich. Die schlechte wirtschaftliche Lage allein begründe jedenfalls noch kein humanitäres Abschiebungsverbot. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Unabhängig davon, dass der berufserfahrene Kläger, der die Schule neun Jahre lang besucht und keinerlei Unterhaltspflichten habe, sich nicht konkret darauf berufe, im Fall der Rückkehr in eine existenzbedrohende Lage zu geraten, sei dies nach hiesiger Erkenntnislage auch nicht der Fall. Der Kläger habe vor seiner Ausreise aus Sierra Leone in der Gastronomie gearbeitet. Er sei zudem in der Lage gewesen, sich seine Reise nach Deutschland kostenlos zu organisieren. Eine hier zu berücksichtigende existenzbedrohende wirtschaftliche Notsituation sei nicht vorgetragen worden. Es sei zudem davon auszugehen, dass er über familiäre Beziehungen, Clanstrukturen und einen großen Freundeskreis im Heimatland verfüge. Er habe darüber hinaus zahlreiche Telefonnummern aus seinem Heimatland, womit er wieder Kontakt herstellen könne. Es sei anzunehmen, dass er als junger, gesunder Mann, der Lesen und Schreiben könne, in seinem Heimatland eine Tätigkeit finde, mit der er seinen Lebensunterhalt bestreiten könne. Ergänzend werde auf mögliche Rückkehr- und Staatshilfen für freiwillige Rückkehrer nach dem REAG/GARP-Programm, den Programmen „StarthilfePlus“ und Post-War Pioneers - „Heimat statt Migration“ verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Gründe wird auf den Bescheid Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Die Klagen der Schwester und des Cousins des Klägers unter den Aktenzeichen W 10 K 19.32048 bzw. W 10 K 20.30036 gegen den jeweiligen ablehnenden Bescheid des Bundesamts vom 12. Juni 2018 wurden mit Urteil vom selben Tag abgewiesen.
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2. Gegen den streitgegenständlichen Bescheid erhob der Kläger am 28. Juni 2018 zur Niederschrift des Urkundsbeamten des beim Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg Klage und ließ durch seine Bevollmächtigte zuletzt beantragen,
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Der Bescheid des Bundesamts vom 12. Juni 2018 wird aufgehoben.
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Die Bundesrepublik Deutschland wird verpflichtet,
dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Zur Begründung nahm er auf die Anhörung beim Bundesamt Bezug.
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Für die Beklagte beantragt das Bundesamt,
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3. In der mündlichen Verhandlung am 21. Februar 2020 ließ der Kläger die Klage durch seine Bevollmächtigte zurücknehmen, soweit die Verpflichtung zur Anerkennung als Asylberechtigten beantragt war.
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Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung vom 21. Februar 2020, wird auf den Inhalt der Gerichtssowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen. Die entsprechenden Akten der Schwester und des Cousins des Klägers wurden beigezogen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage, über die nach § 102 Abs. 2 VwGO auch in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden durfte, ist unbegründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die begehrten Entscheidungen des Bundesamts zu seinen Gunsten. Der streitgegenständliche Bescheid vom 12. Juni 2019 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Ablehnung der Asylanerkennung (Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids) ist bereits unanfechtbar geworden, da die Klage insoweit zurückgenommen wurde.
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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a) Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung ist § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG (BT-Drs. 16/5065, S. 213; vgl. auch § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG).
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Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen.
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Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Lands (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die §§ 3 ff. AsylG setzen die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie - QRL, Amtsblatt-Nr. L 337, S. 9) in deutsches Recht um.
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Dem Ausländer muss eine Verfolgungshandlung drohen, die mit einem anerkannten Verfolgungsgrund (§ 3b AsylG) eine Verknüpfung bildet, § 3a Abs. 3 AsylG. Als Verfolgungshandlungen gelten gemäß § 3a AsylG solche Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1) oder Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Die für eine Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsschutzes nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG relevanten Merkmale (Verfolgungsgründe) sind in § 3b Abs. 1 AsylG näher definiert. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung sowohl von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Nach § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft allerdings nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2) (interner Schutz bzw. innerstaatliche Fluchtalternative).
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Maßgeblich für die Beurteilung, ob sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb des Heimatlands befindet, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der dem Maßstab des „real risk“, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bei der Prüfung des Art. 3 EMRK anwendet, entspricht (vgl. EGMR, U.v. 28.2.2008 - 37201/06, NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.; U.v. 23.2.2012 - 27765/09, NVwZ 2012, 809 Rn. 114). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) ist die Furcht des Ausländers begründet, wenn bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - juris Rn. 14; VGH BW, U.v. 3.11.2016 - A 9 S 303/15 - juris Rn. 32 ff.; NdsOVG, U.v. 21.9.2015 - 9 LB 20/14 - juris Rn. 30).
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Wurde der betroffene Ausländer bereits verfolgt oder hat er einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten bzw. war er von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht und weisen diese Handlungen und Bedrohungen eine Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund auf, greift zu dessen Gunsten die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL, wonach die Vorverfolgung bzw. Vorschädigung einen ernsthaften Hinweis darstellt, dass sich die Handlungen und Bedrohungen im Fall einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - juris Rn. 15). Die Vorschrift privilegiert den betroffenen Ausländer durch eine widerlegliche Vermutung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Eine Widerlegung der Vermutung ist möglich, wenn stichhaltige Gründe gegen eine Wiederholung sprechen. Durch Art. 4 Abs. 4 QRL wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte davon befreit, stichhaltige Gründe dafür vorzubringen, dass sich die Bedrohungen erneut realisieren, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt.
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Dem Ausländer obliegt gleichwohl die Pflicht, seine Gründe für die Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen, was bedeutet, dass ein in sich stimmiger Sachverhalt geschildert werden muss, aus dem sich bei Wahrunterstellung und verständiger Würdigung ergibt, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung droht. Dies beinhaltet auch, dass der Ausländer die in seine Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse, die geeignet sind, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen, wiedergeben muss (vgl. § 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO; OVG NW, U.v. 2.7.2013 - 8 A 2632/06.A - juris Rn. 59 f. mit Verweis auf BVerwG, B.v. vom 21.7.1989 - 9 B 239.89 -, InfAuslR 1989, 349 (juris Rn. 3 f.); B.v. 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38 (juris Rn. 8); B.v. 3.8.1990 - 9 B 45.90 -, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 225 (juris Rn. 2)).
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Der Asylsuchende muss dem Gericht glaubhaft machen, weshalb ihm in seinem Herkunftsland die Verfolgung droht. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es regelmäßig, wenn er im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheinen oder er sein Vorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere, wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgebend bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst spät in das Asylverfahren einführt. In der Regel kommt deshalb dem persönlichen Vorbringen des Asylbewerbers, seiner Persönlichkeit und Glaubwürdigkeit sowie der Art seiner Einlassung besondere Bedeutung zu (vgl. BayVGH, U.v. 26.1.2012 - 20 B 11.30468 - m.w.N.).
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b) Unter Berücksichtigung vorgenannter Voraussetzungen und Maßstäbe sind die Voraussetzungen des § 3 AsylG bereits deshalb nicht erfüllt, weil der Kläger nicht glaubhaft gemacht hat, sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlands zu befinden. Zudem kann der Kläger zumutbaren internen Schutz im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG in Anspruch nehmen.
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aa) Das Vorbringen des Klägers und seiner Schwester zu ihren Verfolgungsgründen erscheint insgesamt nicht als glaubhaft, sondern asyltaktisch motiviert. So weisen nicht nur die Schilderungen des Klägers sowie seiner Schwester jeweils für sich genommen zahlreiche Widersprüche und Ungereimtheiten auf, sondern auch im Vergleich zueinander. Bereits die Angaben der Geschwister zur beruflichen Tätigkeit ihres Onkels sowie dazu, woher er das Geld für die Ausreise hatte, divergieren. Während der Kläger erklärte, ihr Onkel habe seine Arbeit verloren, sodass er sich das Geld für die Ausreise habe leihen müssen, erklärte seine Schwester vor dem Bundesamt, er sei Lehrer gewesen und habe ihre Reise von seinem Lohn finanzieren können. In der mündlichen Verhandlung behauptete sie demgegenüber, ihr Onkel habe das Geld für die Ausreise gehabt, da er gearbeitet habe, er sei Schreiner gewesen. Auf Vorhalt, dass der Kläger angegeben habe, dass ihr Onkel arbeitslos gewesen sei, gab seine Schwester sodann an, solange er gearbeitet habe, habe er Geld gespart und von dem Ersparten hätten sie dann die Ausreise finanziert. Auf weiteren Vorhalt, dass sie beim Bundesamt gesagt habe, ihr Onkel sei Lehrer gewesen, erklärte sie schließlich, sie könne sich nicht erinnern. Diese offenkundig situativ angepassten Angaben vermögen die widersprüchlichen Angaben der Geschwister ersichtlich nicht miteinander in Einklang zu bringen. Soweit der Kläger anführt, sie hätten ihren Onkel nicht fragen dürfen, woher er das Geld für die Flucht gehabt habe, ist auch diese Angabe nicht geeignet, die widersprüchlichen Angaben insbesondere zur Berufstätigkeit ihres Onkels zu erklären. Unabhängig davon hätte die Schwester des Klägers ohne weiteres sagen können, dass sie nicht weiß, woher der Onkel das Geld hatte, wenn dies der Fall gewesen wäre.
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Auch die Schilderungen zu der angeblichen Entführung und versuchten Zwangsrekrutierung durch die Poro-Geheimgesellschaft sind an verschiedensten Stellen inkonsistent bzw. widersprüchlich. Bereits die Angaben des Klägers dazu, warum die Poro gerade ihn hätten entführen sollen, divergieren. Bereits beim Bundesamt war auffällig, dass der Kläger immer wieder einen Zusammenhang dazu herstellte, dass er keine Eltern mehr hat und die Gesellschaft dies wusste. Er erklärte sogar, dass er nicht genau wisse, woher sie es gewusst hätten, vielleicht seien es einige Jungen aus der Umgebung gewesen, die zu dieser Gesellschaft gehört hätten. Andererseits erklärte er, er habe nicht gewusst, warum er dazu gezwungen werden sollte, Mitglied zu werden bzw. er wisse nicht genau, ob sie nur Leute entführen würden, die keine Eltern mehr hätten. Die Erklärungsversuche des Klägers auf entsprechenden Vorhalt beim Bundesamt bringen hier kein Licht ins Dunkel, sondern erscheinen vage und ausweichend. So gab der Kläger an, er habe nicht gesagt, dass er entführt worden sei, weil seine Eltern nicht mehr am Leben seien. Er sei entführt worden, damit er in die Gesellschaft eintrete. Wären seine Eltern noch am Leben und die Poro hätten ihn entführt, dann hätten sie nichts dagegen tun können. Als seine Eltern noch gelebt hätten, habe er so ein Problem nicht gehabt. Die Poro seien bis dahin noch nicht zu ihm gekommen. Es sei für ihn überraschend gewesen, dass sie erst nach dem Tod seiner Eltern zu ihm gekommen seien. Diese etwas diffus wirkenden Angaben verwundern umso mehr, als der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf entsprechende Nachfrage ohne Umschweife erklärte, die Poro würden entweder Freiwillige oder junge Leute ohne Eltern wollen. Er wisse nicht genau, ob bzw. wer den Poro verraten habe, dass er keine Eltern mehr habe.
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Zudem konnte der Kläger trotz entsprechender Nachfragen nicht überzeugend darlegen, warum die Poro ihn nach dem ersten Ritual mit dem Auftrag hätten nach Hause schicken sollen, nach drei Tagen wieder zurückzukehren, damit weitere Zeremonien durchgeführt werden könnten. Denn im Hinblick darauf, dass er nicht freiwillig dort und die ganze Zeit gefesselt war, konnten sie kaum davon ausgehen, dass er zurückkommen würde. Die Ausführungen des Klägers beim Bundesamt, es habe Leute gegeben, die schon vor ihm entführt worden seien und Vorrang gehabt hätten, vermögen schon deswegen nicht zu überzeugen, weil die Poro ihn nach seinen Schilderungen nach der Entführung über eine Woche lang auf dem Boden liegen gelassen haben. Warum sie das nicht einfach noch einmal machen und stattdessen das Risiko eingehen sollten, dass der Kläger sich ihnen entzieht, erschließt sich nicht. Erst recht gilt dies im Hinblick auf die angeblich von seinem Onkel erwirkte Fristverlängerung. Denn nach den Umständen wäre vielmehr davon auszugehen gewesen, dass die Poro misstrauisch werden und einer solchen Fristverlängerung keineswegs so einfach zustimmen, zumal der Onkel des Klägers nach seinem Bekunden selbst kein Mitglied der Gesellschaft, sondern Muslim war. Durch seinen Erklärungsversuch in der mündlichen Verhandlung macht der Kläger sein Vorbringen noch unglaubhafter. Denn hier schilderte er, das Getränk, das er habe trinken müssen, habe ihn gezwungen, zurückzukehren. Die Poro hätten die Wirkung des Getränks steuern können, sodass sie auch die Frist für seine Rückkehr hätten verlängern können. Er sei davon nur frei geworden, weil sein Onkel ein Reinigungsritual durchgeführt habe. Unabhängig davon, dass sich derartige Wirkungszusammenhänge naturwissenschaftlich nicht begründen lassen, wäre zu erwarten gewesen, dass der Kläger diese Erklärung schon beim Bundesamt gibt, sofern es sich tatsächlich so zugetragen hätte, was ausweislich der Anhörungsniederschrift jedoch nicht der Fall war.
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Die Schilderungen zu den Misshandlungen während der Rituale weisen ebenfalls erhebliche Widersprüche auf. Denn während der Kläger beim Bundesamt angab, er habe zahlreiche Schläge auf den Rücken bekommen und der Leiter der Zeremonie habe eine Zigarette auf seinem Rücken ausgedrückt, verneinte er die Frage in der mündlichen Verhandlung, ob er außer durch die Zigarette sonst wie verletzt worden sei. Er gab sogar ausdrücklich an, er sei nicht geschlagen worden. Dafür erklärte er erstmalig, dadurch, dass er gefesselt gewesen sei, sei sein Arm gebrochen gewesen. Dabei handelt es sich auch nicht um unwesentliche Details. Denn hier geht es um das zentrale Verfolgungsgeschehen, das üblicherweise prägend in Erinnerung bleibt, sofern es sich tatsächlich zugetragen hat. Erschwerend kommt hinzu, dass die Schwester des Klägers erklärte, die Poro hätten ihn mit einem Messer am Rücken verletzt, er habe dort geblutet und viel Blut verloren. Diesen Widerspruch konnten die Geschwister in der mündlichen Verhandlung auch nicht nachvollziehbar auflösen. Soweit der Kläger angibt, seine Schwester habe das wahrscheinlich angegeben, weil sie das Blut an ihm gesehen habe, überzeugt das nicht. Denn nach allgemeiner Lebenserfahrung unterscheidet sich eine Wunde, die durch eine Zigarette verursacht wurde, deutlich von der eines Messers. Insbesondere ist es gerade nicht so, dass eine solche Brandwunde so stark blutet, dass man aufgrund dessen von einer Messerverletzung ausgehen könnte. Von daher bleibt im Dunkeln, warum der Kläger am Rücken geblutet bzw. viel Blut verloren haben sollte, wie seine Schwester behauptet.
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Zwar ist zu berücksichtigen, dass die Schwester des Klägers bei dem Vorfall selbst nicht zugegen war, sodass nicht erwartet werden kann, dass ihre Ausführungen die Tiefe und Lebendigkeit von eigenem Erleben aufweisen. Ihre im Vergleich zum Kläger widersprüchlichen Angaben vermag das jedoch nicht zu rechtfertigen. So gab die Schwester des Klägers beim Bundesamt mehrfach an, ihr Bruder sei insgesamt zwei Tage bei den Poro gewesen, während sie in der mündlichen Verhandlung wie ihr Bruder erklärte, er sei etwa eine Woche dort gewesen. Wäre der Kläger tatsächlich verschwunden gewesen, so wäre zu erwarten gewesen, dass seine Familie sich Sorgen macht und nach ihm sucht. Dieses Ereignis wäre damit auch für die Schwester des Klägers (gerade nach dem Tod ihrer Eltern) so einschneidend gewesen, dass es prägend in Erinnerung bleibt und sie daher in der Lage wäre, den entsprechenden Zeitraum zumindest annähernd korrekt wiederzugeben. Darüber hinaus war die Schwester des Bruders nicht einmal in der Lage, anzugeben, wann der Vorfall sich ereignet hat und wie lange dies vor der Ausreise gewesen ist.
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Daneben ist es dem Kläger bzw. seiner Schwester auch nicht gelungen, glaubhaft darzulegen, weshalb ihr in Sierra Leone mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Genitalverstümmelung drohen würde. Denn bereits beim Bundesamt sprach diese zwar davon, dass ihr dies drohe. Sie erklärte aber auch, als sie noch in Sierra Leone gelebt habe, habe sie gar nicht vorgehabt, auszureisen, sondern ihr Onkel habe sie mit nach Libyen genommen. Hierzu kommt ihre weitere Aussage, sie haben in ihrem Heimatland keine Probleme mit Privatpersonen gehabt. Auch diesen Widerspruch konnten die Geschwister nicht nachvollziehbar auflösen. Im Gegenteil verstrickten sie sich in weitere Widersprüche.
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So gaben die beiden erstmals in der mündlichen Verhandlung an, die Schwester sei wegen der Bondo-Geheimgesellschaft - dem weiblichen Gegenstück zur Poro-Geheimgesellschaft - in Gefahr gewesen. Zwar ergibt sich aus den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln, dass die Tradition der Beschneidung grundsätzlich von weiblichen Geheimgesellschaften wie der Bondo durchgeführt werden. Dies erklärt jedoch nicht einmal im Ansatz, warum die Schwester des Klägers in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt ausdrücklich erklärte, ihre Tante habe entschieden, dass sie beschnitten werde und sie habe es durchgeführt, als sie bei ihr zu Besuch gewesen sei. Genauso wenig erklärt dies, warum die Schwester des Klägers in der mündlichen Verhandlung plötzlich „umschwenkte“ und auf die Frage, wer entscheide, ob eine Frau beschnitten werde, antwortete, das seien die Frauen von Bondo und der Koran bestimme es. Ihre Tante erwähnte sie in diesem Zusammenhang wie der Kläger mit keinem Wort. Soweit die Schwester des Klägers auf die Frage, warum sie beim Bundesamt nicht gesagt habe, dass die Beschneidung von Bondo drohe, erklärte, sie sei danach nicht gefragt worden, erscheint dies als Schutzbehauptung. Denn ausweislich der Niederschrift wurde die Schwester des Klägers sehr wohl nicht nur allgemein zu weiblicher Genitalverstümmelung befragt, sondern auch dazu, wer bei ihr darüber entschieden habe. Soweit die Schwester des Klägers dies - wie auch andere Widersprüche - mit Verständigungs- bzw. Übersetzungsproblemen zu erklären versucht und behauptet, das Interview beim Bundesamt sei eine Katastrophe gewesen, der Dolmetscher habe sie nicht richtig verstanden, wird dies gleichfalls als Schutzbehauptung gewertet. Denn die Schwester des Klägers wurde beim Bundesamt explizit danach gefragt, ob sie den Dolmetscher gut habe verstehen können, woraufhin sie erklärte, es habe manche Wörter gegeben, die mehrmals hätten erklärt werden müssen, sie seien dann aber ausreichend erklärt worden. Zudem gab sie abschließend an, dass es keine Verständigungsschwierigkeiten gab. Des Weiteren wurde der Schwester des Klägers die Niederschrift rückübersetzt und ihr stand bei der Anhörung ein weiblicher Vormund zur Seite, der offenbar ebenfalls keinen Anlass zu einer Berichtigung sah.
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Bei ihrem Vortrag in der mündlichen Verhandlung fällt darüber hinaus auf, dass die Schwester des Klägers zunächst lediglich allgemein von einer drohenden Beschneidung sprach, obwohl sie beim Bundesamt angegeben hatte, sie sei zwar bereits beschnitten, es drohe ihr aber erneut. Auf Nachfrage, warum sie eine nochmalige Beschneidung befürchte, da sie ja schon beschnitten sei, erklärte die Schwester des Klägers zunächst pauschal und ausweichend, nach ihrer ersten Beschneidung habe sie immer noch Beschwerden, deshalb wolle sie keine weitere. Erst auf Vorhalt, dass die Beschneidung nur einmal durchgeführt werde, behauptete die Schwester des Klägers, die erste Beschneidung sei nicht gut gemacht worden. Deswegen habe sie immer noch Beschwerden und wolle es kein zweites Mal machen. Diese offenkundig situativ angepassten Angaben wertet das Gericht als Ausflüchte bzw. unwahre Behauptungen.
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Nach alledem ist das Gericht davon überzeugt, dass die Verfolgungsgeschichte der Geschwister in ihren verschiedenen Ausprägungen frei erfunden ist und nicht auf tatsächlichem Erleben fußt. Unabhängig davon spricht auf der Grundlage aktueller Erkenntnismittel vieles dafür, dass Sierra Leone willens und in der Lage ist, vor einer Verfolgung jedenfalls durch die Poro-Geheimgesellschaft wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, sodass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch aus diesem Grund ausscheidet (vgl. VG Magdeburg, U.v. 3.6.2019 - 8 A 107/18 - juris Rn. 27 ff. m.w.N.; VG Regensburg, U.v. 17.5.2019 - RN 14 K 17.32472 - juris Rn. 25).
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bb) Selbst bei Wahrunterstellung des klägerischen Vorbringens sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch deshalb nicht erfüllt, weil er sich auf die bestehende Möglichkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes (innerstaatliche Fluchtalternative) verweisen lassen muss, § 3e AsylG. Nach dieser Vorschrift wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
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Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger jedenfalls in den Großstädten oder auch anderen Landesteilen Sierra Leones - trotz der verhältnismäßig geringen Landesgröße - eine den genannten Anforderungen genügende Ausweichmöglichkeit vorfinden wird. In diesem Zusammenhang erscheint es bereits fraglich, wie es einem Geheimbund selbst bei einer gewissen unterstellten Vernetzung grundsätzlich überhaupt möglich sein soll, von ihm gesuchte Personen zu finden. Schließlich existiert in Sierra Leone kein ausreichendes Zivilregister (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amts an das Bundesamt vom 17.10.2017), sodass es selbst für staatliche Stellen schwierig sein dürfte, eine bestimmte Person in einer Großstadt ausfindig zu machen. Für nichtstaatliche Akteure dürfte dies nahezu unmöglich sein. Das Gericht geht vielmehr davon aus, dass es jedenfalls in den Großstädten Sierra Leones - mit Ausnahme ggf. der Stadt des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts - möglich ist, grundsätzlich unbehelligt von Geheimbünden zu leben (vgl. VG Regensburg, U.v. 29.10.2019 - RN 14 K 18.30706 - BeckRS 2019, 37217 Rn. 28; U.v. 17.5.2019 - RN 14 K 17.32472 - juris Rn. 24; VG München, U.v. 14.5.2018 - 30 K 17.40892 - BeckRS 2018, 20432 m.V.a. Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG Augsburg zur Poro-Society vom 9.1.2017). Dort gibt es viele Menschen, die nicht Mitglied einer Geheimgesellschaft sind und ohne Probleme leben können. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass jemand gefoltert wird oder seinen Arbeitsplatz verliert, wenn er offen bekennt, die Mitgliedschaft in einer Geheimgesellschaft abzulehnen. Die Religionsfreiheit erstreckt sich auch auf traditionelle Glaubensvorstellungen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG Augsburg zur Poro-Society vom 9.1.2017). Dass sich an dieser Auskunftslage etwas ändert, wenn jemand zwar zwangsweise einer Geheimgesellschaft zugeführt werden sollte, sich dem jedoch vor der (endgültigen) Aufnahme durch Initiierungsrituale entzog, ist aus Sicht des Gerichts grundsätzlich nicht zu erwarten. Insofern ist das Gericht davon überzeugt, dass die Mitglieder des Geheimbunds den Kläger nicht noch nach etwa dreieinhalb Jahren nach den fluchtauslösenden Ereignissen im Oktober 2016 in ganz Sierra Leone suchen werden. Der Aufwand für die Geheimbünde in Sierra Leone alle Personen, die sich einer Aufnahme in die Geheimgesellschaft entzogen haben, im ganzen Land zu suchen - ohne zentrales Melderegister - wäre enorm, vor allem im Vergleich zu der Chance, tatsächlich jemanden auffinden zu können. Schließlich ist für den Geheimbund bereits nicht bekannt, ob sich die Person überhaupt oder wieder in Sierra Leone aufhält.
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Nichts anderes ergibt sich aus der vom Kläger geäußerten Behauptung, die Geheimgesellschaften könnten ihn, seine Schwester und seine Familie landesweit finden. Diese subjektive Befürchtung begründete der Kläger damit, nicht genau zu wissen, wie sie es machten, aber es funktioniere. Die Gesellschaften seien landesweit verbreitet und miteinander verbunden. Er selbst wäre auch aufgrund seiner Markierungen auffindbar. Soweit es sich in diesem Zusammenhang nicht um bloßen Aberglauben handelt, ist die Behauptung rein spekulativer Natur, die auch den der Entscheidung zu Grunde liegenden Erkenntnismitteln nicht entspricht. Im Hinblick auf die Markierungen des Klägers ist anzumerken, dass sich diese nach seinen Angaben auf seinem Rücken befinden, sodass es dem Kläger unschwer möglich wäre, diese durch Kleidung zu verbergen. Daneben ist nicht erkennbar, weshalb die Geheimgesellschaft ein derart gesteigertes Interesse am Kläger haben und deshalb jahrelang nach ihm suchen und hierfür einen nicht unerheblichen Aufwand betreiben sollte. Erst recht gilt dies im Hinblick auf die Schwester und den Cousin des Klägers.
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Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass es dem Kläger möglich und zumutbar ist, sich bei einer Rückkehr nach Sierra Leone in einer anderen Stadt niederzulassen und sich dort ein neues Leben aufzubauen. In Bezug auf Sierra Leone ist allgemein festzustellen, dass die Sicherheitslage im ganzen Land stabil ist (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, 4.7.2018, S. 5). Zudem hat sich die Menschenrechtslage nach dem Ende des Bürgerkriegs in vielen Bereichen deutlich verbessert (vgl. BFA, a.a.O., S. 9). Darüber hinaus ist es den Bürgern nicht verwehrt, sich innerhalb des Lands uneingeschränkt zu bewegen. In der Verfassung ist sowohl die Emigration als auch die Rückkehr verankert (vgl. BFA, a.a.O., S. 16). Zwar ist dem Gericht bekannt, dass Sierra Leone trotz des Reichtums an Bodenschätzen eines der ärmsten Länder der Welt ist. Gründe hierfür sind unter anderem der sehr große informelle Wirtschaftssektor, eine kaum diversifizierte Wirtschaftsstruktur und eine hohe Importabhängigkeit. Die Infrastruktur und der Energiesektor sind nur schwach ausgebaut. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, wobei bisher keine verlässlichen statistischen Daten erhoben wurden. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77 Prozent) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Staatliche oder nichtstaatliche finanzielle Fördermöglichkeiten wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Familie und die lokale Gesellschaftsordnung ist für die meisten Sierra-Leoner der wichtigste Bezugsrahmen. Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen sind ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen. Gleichzeitig ist allerdings zu beachten, dass die Mehrheit versucht, sich mit Gelegenheitsjobs, Subsistenzlandwirtschaft oder als Händler ein Auskommen zu erwirtschaften und sich die wirtschaftliche Entwicklung zwischen Stadt und Land unterscheidet. Zudem gelingt es selbst ungelernten Arbeitslosen durch Hilfstätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten (z.B. im Transportwesen), Kleinhandel (etwa Verkauf von Obst, Süßigkeiten, Zigaretten) und ähnliche Tätigkeiten etwas Geld zu verdienen und in bescheidenem Umfang ihren Lebensunterhalt sicherzustellen (vgl. BFA, a.a.O., S. 17; OVG NW, B.v. 6.9.2017 - 11 A633/05.A - BeckRS 2007, 26471, m.w.N.). Daneben ist seit dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2002 mit Ausnahme der Jahre 2014 und 2015 (Einbruch der Rohstoffpreise sowie Ebola-Epidemie) ein erfreuliches Wirtschaftswachstum zu verzeichnen, auch wenn die Strukturprobleme der Wirtschaft nicht beseitigt werden konnten. Die Wirtschaftspolitik ist auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie die Erhöhung der Staatseinnahmen ausgerichtet. Zur Stärkung der Steuerbasis (nur knapp 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) soll der informelle Sektor in die formelle Wirtschaft überführt und die Korruption bekämpft werden, auch wenn die Erfolge bislang noch bescheiden sind (vgl. Auswärtiges Amt, Sierra Leone - Wirtschaft, https://www.a...de/de/aussenpolitik/laender/sierraleone-node/ wirtschaft/203486, abgerufen am 23.1.2020; BFA, a.a.O., S. 13, 17 f.)
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Vor diesem Hintergrund ist das Gericht auch in Anbetracht der persönlichen Situation des Klägers davon überzeugt, dass er unter Überwindung von Anfangsschwierigkeiten die Möglichkeit haben wird, sich eine Existenzgrundlage aufzubauen und so jedenfalls seine elementaren Grundbedürfnisse zu befriedigen. Der Kläger hat in Sierra Leone nach seinen Angaben neun Jahre lang die Schule besucht und berufliche Erfahrungen in einer Bar gesammelt. Es ist somit nicht ersichtlich, dass es dem Kläger als jungem und gesundem Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen trotz der allgemein schlechten Wirtschaftslage nicht möglich sein wird, Fuß zu fassen und zumindest durch Gelegenheitsarbeiten seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften, auch wenn er nicht auf ein familiäres Netzwerk in Sierra Leone zurückgreifen könnte. Erforderlich und ausreichend ist insoweit zudem, dass der Kläger durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und seiner Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem notwendigen Lebensunterhalt Erforderliche erlangen kann. Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, die nicht den überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 1.2.2007 - 1 C 24.06 - NVwZ 2007, 590; OVG NW, U.v. 17.11.2008 - 11 A 4395/04.A - juris Rn. 47). Durch seine in Europa gesammelten Erfahrungen und erworbene Ausbildung befindet sich der Kläger zudem in einer vergleichsweise guten Position, da er hiervon auch zukünftig in Sierra Leone profitieren kann. Das Gericht hat daher keine Zweifel daran, dass es dem Kläger gelingen wird, seine Existenz in seinem Heimatland, mit dessen Gepflogenheiten und Sprache er vertraut ist, zu sichern, selbst wenn unter Umständen nur ein Leben am Rand des Existenzminimums möglich wäre.
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Dies gilt umso mehr, als die Regierung Sierra Leones mit dem UNHCR und anderen humanitären Organisationen zusammenarbeitet, um unter anderem Rückkehrern Schutz und Unterstützung zu gewähren (vgl. BFA, a.a.O., S. 16). Überdies steht es dem Kläger frei, Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, um Unterstützung und Starthilfe zu erhalten und erste Anfangsschwierigkeiten gut überbrücken zu können. So können ausreisewillige Personen aus Sierra Leone Leistungen aus dem REAG-Programm sowie aus dem GARP-Programm erhalten, die neben der Übernahme der Reisekosten Reisebeihilfen im Wert von 200,00 EUR und eine Starthilfe im Umfang von 1.000,00 EUR beinhalten; eine zweite Starthilfe wird sechs bis acht Monate nach der Rückkehr im Heimatland persönlich ausgezahlt (https://www.r...de/de/countries/sierra-leone). Ergänzend hierzu steht das „Bayerische Rückkehrprogramm“ zur Verfügung. Hierbei handelt es sich um ein Förderprogramm des Freistaats Bayern, dass sich an den individuellen Bedürfnissen der ausreisewilligen Personen orientiert. Es bietet verschiedene „Förderbausteine“, aus welchen im Rahmen der Rückkehrberatung der individuelle Bedarf festgestellt und die mögliche Förderung ermittelt werden kann. Zu diesen Bausteinen gehören sowohl Rückkehrhilfen wie Gepäcktransport und Reisekosten als auch Reintegrationshilfen wie ein Wohnungskostenzuschuss, ein Überbrückungsgeld oder medizinische Unterstützung. Pro Person darf die Höhe der Integrationshilfen im Regelfall 3.000,00 EUR nicht überschreiten. Ausreisewillige Personen aus afrikanischen Staaten können darüber hinaus unter bestimmten Voraussetzungen für die Dauer von zwölf bis maximal 18 Monaten einen Zuschuss zur Lebensunterhaltssicherung in Höhe von bis zu 250,00 EUR pro Monat erhalten (http://www.l...de/assets/stmi/lfar/ba...-_vom_30.08.2019.pdf). Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich der Kläger nicht darauf berufen kann, dass die genannten Start- und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten - wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr - im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 - 9 C 38.96 - juris; VGH BW, U.v. 26.2.2014 - A 11 S 2519/12 - juris). Dementsprechend ist es dem Kläger möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach Sierra Leone freiwillig Zurückkehrenden gewährte Reisehilfen sowie Reintegrationsleistungen in Anspruch zu nehmen.
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Ohne dass es darauf noch ankäme, geht das Gericht mit dem Bundesamt davon aus, dass der Kläger in Sierra Leone über ein aufnahmebereites familiäres Netzwerk verfügt, das ihn insbesondere dabei unterstützen wird, Anfangsschwierigkeiten zu überwinden, um eine Existenz aufzubauen. Hierzu wird auf die Ausführungen im Urteil der Schwester des Klägers vom heutigen Tag im Verfahren W 10 K 19.32048 Bezug genommen.
42
Dabei kann allerdings nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger gemeinsam mit seiner Schwester (und ihrem Kind) sowie seinem Cousin nach Sierra Leone zurückkehren würde. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt die Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Für eine in diesem Sinne „gelebte“ Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus. Maßgeblich ist für die typisierende Betrachtung im Rahmen der Rückkehrprognose nicht der - nicht auf Kernfamilien beschränkte - Schutzbereich des Art. 6 GG bzw. des Art. 8 EMRK. Bestehende, von familiärer Verbundenheit geprägte enge Bindungen jenseits der Kernfamilie mögen ebenfalls durch nach Art. 6 GG schutzwürdige besondere Zuneigung und Nähe, familiäre Verantwortlichkeit füreinander, Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft geprägt sein; sie rechtfertigen für sich allein aber nicht die typisierende Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris Rn. 18 m.w.N.).
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Das Bundesamt hat mithin zu Unrecht darauf abgestellt, dass die Geschwister und ihr Cousin gemeinsam nach Sierra Leone zurückkehren würden und so der Lebensunterhalt für sie alle sichergestellt werden könnte. Denn nach den oben genannten Grundsätzen ist eine gemeinsame Rückkehr grundsätzlich lediglich bei der Kernfamilie, also den Eltern und ihren minderjährigen Kindern, anzunehmen. Darüber hinaus ist Voraussetzung, dass sie bereits im Bundesgebiet eine tatsächliche Lebensgemeinschaft bilden. Die Geschwister und ihr Cousin sind weder Angehörige einer Kernfamilie, noch leben sie zusammen. Auch sonst gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte, die im vorliegenden Fall die Annahme rechtfertigen würden, dass eine Rückkehr nur gemeinsam erfolgen würde. Hieran ändert auch die gemeinsame Einreise und der Umstand nichts, dass sich der Kläger nach wie vor um seine Schwester und seinen Cousin kümmert und sich für sie verantwortlich fühlt. Denn das Bundesverwaltungsgericht hat ausdrücklich klargestellt, dass es für die regelhafte Prognose der gemeinsamen Rückkehr gerade nicht ausreicht, dass eine von Art. 6 GG, Art. 8 EMRK geschützte Bindung besteht. Hieraus kann sich allenfalls ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis nach § 60a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG ergeben. Derartige inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse sind allerdings nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.
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2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die hilfsweise beantragte Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
45
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Subsidiären Schutz kann nur beanspruchen, wem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die Art der Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG muss eine Schwere erreichen, die dem Schutzbereich des Art. 3 EMRK zuzuordnen ist und für den Fall, dass die Schlechtbehandlung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, muss der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sein, Schutz zu gewähren (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG).
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Dass dem Kläger in Sierra Leone die Vollstreckung oder die Verhängung der Todesstrafe bzw. eine Beeinträchtigung des Lebens oder Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ist weder ersichtlich noch vorgetragen. Insbesondere ist die Sicherheitslage - wie dargestellt - im ganzen Land stabil. Für das Gericht bestehen überdies keine Zweifel daran, dass dem Kläger in Sierra Leone keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht. Wie bereits ausgeführt, ist das Gericht davon überzeugt, dass die von ihm geschilderten Verfolgungshandlungen nicht der Wahrheit entsprechen. Weiterhin muss sich der Kläger auf die bestehende Möglichkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes (innerstaatliche Fluchtalternative) verweisen lassen, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG. Insoweit sei auf obige Ausführungen verwiesen.
47
3. Dem Kläger steht letztlich auch kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu.
48
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
49
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung oder Behandlung unterworfen werden. Insbesondere genügt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EGMR) der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen. Diese Vorschrift verpflichtet die Staaten nicht, Fortschritte in der Medizin sowie Unterschiede in sozialen und wirtschaftlichen Standards durch freie und unbegrenzte Versorgung von Ausländern ohne Bleiberecht auszugleichen (EGMR, U.v. 27.5.2008 - Nr. 26565/05, N./Vereinigtes Königreich - NVwZ 2008, 1334 Rn. 44). Etwas anderes gilt nur in außergewöhnlichen Ausnahmefällen. Ein Ausnahmefall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, liegt beispielsweise dann vor, wenn die Versorgungslage im Herkunftsland völlig unzureichend ist (vgl. EGMR, a.a.O. Rn. 42; U.v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 - Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 - NJOZ 2012, 952).
50
Die - wie dargestellt - schlechten humanitären und wirtschaftlichen Bedingungen in Sierra Leone begründen für sich genommen kein Abschiebungsverbot. Wie bereits ausgeführt, wird der Kläger nach Überzeugung des Gerichts im Fall seiner Rückkehr nach Sierra Leone in der Lage sein, zumindest das Existenzminimum sicherzustellen. Ein Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 AufenthG kommt daher nicht in Betracht.
51
b) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
52
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei ist unerheblich, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird, die Regelung stellt alleine auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab, unabhängig davon, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.1995 - 9 C 9/95 - BVerwGE 99, 324). Es gilt der Gefahrenmaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
53
§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG setzt das Vorliegen einer zielstaatsbezogenen Gefahr voraus, die den Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise betrifft. Eine unmittelbare Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG scheidet allerdings dann aus, wenn die Gefahr eine Vielzahl von Personen im Herkunftsland in gleicher Weise betrifft, so z. B. allgemeine Gefahren im Zusammenhang mit Hungersnöten oder Naturkatastrophen, § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG. Diese allgemeinen Gefahren sind stattdessen bei Aussetzungsanordnungen durch die obersten Landesbehörden nach § 60 Abs. 7 Satz 5 i.V.m. § 60a Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen. Gleichwohl kann ein Ausländer nach der Rechtsprechung des BVerwG im Hinblick auf die im Herkunftsland herrschenden Existenzbedingungen trotz Fehlens einer politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz beanspruchen, wenn er im Fall der Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer Extremgefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt wäre. Dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG, dem betroffenen Ausländer im Wege verfassungskonformer Auslegung Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 - 10 C 10.09, NVwZ 2011, 48 Rn. 14 f.). Wann sich allgemeine Gefahren zu einem Abschiebungsverbot verdichten, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Es muss sich aber jedenfalls um Gefahren handeln, die nach Art, Ausmaß und Intensität von erheblichem Gewicht sind. Dies ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 - 1 C 5.01 - BVerwGE 115, 1 ff. m.w.N.; BayVGH. U.v. 17.2.2009 - 9 B 08.30225 - juris m.w.N.; für den Fall einer schlechten Lebensmittelversorgung, die den Betroffenen im Fall der Rückkehr nach seiner speziellen Lebenssituation in die konkrete Gefahr des Hungertods bringen würde: vgl. etwa BVerwG, U.v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 -; BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 -; BVerwG, U.v. 29.9.2011 - 10 C 24.10 -; BVerwG, U.v. 13.6.2013 - 10 C 13.12 -; BayVGH, U.v. 16.1.2014 - 13a B 13.30025 -, alle juris). Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen.
54
Im vorliegenden Fall ist nach Ansicht des Gerichts nicht von einer derartig extremen Gefahrenlage auszugehen. Wie bereits dargestellt, ist die Versorgungslage in Sierra Leone zwar problematisch. Die allgemeine schlechte wirtschaftliche und soziale Lage in Sierra Leone kann aber kein generelles Abschiebungsverbot im Sinne § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen, da es sich hierbei um eine allgemeine Gefahr handelt, die einen Großteil der sierra-leonischen Bevölkerung betrifft, mit der Folge, dass grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG eingreift. Ausgehend von den oben dargestellten Maßstäben kann alleine in wenigen besonders gelagerten Einzelfällen eine mit hoher Wahrscheinlichkeit bestehende Extremgefahr für Leib, Leben oder Freiheit angenommen werden, welche die allgemeine Gefahr zu einem Abschiebungsverbot verdichtet.
55
Im Fall des Klägers kann eine derartige Extremgefahr nicht prognostiziert werden. Wie bereits dargestellt, ist das Gericht davon überzeugt, dass es dem Kläger möglich sein wird, seine Lebensgrundlage durch eigene Erwerbstätigkeit in einer der sierra-leonischen Großstädte zu sichern. Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, dass sich der Kläger in einer solch speziellen Lebenssituation befindet, dass er im Fall einer Rückkehr nach Sierra Leone sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden würde.
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4. Letztlich bestehen auch an der Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und der auf §§ 34 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG beruhenden Abschiebungsandrohung nach Sierra Leone keine Bedenken. Dies gilt auch im Hinblick auf die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Ermessensfehler (§ 114 Satz 1 VwGO) sind weder ersichtlich, noch vorgetragen.
57
Das Gericht nimmt ergänzend Bezug auf die Begründung des angefochtenen Bescheids, folgt ihr und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
58
5. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG.