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VG München, Beschluss v. 08.04.2020 – M 5 E 19.51331
Titel:

Berufung auf die Vorschriften der Dublin III-VO zur Familienzusammenführung bei einer bewussten Trennung von Familienmitgliedern rechtsmissbräuchlich

Normenketten:
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8 Abs. 1
GRCh Art. 7, Art. 24
VwGO § 123
Dublin III-VO Art. 10, Art. 17
Leitsätze:
1. Art. 10 Dublin III-VO ist nicht bis zu einer bestandskräftigen Asylentscheidung anwendbar. (Rn. 4)
2. Art. 17 Dublin III-VO ist nicht drittschützend, Asylantragsteller können sich auf diese Norm nicht berufen. (Rn. 10)
3. Erfolgt eine bewusste Trennung von Familienmitgliedern in einem Staat des Dublin-Abkommens, so stellt die Berufung auf die Vorschriften der Dublin III-VO zur Familienzusammenführung einen Rechtsmissbrauch dar. (Rn. 6 – 8)
Schlagworte:
Asyl, Dublin, Familienzusammenführung, Missbräuchlich Inanspruchnahme, Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (abgelehnt), Asylverfahren, bewusste Trennung von Familienmitgliedern, Rechtsmissbrauch, Dublin-Verfahren
Fundstellen:
BayVBl 2020, 533
BeckRS 2020, 7382
LSK 2020, 7382

Tenor

Das Bundesverfassungsgericht hat die gegen den Beschluss erhobene Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG, B.v. 8.4.2020, 2 BvR 451/20)

Tatbestand

Sachverhalt:
1
Die Antragsteller sind Mitglieder einer fünfköpfigen afghanischen Familie. Die Familie sei Ende August bzw. Anfang September 2018 illegal in Griechenland eingereist und habe zunächst keinen Asylantrag gestellt. Ein Antragsteller (Sohn) sei zunächst allein im Januar 2019 illegal nach Deutschland eingereist, eine Antragstellerin (Mutter) im März 2019. Die Familie sei nicht zusammen nach Deutschland gereist, weil ein Schleuser gesagt habe, dass das nicht möglich sei. Die beiden Antragsteller in Deutschland stellten im März 2019 Asylanträge. Ein Übernahmeersuchen Deutschlands an Griechenland hinsichtlich der Antragsteller wurde nicht gestellt. Der Ehemann und die beiden anderen Kinder der Familie verblieben in Griechenland und stellten dort im Februar 2019 Asylanträge. Die Antragsteller beantragten im Rahmen ihres Asylverfahrens die Familienzusammenführung in Deutschland. Auch die griechischen Behörden stellten hinsichtlich der in Griechenland verbliebenen Familienmitglieder ein Übernahmegesuch an Deutschland. Das Bundesamt lehnte dieses Ersuchen mit Schreiben vom 5. Juni 2019 und erneut vom 2. Juli 2019 ab. Die Antragsteller hätten vor Einreichung des Antrags auf internationalen Schutz mehr als fünf Monate in Griechenland gelebt, sodass Griechenland zuständig sei. Die Asylanträge der beiden Antragsteller in Deutschland wurden vom Bundesamt im Dezember 2019 abgelehnt, hiergegen wurde Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Der Antrag der Antragsteller, die Bundesrepublik Deutschland im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sich unter Aufhebung der Ablehnungen der Übernahmeersuchen des Griechischen Migrationsministeriums für die Asylanträge der in Griechenland verbliebenen Familienmitglieder für zuständig zu erklären, blieb erfolglos.

Gründe

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1. … Das Gericht kann im Rahmen eines Verfahrens nach § 123 VwGO grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang, wenn auch nur auf beschränkte Zeit und unter Vorbehalt einer Entscheidung in der Hauptsache, das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte. Dieses sog. Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsache steht einer Anordnung nach § 123 VwGO aber ausnahmsweise dann nicht entgegen, wenn diese zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes geboten ist und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist (BVerwG, U.v. 18.4.2013 - 10 C 9/12 - NVwZ 2013, 1344, Rn. 22).
3
2. Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). …
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a) Nach Art. 10 Dublin III-VO ist, wenn ein Antragsteller in einem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen hat, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun. … Entgegen der Ansicht der Antragsteller (so auch: OVG BbG, B.v. 3.9.2019 - OVG 6 N 58.19 - juris Rn. 10 ff.; VG Berlin, B.v. 7.5.2018 - 34 L73.18 A - juris-Rn. 8 ff.; Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 27a AsylVfG Rn. 38; Hruschka in Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2018, § 12 Rn. 108; Koehler, Praxiskommentar zum Europäischen Asylzuständigkeitssystem, Art. 10 Dublin III-VO Rn. 12), ist die in Art. 10 Dublin III-VO verwendete Wendung „keine Erstentscheidung in der Sache“ dahingehend auszulegen, dass sich die Zuständigkeit der Antragsgegnerin auf Familienangehörige eines Antragstellers - hier der Antragsteller zu 1) und 2) - nur solange erstreckt, bis die Entscheidung gegenüber diesem Antragsteller nach den einschlägigen Vorschriften wirksam, d.h. insbesondere bekanntgegeben wurde. Die Bestandskraft des Bescheids ist hingegen nicht erforderlich (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, Stand: 1. Februar 2014, Art. 10 K3; wohl ebenso Heusch in Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 1. Aufl. 2016, Rn. 254; VG München, B.v. 15.6.2018 - M 18 S 18.50523; B.v. 12.9.2019 - M 19 S7 19.50715 - juris Rn. 13 ff.).
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Für dieses Verständnis der Norm spricht zunächst der Wortsinn. … Unterstrichen wird dieses Ergebnis durch einen systematischen Vergleich mit anderen Vorschriften der Verordnung, die bewusst auf Bestands- bzw. Rechtskraft abstellen. So ist in Art. 2 Buchst. c) Dublin III-VO die Rede von einem Antrag auf internationalen Schutz, „über den noch nicht endgültig entschieden wurde“, in Art. 24 Abs. 2 Dublin III-VO von einer Ablehnung „durch eine endgültige Entscheidung“ und in Art. 29 Abs. 1 von einer „endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf“. Diese Vorschriften sind nach ihrem Wortsinn so zu verstehen, dass es auf die jeweils endgültige und damit also bestandskräftige behördliche Entscheidung ankommt. Angesichts dessen, dass Bestandskraftüberlegungen dem Verordnungsgeber bekannt waren, ist davon auszugehen, dass es in Art. 10 Dublin III-VO, der insoweit erkennbar anders formuliert ist, auf eine Bestandskraft gerade nicht ankommen soll. … Dieses Auslegungsergebnis ist auch sachlich gerechtfertigt. Die gemeinsame Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz der Mitglieder einer Familie durch ein und denselben Mitgliedstaat ermöglicht genauere Prüfungen der Anträge und kohärente damit zusammenhängende Entscheidungen (so Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, Stand: 1. Februar 2014, Art. 10 K2; vgl. Erwägungsgrund 15 der Verordnung). Dieses Ziel der Verfahrensstraffung (vgl. Günther in BeckOK AuslR, 22. Ed., Stand: 1.5.2019, § 29 AsylG Rn. 47) und der besonders informierten Entscheidungsfindung durch Einbeziehung sämtlicher Familienangehöriger wird jedoch in dem Zeitpunkt obsolet, in dem die Antragsgegnerin über einen Antrag (hier der Antragsteller zu 1) und 2)) bereits entschieden hat. … Eine andere Auslegung ist auch nicht mit Blick auf den Schutz der Familie (durch Vermeidung der räumlichen Trennung) geboten (vgl. hierzu ebenfalls Erwägungsgrund 15). Die erweiterte Ausnahmezuständigkeit des Mitgliedsstaats bleibt damit zeitlich eng(er) begrenzt (vgl. zum Ganzen auch: VG München, B.v. 12.9.2019 - M 19 S7 19.50715 - juris Rn. 13 ff.).
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b) Im Übrigen ist es den Antragstellern verwehrt, sich auf die Regelungen der Dublin III-VO hinsichtlich der Schaffung der Familieneinheit zu berufen. Die Voraussetzungen für die Berufung auf die Regelung zur Wahrung bzw. Herbeiführung der Familieneinheit von Asylverfahren derselben Familie in einem Mitgliedstaat wurden von den Antragstellern bewusst geschaffen. Das stellt einen Rechtmissbrauch dar.
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Sowohl nach nationalen Vorschriften aber auch europarechtlich ist anerkannt, dass eine Rechtsposition versagt werden kann, wenn sie rechtsmissbräuchlich erworben wurde (vgl. etwa BVerwG, B.v. 24.4.2008 - 1 C 20.07 - juris Rn. 35; OVG BbG, B.v. 5.7.2012 - OVG 3 B 40.11 - juris Rn. 23). Dies setzt zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung unionsrechtlicher Bedingung das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde. Zum anderen setzt sie ein subjektives Element voraus, nämlich die Absicht, sich einem unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden (vgl. nur: Schlussantrag des Generalanwalts Wathelet in C-534/11, Rdnr. 73 ff. unter Hinweis auf EuGH, U.v. 9.3.1999 - C-212/97; U.v. 14.12.2000 - C-110/99; vgl. zum Ganzen auch VG Cottbus, B.v. 26.2.2014 - 3 L 303/13.A - juris Rn. 17).
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Das Ziel der Dublin III-VO, eine rasche Bestimmung des für einen Asylantrag zuständigen Mitgliedstaats zu ermöglichen (Erwägungsgrund 5 der Dublin III-VO), wurde durch das Vorgehen der Antragsteller vereitelt. Es sind keine sachlichen Gründe dafür vorgetragen oder ersichtlich, warum sich die Familie seit Ende August bzw. September 2019 in Griechenland aufgehalten hat, dort aber keinen Asylantrag gestellt hat. Vielmehr hat sich die Familie getrennt, damit einige Mitglieder im „Wunschziel“ Deutschland einen Asylantrag stellen. Damit haben sie willkürlich die Voraussetzungen für das Berufen auf die Regelungen zur Beachtung der Familieneinheit im Asylverfahren herbeigeführt, was den Zielen der Regelung nicht entspricht. In einem solchen Fall kann der gewichtige Grundsatz der Familieneinheit (Erwägungsgrund 15 der Dublin III-VO) nicht zur Geltung kommen. … Systemische Mängel des griechischen Asylsystems werden von den Antragstellern nicht vorgetragen. Solche sind auch - jedenfalls auf dem Festland - nicht ersichtlich. Gerade in der jüngeren Zeit hat sich die Lage der Flüchtlinge in Griechenland - jedenfalls auf dem Festland - verbessert (Empfehlung der Europäischen Kommission vom 8. Dezember 2016; vgl. hierzu etwa VG München, B.v. 23.7.2019 - M 5 S 19.50682 - juris Rn. 15 ff.).
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c) Die Zuständigkeit ergibt sich auch nicht aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO.
10
Die Antragsteller können sich nicht auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO berufen, da diese Vorschrift nicht drittschützend ist. Ein subjektives Recht der Antragsteller auf ermessensfehlerfreie Anwendung des Art. 17 Abs. 2 Dublin III VO, lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen. Einem solchen Klagerecht gegenüber dem ersuchten Mitgliedstaat steht neben dem eindeutigen Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO auch dessen Sinn und Zweck entgegen. Die Bestimmung soll allein eine Rechtsgrundlage für ein Aufnahmeersuchen eines Mitgliedstaates an einen anderen bieten. Zudem sollen nach dem Willen des Verordnungsgebers Probleme bei der Anwendung des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO allein im Wege des Schlichtungsverfahrens zwischen den Mitgliedstaaten nach Art. 37 Dublin III-VO gelöst werden (vgl. zum Ganzen: VG Schleswig, B.v. 28.1.2020 - 13 B 1/20, juris Rn. 18 ff.; VG Berlin 18.4.2019 - 9 L 77.19, juris Rn. 14; Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, Stand: 1. Februar 2014, Art. 17, K20. f.; a.A. VG Berlin, B.v. 17.6.2019 - 23 K L 293.19 A, juris Rn. 22; Pertsch, Asylmagazin 8-9/2019, 287/294; ausdrücklich offen gelassen: BVerwG, B.v. 2.7.2019 - 1 AV 2.19, juris Rn. 12). … Darüber hinaus liegen die Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO auch nicht vor, da keine humanitären Gründe für die Übernahme der in Griechenland befindlichen Antragsteller glaubhaft gemacht wurden.
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Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO soll vor allem dazu dienen, eine Trennung von Familienangehörigen, die sich aus einer strikten Anwendung der Zuständigkeitskriterien ergeben kann, zu verhindern oder rückgängig zu machen. (vgl. VG Gelsenkirchen, B.v.4.9.2019 - 14a L 1223/19.A, juris; Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, Stand: 1. Februar 2014, Art. 17 K14). Dagegen dient Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nicht dazu, Familienmitglieder zusammenzuführen, die sich allein deshalb getrennt haben, um in einen anderen, „attraktiveren“ Mitgliedstaat zu gelangen.
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Die Entscheidung der Antragsgegnerin, keinen Gebrauch von ihrem Selbsteintrittsrecht zu machen, da die Trennung auf einer eigenverantwortlichen Entscheidung der Familie beruht habe, ist schon nicht ermessensfehlerhaft.
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Im Übrigen liegt auch ein Härtefall nicht vor. … Vielmehr haben die Antragsteller Griechenland freiwillig verlassen, um ihren Asylantrag in Deutschland zu stellen, und haben damit die unterschiedlichen Zuständigkeiten selbst und bewusst herbeigeführt.
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Im Übrigen gelten die oben stehenden Ausführungen zur missbräuchlichen Berufung auf die Regelungen zur Schaffung der Familieneinheit nach dem Dublin-System auch für Art. 17 Dublin III-VO.
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d) Die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich auch nicht aus Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO. Das Bundesamt hat das Übernahmeersuchen der griechischen Behörden vom 20. Mai 2019 fristgerecht binnen der Zweimonatsfrist des Art. 22 Abs. 1 Dublin III-VO mit Schreiben vom 5. Juni 2019 abgelehnt. Der Antrag der griechischen Behörden vom 24. Juni 2019 auf erneute Überprüfung der Entscheidung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. EG Nr. L 222, S. 3-23), wurde fristgemäß innerhalb von drei Wochen nach Erhalt der ablehnenden Antwort gestellt. Das Bundesamt hat jedoch auch diesen Antrag fristgerecht innerhalb von zwei Wochen nach Erhalt des Antrags mit Schreiben vom 2. Juli 2019 abgelehnt.