Inhalt

VG Regensburg, Beschluss v. 30.04.2020 – RO 14 S 20.727
Titel:

Beschränkungen einer Versammlung wegen der Corona-Pandemie

Normenketten:
GG Art. 5 Abs. 3 S. 1, Art. 8
VwGO § 80 Abs. 5, § 123
BayVersG Art. 15
2. BayIfSMV Art. 1 Abs. 1 S. 1, S. 3
Leitsätze:
1. Maßgeblich dafür, ob eine auf öffentlichen Straßen stattfindende Veranstaltung die Aufführung eines Kunstwerks ist oder ob es sich um einen Aufzug im Sinne des Versammlungsrechts handelt, ist nicht die subjektive Einschätzung des Veranstalters oder der Darsteller, sondern eine objektive Beurteilung. Selbst wenn diese zu der Einordnung als Kunstwerk führt, kommen Beschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie in Betracht, da hier zum Schutz des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gehandelt wird. (Rn. 27 und 29 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aus Gründen des Infektionsschutzes ist die Einhaltung des medizinisch indizierten Mindesabstands zwischen Versammlungsteilnehmern erforderlich, so dass die Genehmigung einer Veranstaltung als ausschließlich ortsfeste Versammlung rechtmäßig ist, wenn in einem sich fortbewegenden Demonstrationszug aufgrund der örtlchen Verhältnisse dieser Mindestabstand nicht eingehalten werden kann.  (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
3. Wenn der geforderte Mindestabstand zwischen den Versammlungsteilnehmern eingehalten wird, ist es unerheblich, über welchen Zeitraum sich die Versammlung erstreckt. Zeitliche Beschränkungen der Versammlung sind daher infektionsschutzrechtlich nicht begründbar. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Versammlungsrecht, Verbot eines Aufzugs, Kunstfreiheit, Beschränkung auf ortsfeste Versammlung, zeitliche Beschränkung einer Versammlung wegen der Corona-Pandemie, Abstandsgebot, anachronistischer Zug, Infektionsschutz, Versammlungsbegriff, zeitliche Beschränkungen
Fundstelle:
BeckRS 2020, 7828

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Bescheid vom 29.4.2020 (…) in Nr.
II. 3. dahingehend abzuändern, dass die vom Antragsteller beantragte Veranstaltung in der Zeit von 9:00 Uhr bis 14:00 Uhr durchgeführt werden kann.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Von den Kosten des Verfahrens haben der Antragsteller ¾ und die Antragsgegnerin ¼ zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller möchte im vorläufigen Rechtsschutzverfahren erreichen, dass er eine am 1.5.2020 in A… geplante künstlerische Formation in der von ihm beantragten Form durchführen kann.
2
Der Antragsteller hat zunächst am 29.3.2020 eine Versammlung für den 1.5.2020 - 1. Mai, Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse - mit ca. 50 Teilnehmern bei der Stadt A… angemeldet. Mit Schreiben vom 29.4.2020 hat er mitgeteilt, dass er seine Anmeldung vom 29.3.2020 ersetzen wolle. Er wolle nunmehr am 1.5.2020 in der Zeit von 9:00 Uhr bis 14:00 Uhr eine künstlerische Formation unter dem Motto „Grün sind die Flure, die Fahne ist rot“ (Bertold Brecht, Mailied) durchführen, startend vom …-Haus über R…Straße, L… Straße, E…Platz, M…straße, D…platz, G…straße bis zum H…platz. Die künstlerische Formation bewege sich auf den öffentlichen Straßen, die die Bühne des Straßentheaters darstelle, dabei jeweils mittig, um den größtmöglichen Abstand zu etwaigen auf den Gehwegen befindlichen Betrachtern zu gewährleisten. Der Betrachter werde nicht nur die einzelnen Darsteller mit ihren Requisiten an sich vorbeiziehen sehen, sondern er werde auch Liedgut und Gedichte von Bertolt Brecht und Paul Dessau auf Instrumenten oder gesungen hören. Die künstlerische Formation bestehe gerade darin, zwischen den einzelnen Darstellern einen Abstand von mehreren Metern einzuhalten. Das Ende der Formation bilde eine weitläufige Kreisbildung auf dem H…markt (gemeint ist wohl H…platz). Im jeweiligen Abstand von mindestens 2 m würden sich die einzelnen Darsteller kreismittig gruppieren. Die Mitte bilde sodann ein historischer Lkw als künstlerische Kulisse, der davor auch den Beginn der Formation darstelle.
3
Am 29.4.2020 hat die Antragsgegnerin einen Bescheid hinsichtlich der am 1.5.2020 geplanten Versammlung erlassen.
4
In Ziffer I. des Bescheids wurde der Eingang der Anzeige der Versammlung des Antragstellers vom 31.3.2020 für den 1.5.2020 von 9:00 Uhr bis 14:00 Uhr unter dem Thema „1. MaiKampftag der Arbeiterklasse“ bestätigt.
5
In Ziffer II. wurde eine Ausnahmegenehmigung gemäß § 1 Abs. 1 Satz 3 der 2. BayIfSMV vom Versammlungsverbot aufgrund der 2. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 16.4.2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 28.4.2020 erteilt. Die Ausnahmegenehmigung wurde unter den in den Nr. 1 bis 11 einzelnen aufgeführten Auflagen genehmigt.
6
Unter anderem ist die Versammlung nach Nr. 1 als ortsfeste Versammlung festgelegt. In Nr. 2 wurde bestimmt, dass als Versammlungsort der H…platz in A… festgelegt wurde. Mit Nr. 3 wird die Versammlungsdauer auf 60 Minuten begrenzt.
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In Ziffer III. wurde festgelegt, dass mindestens 4 Ordner eingesetzt werden müssen.
8
Zur Begründung des Bescheids wurde ausgeführt, dass die Stadt A… für die Erteilung der Ausnahme vom Versammlungsverbot gemäß § 1 Abs. 1 Satz 3 der 2. BayIfSMV i.V.m. Art. 9 Abs. 1 GO, Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG zuständig sei. Aufgrund des § 1 Abs. 1 S. 1 der 2. BayIfSMV seien Versammlungen grundsätzlich untersagt und stünden unter einem Ausnahmevorbehalt, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar sei. Eine infektionsschutzrechtliche Vertretbarkeit sei bei Festsetzung der in dem Schreiben des bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration vom 24.4.2020 genannten kumulativen Voraussetzungen anzunehmen. Nach der Rechtsprechung zum Versammlungsrecht dürfe ein Verbot von Versammlungen nur zum Schutz von Rechtsgütern, die der Bedeutung des Grundrechts des Art. 8 Abs. 1 GG zumindest gleichwertig seien unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei unmittelbaren aus erkennbaren Umständen hergeleiteten Gefährdungen dieser Rechtsgüter erfolgen.
9
Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung seien die verfügten Auflagen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig, um der konkreten Gefahr einer weiteren nicht nachvollziehbaren Ausbreitung des Corona-Virus, die insbesondere zu einer Überlastung der medizinischen Behandlungskapazitäten führen würde, zu begegnen.
10
Die Versammlung sei in Nr. 1 des Bescheids als ortsfeste Versammlung festgelegt worden, nachdem angesichts des Freizeitverhaltens der Besucher und der Bevölkerung von A… an einem Feiertag wie dem 1. Mai, an dem traditionell mehrere Versammlungen im Stadtgebiet abgehalten würden, ein Demonstrationszug in den engen Gassen der Altstadt wie zum Beispiel der S…gasse, G…straße und N…Gasse nicht zu verantworten sei. Bei den engen Straßenverhältnissen könne der Mindestabstand von 1,5 m zwischen den Teilnehmern, unbeteiligten Passanten in den betreffenden Gassen und den die Versammlung schützenden Polizeivollzugsbeamten nicht bewerkstelligt werden. Der geplante Aufzug sei in seiner Form als künstlerische Formation darauf ausgerichtet, Aufmerksamkeit auch bei unbeteiligten Dritten zu erwecken. Es sei zu erwarten, dass sich mehr Personen dem Zug anschließen oder ihm folgen. Es könne nicht angenommen werden, dass der Versammlungsleiter, die von ihm eingesetzten Ordnungskräfte oder die Polizei die jederzeitige Einhaltung des infektionsschutzrechtlich gebotenen Mindestabstands zwischen den Versammlungsteilnehmern sowie den Sympathisanten am Straßenrand gewährleisten könne. Des Weiteren handele es sich bei einem Aufzug um ein dynamisches Geschehen. Die Wegstrecke sei knapp 2 km lang, weise mehrere Kreuzungen auf und sei erst im Altstadtbereich eine Fußgängerzone. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Demonstrationszug auch bei polizeilicher Begleitung bei dieser Streckenführung nicht vorübergehend zum Stehen komme. Bei einem plötzlichen Auflaufen auf den Vordermann könne aber eine Unterschreitung des Mindestabstands von 1,5 m nicht ausgeschlossen werden.
11
Bei der Betrachtung der Antragsgegnerin sei berücksichtigt worden, dass es sich bei der geplanten Veranstaltung des Antragstellers um eine besondere künstlerische Formation handle. Mit Blick auf den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG seien die Vorschriften des § 1 Abs. 1 Satz 3 der 2. BayIfSMV und des Art. 15 BayVersG verfassungskonform angewandt worden. Die zunächst schrankenlos gewährleistete Kunstfreiheit sei an den besonderen Gefahren der aktuellen Corona-Pandemie sowie dem Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit zu messen. Die Kunstfreiheit habe insoweit hinter dem Schutz der Bevölkerung vor weiterer Ausbreitung des Corona-Virus und den damit einhergehenden Folgen zurücktreten müssen, als nur eine Ausnahmegenehmigung mit den vorgesehenen Beschränkungen der Versammlung zu einer ortsfesten Versammlung denkbar sei, um einen adäquaten Infektionsschutz zu gewährleisten. Der Antragsteller selbst habe den H…platz als Veranstaltungsort favorisiert. Bei der Festfestlegung auf 60 Minuten handele es sich um eine epidemiologisch sinnvolle zeitliche Begrenzung.
12
Hinsichtlich der Begründung der übrigen Nebenbestimmungen des Bescheids, die von dem Antragsteller nicht angegriffen werden, wird auf den Inhalt des Bescheids verwiesen.
13
Mit Schriftsatz vom 30.4.2020, bei Gericht eingegangen am gleichen Tag um 15:44 Uhr, hat der Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz bei Gericht eingereicht.
14
Zur Begründung wird ausgeführt, der Bescheid der Antragsgegnerin sei rechts - und verfassungswidrig. Die Antragsgegnerin habe die künstlerische Formation des Antragstellers gänzlich untersagt, indem sie ausschließlich eine stationäre Kundgebung auf dem H…platz genehmigt habe. Eine konkrete Abwägung und Auseinandersetzung mit der schrankenlos gewährleisteten Freiheit der Kunst habe nicht stattgefunden. Die Antragsgegnerin habe verkannt, dass eine künstlerische Formation nicht unter Verweis auf eine Verordnung untersagt werden könne. Art. 5 Abs. 3 GG sei schrankenlos gewährleistet. Die sich auf § 28 InfSG stützende Verordnung könne daher keine rechtliche Grundlage zur Einschränkung des Art. 5 Abs. 3 GG darstellen. Bei einer Grundrechtskollision habe ein Ausgleich, der das Verfassungsrecht der Kunstfreiheit optimal wirksam werden lasse, stattzufinden. Dies sei nicht geschehen. Ein Abstand von 1,5 m sei jedem mündigen Bürger zuzutrauen. Es sei eine reine Behauptung der Antragsgegnerin, dieser Abstand könne bei entsprechenden Passanten und/oder der Öffentlichkeit nicht aufrechterhalten werden. Mit einer konkreten, unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben habe diese Behauptung nichts zu tun. Gleiches gelte für die Behauptung, dass spontan weitere Teilnehmer oder Passanten hinzutreten könnten, die nicht auf die Einhaltung von Abstandsregeln achteten. Es sei zu berücksichtigen, dass derzeit keine Touristen in A… seien und Cafés geschlossen sein. Die Straßen stünden in voller Breite zur Verfügung. Der Antragsteller bedürfe keiner Ausnahmegenehmigung gemäß § 1 Abs. 1 Satz 3 der 2. BayIfSMV. Ein Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ergebe sich insofern bereits aus Art. 5 Abs. 3 GG. Sollte eine Ausnahmegenehmigung erforderlich sein, so handele es sich bei den infektionsschutzrechtlichen Auflagen des Bescheids um Auflagen im Sinne des Art. 36 Abs. 2 Nr. 4 BayVwVfG, die isoliert angefochten werden könnten. Die absolute Untersagung der künstlerischen Formation sei verfassungswidrig. Mildere Mittel seien nicht erwogen worden. Bei den Straßen und Plätzen handele es sich um Straßen, die es räumlich ohne Weiteres ermöglichten, dass sich die angemeldeten 50 Teilnehmer so verteilen, dass der Abstand unabdingbar gewahrt bleibe. Es handele sich nicht um willkürlich gewählte Orte, sondern um die zentralen Orte der Arbeiterbewegung A… Sollte eine andere Straße besser geeignet sein, so sei der Antragsteller gerne bereit, darauf einzugehen. Es sei ohne Weiteres möglich, dass die Straße in voller Breite genutzt werde, sodass ein Abstand zwischen den Teilnehmern der Demonstration in jedem Fall gewahrt sei.
15
Für den Antragsteller wird sinngemäß beantragt,
festzustellen, dass die am 1.5.2020 in der Zeit von 9:00 Uhr bis 14:00 Uhr stattfindende künstlerische Formation „Grün sind die Flure, die Fahne ist rot“ startend in der R…Straße über L… Straße, E…Platz, M…straße, D…platz, G…straße bis zum H…platz keiner Genehmigung bedarf,
hilfsweise die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die am 1.5.2020 von 9:00 Uhr bis 14:00 Uhr geplante künstlerische Formation „Grün sind die Flure, die Fahnen sind rot“ nicht als ortsfeste Versammlung, sondern als Zug beginnend von der R…Straße über L… Straße, E…Platz, M…straße, D…platz, G…straße bis zum H…platz und ohne zeitliche Begrenzung auf 60 Minuten zu genehmigen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag kostenpflichtig abzulehnen.
17
Die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung stehe nach § 1 Abs. 1 Satz 3 der 2. BayIfSMV im Ermessen der zuständigen Behörde. Umstände, welche auf eine Ermessensreduzierung auf Null hindeuteten, seien nicht ersichtlich. Vielmehr habe die Ausnahmegenehmigung nach § 1 Abs. 1 Satz 3 der 2. BayIfSMV nur unter Auflagen erteilt werden können. Bei der erteilten Ausnahmegenehmigung habe die Antragsgegnerin dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ausreichend Rechnung getragen und dennoch die aus Infektionsschutzgründen erforderlichen Maßnahmen/Auflagen vorgesehen. Die Versammlung könne nur mit den beigefügten Auflagen durchgeführt werden, um zugleich den Eintritt von Infektionsgefahren durch die Menschenansammlung zu unterbinden. Eine örtliche Beschränkung einer Versammlung werde von der Rechtsprechung zum Schutz von Leib und Leben der Bevölkerung, insbesondere auch der Versammlungsteilnehmer, der die Versammlung schützenden Volkspolizeivollzugsbeamten sowie von Passanten in Zeiten der Corona-Pandemie als zulässig angesehen (vergleiche beispielsweise VG Schwerin, B.v. 11.4.2020 - 15 B 487/20 SN - juris; VGH Kassel, B. v. 17.4.2020 - 2 B 1031/20 - juris, Rn. 12 f.). Bei einem Versammlungszug bestehe die konkrete Gefahr, dass die zum Infektionsschutz gebotenen Schutzabstände nicht eingehalten werden könnten. Es sei mit Begegnungen mit anderen Fußgängern und Radfahrern sowie mit Stockungen innerhalb des Demonstrationszuges zu rechnen, was eine konkrete Gefahr einer Unterschreitung der Mindestabstände, die zum Infektionsschutz erforderlich seien, berge. Soweit der Antragsgegner sich hinsichtlich der Zulässigkeit der sich bewegenden „künstlerischen Formation“ auf die in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verankerte Kunstfreiheit berufe, könne er damit nicht durchdringen. Ziel der BayIfSMV sei namentlich der Schutz von Leben und körperliche Unversehrtheit, zu dem der Staat prinzipiell auch kraft seiner grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG angehalten sei. Bei der von der Antragsgegnerin durchgeführten Abwägungsentscheidung sei der durch die Beschränkung einhergehende Eingriff in den Schutzbereich der Kunstfreiheit mit den damit einhergehenden Risiken für die Bevölkerung abgewogen worden. Eine Einschränkung auf eine ortsfeste Darbietung sei im Ergebnis unumgänglich. Die gewählte zeitliche Beschränkung der Versammlung sei in der Rechtsprechung anerkannt, da diese kurze Dauer der Versammlung bedinge, dass diese nicht von größeren Menschenmengen besucht werde. Außerdem sei die von dem Antragsgegner erteilte Ausnahmegenehmigung eigentlich erst mit den geplanten Änderungen der Bayerischen Staatsregierung ab dem 4.5.2020 zulässig. Die Antragsgegnerin habe daher die Grundrechte des Antragstellers nicht rechtswidrig beschränkt.
18
Wegen der Einzelheiten wird auf die von der Antragstellervertreterin vorgelegten Unterlagen Bezug genommen.
II.
19
Der Antrag hat im Hauptantrag keinen und im Hilfsantrag teilweisen Erfolg.
20
1. Der Hauptantrag ist zulässig, aber nicht begründet.
21
Im Hauptantrag hat der Antragsteller beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, dafür Sorge zu tragen, dass die am 1. Mai 2020 von 9:00 Uhr bis 14:00 Uhr stattfindende künstlerische Formation startend R…Straße, über L… Straße, E…Platz, M…straße, D…platz, G…straße bis zum H…platz „Grün sind die Flure, die Fahne ist rot“ (Bertolt Brecht, Mai Lied) nicht polizeilich aufgelöst wird. Da nicht ersichtlich ist, woraus sich ein derartiger Anspruch ergeben sollte und da aufgrund des Vorbringens des Antragstellers offenbar wird, dass er der Meinung ist, die geplante Veranstaltung unterfalle als künstlerische Veranstaltung dem Schutzbereich des schrankenlos gewährten Art. 5 Abs. 3 GG und sei daher versammlungsrechtlich nicht genehmigungsbedürftig, legt die Kammer den Antrag entsprechend dem erkennbaren Rechtsschutzziel des Klägers entsprechend den §§ 133, 157 BGB dahingehend aus, dass der Antragsteller festgestellt wissen will, dass die Veranstaltung keiner versammlungsrechtlichen Genehmigung bedarf.
22
So verstanden ist der Antrag als Antrag nach § 123 VwGO statthaft. Er war der war jedoch abzulehnen, da es bereits an einer Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs fehlt.
23
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung).
24
In beiden Fällen hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen.
25
Im Hinblick auf den Hauptantrag fehlt es bereits an einer Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs. Deshalb war der Antrag abzulehnen.
26
Der Antragsteller ist der Auffassung, dass die künstlerische Formation allein der gemäß Art. 5 Abs. 3 GG schrankenlos gewährleisteten Kunstfreiheit unterfalle. Indem die Antragsgegnerin davon ausginge, es handele sich um eine Versammlung, sodass diese dem grundsätzlichen Versammlungsverbot der 2. BayIfSMV unterliege, habe sie dem Grundrecht gem. Art. 5 Abs. 3 GG nicht hinreichend Rechnung getragen.
27
Das Gericht teilt die Auffassung des Antragstellers nicht und kommt zu der Überzeugung, dass es sich bei dem von dem Antragsteller beabsichtigten Zug um eine Versammlung handelt. Maßgeblich dafür, ob eine auf öffentlichen Straßen stattfindende Veranstaltung die Aufführung eines Kunstwerkes ist oder ob es sich um einen Aufzug im Sinne des Versammlungsrechts handelt, ist nicht die subjektive Einschätzung des Veranstalters oder deren Darsteller, sondern eine objektive Beurteilung. Es kommt entscheidend darauf an, dass im Rahmen der Veranstaltung eine freie schöpferische Gestaltung zutage treten soll, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers zur Anschauung gebracht werden.
28
Hieran bestehen erhebliche Zweifel. Das Gericht verkennt nicht, dass im Rahmen der künstlerischen Formation die Darsteller Lieder von Berthold Brecht, seine Gedichte oder Aussagen zitieren werden und ein historischer Lkw aus den Beständen des anachronistischen Zugs als Bühnenkulisse dienen soll. Dies ist jedoch nicht der Hauptzweck der Veranstaltung. Dem Antragsteller kommt es vielmehr darauf an, auf den jährlich wiederkehrenden Mai-Feiertag, dem 1. Mai, als Tag der Arbeiterbewegung Bezug zu nehmen. Das historische Ereignis soll vordergründig der Propagierung einer bestimmten politischen Meinung dienen, sodass der Gebrauch künstlerischer Elemente in den Hintergrund tritt. Aus diesem Grund ist die geplante Veranstaltung des Antragstellers als Versammlung im Sinne des Versammlungsrechts zu beurteilen (BayVGH B.v. 12.09.1980 - 21 CE/CS 80 A 1618).
29
Selbst wenn man annehmen würde, dass es dem Antragsteller nicht nur auf die Propagierung einer politischen Meinung ankommt, sondern gleichermaßen auch auf die freie schöpferische Gestaltung, sind Beschränkungen der Kunstfreiheit zum Schutz anderer Verfassungsgüter möglich.
30
Zwar steht die Kunstfreiheit nicht unter dem Vorbehalt des Gesetzes. Die Kunstfreiheit findet jedoch ihre Grenzen in anderen Bestimmungen des Grundgesetzes, die ein anderes in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützen (vgl. BVerfG, U.v. 17.6.1984 - BvR 816/12 - juris, Rn. 39). Folglich kommen Beschränkungen insbesondere zum Schutz des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Betracht.
31
Der Verordnungsgeber hat mit der 2. BayIfSMV kontrollierte Lockerungen von den weitgehenden Grundrechtseinschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie zugelassen. Dennoch ist aufgrund der dynamischen Situation kontinuierlich zu prüfen, ob aus Gründen des Infektionsschutzes Versammlungen ggf. unter Auflagen stattfinden dürfen.
32
Das Robert Koch-Institut hat sich in seinen Handlungsempfehlungen ausdrücklich dafür ausgesprochen, Veranstaltungen und Versammlungen so weit wie möglich einzugrenzen. Grund hierfür ist, dass insbesondere bei großen Menschenansammlungen das Infektionsrisiko erheblich steigt. Aus diesem Grund ist es zum Schutz der Gesundheit und körperlichen Unversehrtheit der Bevölkerung sowie um zu verhindern, dass das Gesundheitssystem kollabiert, aus infektiologischer Sicht erforderlich, geeignet und verhältnismäßig Versammlungen einzuschränken bzw. Versammlungen nur unter Einhaltung von Auflagen zu genehmigen.
33
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin das ihr zustehende Ermessen im Hinblick auf die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zugunsten des Antragstellers sehr großzügig angewendet hat. § 1 Satz 1 der 2. BayIfSMV sieht landesweit ein grundsätzliches Veranstaltungs- und Versammlungsverbot vor. Auf Antrag kann die zuständige Kreisverwaltungsbehörde Ausnahmegenehmigungen erteilen, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist, § 1 Satz 3 der 2. BayIfSMV. Die 2. BayIfSMV tritt mit Ablauf des 3.5.2020 außer Kraft. Der Ministerrat hat den Plänen des Gesundheitsministeriums, dass die Maßnahmen zunächst um eine Woche bis 10.5.2020 verlängert werden, zugestimmt. Zugleich sind weitere Lockerungen, insbesondere im Hinblick auf Versammlungen, unter Einhaltung von Maßnahmen, die das Infektionsrisiko reduzieren, vorgesehen. Beispielsweise sollen künftig, ab 4.5.2020 Veranstaltungen zulässig sein
- mit einer maximalen Teilnehmerzahl von 50,
- bei grundsätzlichem Mindestabstand von 1,5 m,
- ohne Verteilung von Flyern und
- wenn die Veranstaltung im Freien stattfindet und ortsfest ist.
34
Bereits im Vorgriff auf diese Regelungen, die erst ab dem 04.05.2020 in Kraft treten werden, wurden die zuständigen Behörden, insbesondere im Hinblick auf den 1. Mai, gebeten, die künftigen Vorschriften ab sofort im Rahmen ihrer Ermessensentscheidungen zu berücksichtigen, um die Bedeutung der Versammlungsfreiheit hinreichend zu würdigen.
35
Aus den genannten Gründen durfte auch die Kunstfreiheit im konkreten Fall zum Schutz des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit während der Corona-Pandemie beschränkt werden.
36
Nach alledem war der Hauptantrag abzulehnen.
37
2. Der Antragsteller hat im Hilfsantrag beantragt, die aufschiebende Wirkung der noch zu erhebenden Klage gegen die Auflagen unter II. 1. und II. 3. anzuordnen. Dieser Antrag ist jedoch nicht zielführend. Im Ergebnis geht es dem Antragsteller darum, die geplante Veranstaltung in der von ihm beantragten Form als Aufzug durchführen zu dürfen und ohne die zeitliche Begrenzung auf 60 Minuten. Dieses Ziel könnte er in der Hauptsache nicht mit einer isolierten Anfechtung der diesbezüglich abweichenden Nebenbestimmungen in den Nrn. II. 1. und II.3. des streitgegenständlichen Bescheids erreichen. Ohne diese Festlegungen wäre der Bescheid nicht mehr sinnvoll und nicht vollziehbar. In der Hauptsache wäre daher bezüglich der beiden Nebenbestimmungen eine Verpflichtungsklage zu erheben, um das Rechtschutzziel erreichen zu können. Dementsprechend war der Hilfsantrag nach dem erkennbaren Rechtsschutzziel des Antragstellers in entsprechender Anwendung der §§ 133, 157 BGB als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auszulegen, und zwar mit dem Ziel, die Versammlung als Aufzug - wie beantragt - und in der Zeit von 9:00 Uhr bis 14:00 Uhr durchführen zu dürfen.
38
Ein Anordnungsgrund ist hier ohne weiteres gegeben. Die vom Antragsteller geplante Veranstaltung soll am 1.5.2020 - also bereits morgen - stattfinden. Da es sich um eine Kundgebung zum 1. Mai handelt, ist ein späterer Zeitpunkt auch nicht möglich.
39
Ein Anordnungsanspruch besteht jedoch nur hinsichtlich der zeitlichen Begrenzung der Versammlung, nicht jedoch im Hinblick auf die Durchführung der Versammlung als Aufzug.
40
Die von der Antragsgegnerin festgesetzten Auflagen beruhen auf § 1 Abs. 1 Satz 3 der 2. BayIfSMV. Danach können Ausnahmen von dem in § 1 Abs. 1 Satz 1 der 2. BayIfSV geregelten Versammlungsverbot von der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde erteilt werden, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist.
41
a) Im Hinblick auf den 1. Teil des Hilfsantrags - die Versammlung in Form eines Aufzugs durchführen zu dürfen - ist ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin hat im streitgegenständlichen Bescheid ausführlich dargelegt, warum die Veranstaltung nur als ortsfeste Versammlung genehmigt worden ist. Insbesondere hat die Antragsgegnerin dargestellt, dass aufgrund der engen Straßenverhältnisse in der A… Altstadt nicht sichergestellt werden kann, dass zwischen den Darstellern, den weiteren Teilnehmern der Veranstaltung und Passanten der infektionsschutzrechtlich erforderliche Sicherheitsabstand von mindestens 1,5 m zu jeder Zeit eingehalten werden kann. Aus Gründen des Gesundheitsschutzes ist die Einhaltung dieses Mindestabstands aber zwingend erforderlich. Den Mitgliedern der zur Entscheidung berufenen Kammer sind die örtlichen Verhältnisse in der A… Altstadt bekannt. Bedenkt man darüber hinaus, dass bei dem Aufzug ein historischer Lkw mitgeführt werden soll, verschärft dies die Situation zusätzlich, da dieses große Fahrzeug in den engen Straßen und Gassen der Altstadt Platz beansprucht, der den Teilnehmern der Versammlung und auch den Passanten dann nicht mehr zur Verfügung steht. Aus Sicht der zur Entscheidung berufenen Kammer wird es daher nicht möglich sein, den Mindestabstand von 1,5 m einhalten zu können. Die Unterschreitung dieses Mindestabstandes ist jedoch unbedingt erforderlich, um die Gesundheit der Versammlungsteilnehmer, der Passanten und der Bevölkerung insgesamt zu schützen.
42
Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist das Gericht diesbezüglich gemäß § 117 Abs. 5 VwGO vollumfänglich auf die ausführliche Begründung des streitgegenständlichen Bescheids, der das Gericht folgt.
43
b) Im Hinblick auf den 2. Teil des Hilfsantrags - die Zeit für die Veranstaltung zwischen 9:00 Uhr und 14:00 Uhr festzusetzen - ist ein Anordnungsanspruch auch glaubhaft gemacht. Hier ist die Antragsgegnerin im Ergebnis davon ausgegangen, dass eine Dauer der Veranstaltung über 60 Minuten hinaus infektionsschutzrechtlich nicht vertretbar erscheint. Zur Begründung wird insoweit jedoch lediglich auf ein Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration vom 24.4.2020 verwiesen. Für das Gericht ist jedoch in keinster Weise erkennbar, wie sich diese Zeitdauer infektionsschutzrechtlich begründen lässt. COVID-19 wird durch eine Tröpfcheninfektion verbreitet, sodass infektionsschutzrechtlich wohl das entscheidende Kriterium das Halten von genügend Abstand zwischen den Veranstaltungsteilnehmern und auch zwischen den Teilnehmern und Passanten ist. Wenn der geforderte Mindestabstand eingehalten wird, ist es jedoch unerheblich, über welchen Zeitraum sich eine Versammlung erstreckt. Die Beschränkung der Zeitdauer der Veranstaltung auf eine Stunde ist daher zum Schutz von Leben und Gesundheit der Versammlungsteilnehmer und von dritten Personen nicht erforderlich und greift daher rechtswidrig in die Grundrechte der Art. 5 Abs. 3, Art. 8 GG ein.
44
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO.
45
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG in Verbindung mit den Empfehlungen des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Nach Nr. 45.4 des Streitwertkatalogs ist im Falle des Vorgehens gegen Auflagen im Rahmen einer Versammlung im Hauptsacheverfahren der halbe Aufgangwert festzusetzen. Grundsätzlich ist dieser Wert zwar in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu halbieren. Wird jedoch die Entscheidung in der Hauptsache ganz oder zum Teil vorweggenommen, so kann der Streitwert bis zur Höhe des Hauptsachestreitwerts angehoben werden. Hiervon macht die Kammer vorliegend Gebrauch.