Inhalt

LG Aschaffenburg, Endurteil v. 05.08.2020 – 31 O 267/19
Titel:

Abschalteinrichtung, Sittenwidrigkeit, Nachfristsetzung, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Elektronischer Rechtsverkehr, Elektronisches Dokument, Anwartschaftsrechte, Nacherfüllung, Subjektive Voraussetzungen, Darlehensverträge, Fallgestaltungen, Streitwert, Nebenforderungen, Gesetzesverstoß, Gewährleistungsansprüche, Gerichtsbekanntheit, Kostenentscheidung, Anderweitige Erledigung, Nutzungsentschädigung, Zug-um-Zug

Schlagworte:
Rücktrittsrecht, Nachfristsetzung, Arglistige Täuschung, Unzulässige Abschalteinrichtung, Sittenwidriges Verhalten, Schutzgesetz, Irreführende Werbung
Rechtsmittelinstanzen:
OLG Bamberg, Hinweisbeschluss vom 06.05.2022 – 10 U 72/21
OLG Bamberg, Beschluss vom 31.05.2022 – 10 U 72/21
BGH Karlsruhe, Urteil vom 12.11.2024 – VIa ZR 906/22
Fundstelle:
BeckRS 2020, 65004

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 72.020,30 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Klägerin macht mit der Klage Ansprüche aus Rückabwicklung eines Kaufvertragsverhältnisses bzw. Schadenersatzansprüche wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung bzw. deliktischem Handeln im Zusammenhang mit dem Kauf eines von der Beklagten entwickelten PKWs mit Dieselantrieb geltend.
2
Die Klägerin schloss mit der Beklagten am 28.09.2017 (Anlage K1, Bl. 62) einen Kaufvertrag über ein Neufahrzeug … (lang). Auf den Kaufpreis von 75.472,18 € leistete die Klägerin eine Anzahlung von 26.000,- €, im Übrigen wurde der Kaufpreis darlehensfinanziert, wobei die Klägerin mit der … unter Vermittlung des Fahrzeughändlers den Darlehensvertrag vom 04.10.2017 (Anlage K2, Bl. 51) abschloss. Das Fahrzeug wurde in der Folgezeit an die Klägerin übergeben und an die … sicherungsübereignet. In den Darlehensbedingungen ist u.a. geregelt, dass die Klägerin „folgende – gegenwärtige und zukünftige – Ansprüche an die Darlehensgeberin ab [tritt] … gegen die … … gleich aus welchem Rechtsgrund. Ausgenommen von der Abtretung sind Gewährleistungsansprüche aus Kaufvertrag …“ (vgl. Bl. 58) .
3
Das streitgegenständliche Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten hergestellten und entwickelten Dieselmotor OM 651 ausgestattet, verfügt über einen SCR-Katalysator und unterliegt der Abgasnorm Euro 6. Zur Reduzierung der Stickoxidemissionen wird unter anderem eine Abgasrückführung eingesetzt. Hierbei wird ein Teil des Abgases zurück in das Ansaugsystem des Motors geführt und nimmt erneut an der Verbrennung teil. Die Rückführung von Abgas in das Ansaugsystem wird jedoch bei Überschreiten gewisser Temperaturen (hohe Temperaturen wie auch niedrige Temperaturen der Umgebungsluft) zunächst reduziert und schließlich mit zunehmender Gradzahl (+ oder –) abgeschaltet.
4
Das Fahrzeug verfügt über eine EG-Typengenehmigung. Ein wirksamer Widerruf dieser bestandskräftigen EG-Typengenehmigung liegt nicht vor.
5
Das Fahrzeug unterliegt einer – nicht bestandskräftigen – Anordnung von nachträglichen Nebenbestimmungen durch das Kraftfahrbundesamt, wobei ein Software-Update vorgesehen ist.
6
Mit der Klageschrift hat die Klägerin gegenüber der Beklagten den Rücktritt vom Kaufvertrag erklärt (Bl. 10).
7
Eine Frist zur Nacherfüllung hat die Klägerin vor Erklärung des Rücktritts nicht gesetzt.
8
Das Fahrzeug wurde nach dem Kauf von der Klägerin weitergenutzt. Der Kilometerstand am 06.07.2020 betrug 34.576 km.
9
Die Klägerin trägt im Wesentlichen vor, die beschriebene Motorsteuerungssoftware stelle eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinn des Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 dar. Die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems und des SCR-Systems werde an die Fahr- und Umweltbedingungen angepasst und initiiere einen angepassten und dadurch erhöhten Schadstoffausstoß. Dieses „Thermofenster“ stelle ein unzulässige Abschalteinrichtungen dar. Eine Ausnahme nach Artikel 5 Abs. 2 Satz 2 lit a VO (EG) 715/2007 sei nicht zu erkennen.
10
Selbst im Falle eines etwaigen Software-Updates stehe zu befürchten, dass dieses nicht erfolgreich sei und zu Folgeschäden, z.B. in Form der negativen Auswirkungen auf die übrigen Emissionswerte, den Kraftstoffverbrauch und die Motorleistung führe.
11
Hätte die Klägerin von der unzulässigen Abschalteinrichtung gewusst, hätte sie vom Kauf abgesehen.
12
Die Manipulationen seien im Konzern und den Leitungsgremien und Organen der Beklagten bekannt gewesen. Es sei davon auszugehen, dass eine so wichtige Entscheidung, wie die Entwicklung und der Einbau einer Manipulationssoftware mit Wissen und Wollen des Vorstands der Beklagten erfolgt sei.
13
Die Klägerin ist der Auffassung, dass eine Nachfristsetzung entbehrlich sei, da eine solche unzumutbar sei, da die Beklagte als Verkäuferin die Käuferin über die Manipulation getäuscht habe und damit arglistig gehandelt habe. Im Übrigen wäre der Mangel unbehebbar.
14
Die Klägerin meint, bezüglich der Nutzungsentschädigung sei eine Gesamtlebensdauer des Fahrzeugs von 300.000 km anzusetzen.
15
Die Klägerin sei auch hinsichtlich der Ansprüche aus dem Rückgewährschuldverhältnis aktivlegitimiert. Es handele sich nur um eine stille Zession, so dass die Klägerin zur Einziehung der Forderung berechtigt und in der Regel ermächtigt sei. Die Darlehensbedingungen stellten AGBs dar, wobei eine Klausel, die eine vollumfängliche Abtreutung an die Bank vorsehen würden, gem. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB unwirksam sei.
16
Die Klägerin beantragt,
1.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei 24.823,98 EUR sowie Zinsen in Höhe von 2.971,32 EUR, nebst weiterer Zinsen aus 33.486,93 EUR in Höhe von 4 Prozent pro Jahr seit dem 27.06.2020 zu zahlen, und die Klagepartei von den aktuell noch bestehenden Verbindlichkeiten gegenüber der … aus dem Darlehensvertrag zur Darlehensvertragsnummer … in Höhe von derzeit noch 44.037,56 EUR freizustellen, Zug um Zug gegen Übergabe des Fahrzeuges … mit der Fahrzeugidentifikationsnummer … und Übertragung des der Klagepartei gegenüber der … zustehenden Anwartschaftsrechts auf Übereignung des vorstehend bezeichneten Fahrzeuges.
2.
Es wird festgestellt, dass sich die beklagte mit der Annahme des in Ziffer 1 genannten Fahrzeugs zwei Wochen nach Rechtshängigkeit in Annahmeverzug befindet.
17
Die Beklagte beantragt,
Die Klage wird abgewiesen.
18
In Höhe eines ursprünglich in Ziffer 1 geforderten Mehrzahlbetrags von 60,72 € und eines Mehrfreistellungsbetrags in Höhe von 3.098,04 € hat die Klägerin die Klage für erledigt erklärt. Die Beklagte hat der Erledigterklärung widersprochen.
19
Die Beklagte trägt im Wesentlichen vor, hinsichtlich der Ansprüche bestehe schon keine Aktivlegitimation, da die Ansprüche an die … abgetreten seien.
20
Im streitgegenständlichen Fahrzeug werde insbesondere keine Programmierung, auch keine Motorsteuerungssoftware oder unzulässige Abschalteinrichtung verwendet, die – manipulativ – so gestaltet worden wäre, dass auf der Straße unter normalen Betriebsbedingungen ein anderes Emissionsverhalten des Emissionskontrollsystems angestrebt wird als auf dem Prüfstand. Weiterhin sei keine Software verbaut, die darauf angelegt sei, den Prüfstand zu erkennen. Sowohl die gesetzlichen Grenzwerte der Euro-6-Norm als auch die für das Fahrzeugmodell ausgewiesenen Emissionswerte seien stets mit detailliert normierten Prüfbedingungen verknüpft, so dass es ohne Relevanz sei, welches Emissions- und Verbrauchsverhalten das Fahrzeug außerhalb der maßgeblichen gesetzlichen Prüfbedingungen habe.
21
Es treffe zwar zu, dass bei der Abgasrückführung ein Teil des Abgases zurück in das Ansaugsystem des Motors geführt werde und erneut an der Verbrennung teilnehme. Die Rückführung von Abgas in das Ansaugsystem des Motors sei bezüglich ihrer Einsatzmöglichkeiten jedoch begrenzt. Die Abgasrückführung erfolge zum Teil vor dem Abgasnachbehandlungssystem, weshalb das rückgeführte Abgas noch Kohlenwasserstoffe und Partikel enthalte. Findet die Rückführung bei zu niedrigen Temperaturen statt, so komme es zu Kondensation der Abgasbestandteile im Abgasrückführkühler und damit zur Versottung. Bei wiederholtem Betrieb des Motors in diesem Zustand setze sich das Abgasrückführungssystem zu und führe zu einer dauerhaften Schädigung bis hin zum totalen Motorausfall.
22
Das SCR-System arbeite lediglich in Abhängigkeit der äußeren Bedingungen, wobei die Dosierung von AdBlue u.a. von der Beanspruchung des Motors, der Abgastemperatur und der Außentemperartur abhänge, jedoch die unterschiedliche Dosierung von der Optimierung des Systems bei unterschiedlichen Bedingungen abhänge und nicht von einer Prüfstandsanordnung.
23
Das klägerseits angesprochene Softwareupdate sei vom KBA geprüft und freigegeben. Es bestünden keine negativen Auswirkungen durch das Software-Update.
24
Hinsichtlich der Einzelheiten des Parteivorbringens wird ergänzend auf die ausgetauschten Schriftsätze sowie das Protokoll zur mündlichen Verhandlung vom 06.07.2020 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
25
Die zulässige Klage ist in vollem Umfang unbegründet und war deshalb vollumfänglich abzuweisen.
26
Dem Kläger steht mangels Rücktrittsrechts kein Anspruch aus einem Rückgewährschuldverhältnis und auch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch gegen die Beklagte auf Schadensersatz in Form der Erstattung des Kaufpreises für das Fahrzeug bzw. Freistellung Zug um Zug gegen Herausgabe des Fahrzeugs und auch nicht der geltend gemachte Feststellungsanspruch bzw. die geltend gemachten Nebenforderungen zu.
27
1. Ein Anspruch aus §§ 346 BGB i.V.m. 437 Nr. 2, 440, 323 BGB scheitert unanbhängig von der Frage, ob die Klägerin für einen solchen Anspruch überhaupt aktivlegitimiert ist, jedenfalls daran, dass es an einer gem. § 437 Nr. 2 i.V.m. 440 BGB erforderlichen Nachfristsetzung fehlt.
28
Eine Nachfrist wurde unstreitig nicht gesetzt. Nacherfüllung wurde vor dem erklärten Rücktritt auch nicht endgültig verweigert.
29
Auch im Übrigen liegen die Voraussetzungen für die Entbehrlichkeit einer Nachfristsetzung nicht vor.
30
a) Soweit sich die Klägerin darauf beruft, dass die Beklagte arglistig gehandelt hat, da sie ihr den Einbau der manipulierten Software verschwiegen und bei dem Einbau arglistig gehandelt habe, kann sie damit nicht durchdringen. Das klägerseits behauptete Verhalten unterfällt nicht einem arglistigen Verhalten.
31
Eine arglistige Täuschung liegt dann vor, wenn der Verkäufer arglistig vorspiegelt und vertraglich versichert, dass die Sache eine Eigenschaft hat, die sie – wie der Verkäufer weiß – in Wahrheit nicht hat (BeckOGK/Arnold, 1.5.2020, BGB § 438 Rn. 167).
32
Dass die Beklagte aber insoweit vorsätzlich gehandelt hat, dass sie selbst davon ausgegangen ist zum Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses, dass eine unzulässige Abschalteinrichtung vorliegt, ist nicht ausreichend dargetan. Soweit die Klägerin den Einsatz einer manipulierten Software behauptet und darauf die Arglist stützt, ist zunächst klarzustellen, dass sich die Fallgestaltung deutlich und entscheidend vom Einsatz einer Motorsteuerungssoftware, die zielgerichtet den Prüfstandslauf erkennt und dann in einen völlig anderen Betriebsmodus schaltet, unterscheidet. Die Fallgestaltung eines sog. „Thermofensters“ unterscheidet sich signifikant von der Fallgestaltung einer „Schummelsoftware“ in Form einer Umschaltlogik, wie sie Gegenstand der im Jahr 2015 bei einem anderen Hersteller gerichtsbekannt aufgedeckten Geschehnisse ist. Dabei hat dieser Hersteller nämlich nicht nur gesetzliche Abgaswerte außer Acht gelassen, sondern mit der Abschalteinrichtung ein System zur planmäßigen Verschleierung seines Vorgehens gegenüber den Aufsichtsbehörden und den Verbrauchern geschaffen.
33
Im vorliegenden Fall ist nichts zu den subjektiven Voraussetzungen eines arglistigen Handelns von Substanz vorgetragen: So hätten über die schlichte Kenntnis von der Verwendung des „Thermofensters“ hinaus auch konkrete und substantiierte Anhaltspunkte dafür vorgetragen werden müssen, dass dies bei der Beklagten zugleich mit dem Bewusstsein geschehen ist, gegen gesetzliche Vorschriften zu verstoßen, und dass dieser Gesetzesverstoß zumindest billigend in Kauf genommen wurde. Aus den vorgetragenen Umständen kann nicht geschlossen werden, dass ein solches Bewusstsein bei den Organen der Beklagten vorlag. Vielmehr ist angesichts der äußerst kontroversen Diskussionen über die Zulässigkeit des „Thermofensters“ eine Auslegung dahingehend, dass ein „Thermofenster“ eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, jedenfalls nicht unvertretbar, so dass auch unter diesem Aspekt ein zumindest bedingt vorsätzliches Handeln der Beklagten fern liegt.
34
Gleiches gilt zu dem Vortrag zur Dosierung der AdBlue-Menge im SCR-System. Auch wenn die Klägerseite aus dem eigenen Vortrag der Beklagtenseite schlussfolgern will, dass diese selbst zwei Modi und damit einen sauberen und einen „schmutzigen“ Modus geschaffen habe, kann aus dem klägerseits herangezogenen Beklagtenvortrag gerade nicht gefolgert werden, dass diese zwei Modi abhängig von der Erkennung einer Prüfstandsumgebung sind. Umstände hierfür sind nicht dargetan und insbesondere aus dem eigenen Vortrag der Beklagten nicht ersichtlich. b)
35
Weiterhin ist klägerseits auch nicht substantiiert dargetan, dass eine Nacherfüllung unmöglich wäre. Soweit sie sich darauf beruft, dass zu befürchten sei, dass ein Software-Update nicht erfolgreich sei und zu Folgeschäden, z.B. in Form der negativen Auswirkungen auf die übrigen Emissionswerte, den Kraftstoffverbrauch und die Motorleistung führe, sind dies reine Vermutungen. Es wird auch nicht konkret dargetan, weshalb andere Lösungen, z.B. HardwareLösungen nicht zur Beseitigung des Mangels führen können, zumal die Klägerseite teilweise behauptet, dass andere Technologien verfügbar und nur aus Kostengründen von der Beklagten nicht eingesetzt worden seien.
36
2. Ein Anspruch des Klägers aus §§ 826, 31 BGB bzw. § 831 BGB, scheidet schon deshalb aus, weil das klägerseits behauptete Verhalten der Beklagten unter keinem Gesichtspunkt als sittenwidrig anzusehen ist.
37
a) Objektiv sittenwidrig wäre eine Handlung, die nach Inhalt oder Gesamtcharakter, der durch zusammenfassende Würdigung von Inhalt, Beweggründen und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt, d.h. mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht vereinbar ist. Ein Unterlassen wäre dann sittenwidrig, wenn das geforderte Tun einem sittlichen Gebot entspricht. Dass das Verhalten gegen vertragliche Pflichten oder das Gesetz verstößt, unbillig erscheint oder einen Schaden hervorruft, genügt nicht. Insbesondere ist die Verfolgung eigener Interessen bei der Ausübung von Rechten im Grundsatz auch dann legitim, wenn damit eine Schädigung Dritter verbunden ist.
38
Hinzutreten muss nach der Rechtsprechung eine nach den Maßstäben der allgemeinen Geschäftsmoral und des als „anständig“ Geltenden besondere Verwerflichkeit des Verhaltens, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage tretenden Gesinnung oder den eintretenden Folgen ergeben kann (vgl. m.w.N. Palandt/Sprau, BGB, 79. Auflage 2020, § 826 BGB, Rn. 4).
39
b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist ein sittenwidriges Verhalten gem. § 826 BGB nicht dargetan.
40
Selbst wenn ein Verstoß anzunehmen wäre, wäre ein Verschweigen des Einsatzes der Abschalteinrichtung in Gestalt eines sog. „Thermofensters“ und auch einer Dosierung der AdBlue Menge im SCR-System in Abhängigkeit der äußeren Umstände bei Würdigung der Gesamtumstände auch unter Berücksichtigung eines durchschnittlichen Anstandsmaßstabs schon objektiv nicht als sittenwidrig zu bewerten. Insoweit unterscheidet sich – wie bereits ausgeführt – die Fallgestaltung deutlich und entscheidend vom Einsatzes einer Motorsteuerungssoftware, die zielgerichtet den Prüfstandslauf erkennt und dann in einen völlig anderen Betriebsmodus schaltet. Die Fallgestaltung eines sog. „Thermofensters“ unterscheidet sich damit signifikant von der Fallgestaltung einer „Schummelsoftware“ in Form einer Umschaltlogik, wie sie Gegenstand der im Jahr 2015 bei einem anderen Hersteller gerichtsbekannt aufgedeckten Geschehnisse ist. Dabei hat dieser Hersteller nämlich nicht nur gesetzliche Abgaswerte außer Acht gelassen, sondern mit der Abschalteinrichtung ein System zur planmäßigen Verschleierung seines Vorgehens gegenüber den Aufsichtsbehörden und den Verbrauchern geschaffen.
41
Gleiches gilt – wie bereits zur Frage der Arglist ausgeführt – zu dem Vortrag zur Dosierung der Adblue-Menge im SCR-System. Die Ausführungen gelten insoweit entsprechend.
42
Das von der Klagepartei für das hier streitgegenständliche Fahrzeug behauptete „Thermofenster“ und auch die Einschränkung der Dosierung im SCR-System würden im Falle ihrer Unzulässigkeit zwar ebenfalls einen Gesetzesverstoß darstellen, wären jedoch nicht mit den Grundbedürfnissen loyaler Rechtsgesinnung unvereinbar. Unstreitig ist, dass das sogenannte Thermofenster die Abgasreinigung bei sehr niedrigen und sehr hohen Temperaturen nicht mehr voll durchführen lässt bzw. ab einer gewissen Temperatur gänzlich ausschaltet. Dies ist im Prüflauf jedoch genauso wie im realen Straßenverkehr. Ein heimliches, planvoll angelegtes Vorgehen unter Ausnutzung eines eigenen Informations- und Wissensvorsprungs gegenüber dem nichtsahnenden Verbraucher kann darin nicht gesehen werden. Gleiches gilt für die AdBlueDosierung im SCR-System. Es wird auch nicht die Einhaltung der gesetzlichen Umweltstandards durch eine lediglich auf dem Prüfstand erfolgende Abgasreinigung bewusst „vorgespielt“, um damit ein dem gesellschaftlichen Zeitgeist der Umweltfreundlichkeit und Umweltverträglichkeit entsprechendes Fahrzeug zu vermarkten. Vielmehr ist unstreitig, dass die beworbene Umweltfreundlichkeit des Fahrzeugs zumindest innerhalb des „Thermofensters“ und beim SCRSystem bei entsprechenden äußeren Bedingungen voll gegeben ist. Anders als in den Fällen, in denen eine effektive Abgasreinigung lediglich bei Erkennen des Prüfstands durchgeführt wird, ist auch nicht substantiiert dargetan und auch nicht ersichtlich, dass Gewinnstreben um jeden Preis Motivation auf Herstellerseite gewesen ist (vgl. auch LG Schweinfurt, Urteil vom 17.01.2020, Az. 21 O 95/19).
43
Zudem ist angesichts der äußerst kontroversen Diskussionen über die Zulässigkeit des „Thermofensters“ eine Auslegung dahingehend, dass ein „Thermofenster“ bzw. die Reduzierung der AdBlue-Menge bei entsprechenden äußeren Bedingungen eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, jedenfalls nicht unvertretbar. Ein Handeln unter vertretbarer Auslegung des Gesetzes kann ebenso nicht verwerflich sein (so auch LG Stuttgart, Urteil vom 03.05.2019, Az. 22 O 238/18, juris, Rn. 30 ff.; LG Limburg, Urteil vom 24.05.2019, Az. 2 O 50/19, juris, Rn. 25; LG Bonn, Urteil vom 17.05.2019, Az. 15 O 132/18, juris, Rn. 25 ff.; LG Schweinfurt, Urteil vom 17.01.2020, Az. 21 O 95/19).
44
In der Gesamtschau kann deshalb selbst beim Vorliegen eines objektiv unzulässigen „Thermofensters“ bzw. einer objektiv unzulässigen Reduzierung der AdBlue-Menge im SCRSystem bei entsprechenden äußeren Rahmenumständen nicht von objektiver Sittenwidrigkeit ausgegangen werden.
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3. Der Klägerin steht auch kein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB zu.
46
Der Vortrag der Klagepartei zum Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Gestalt eines „Thermofensters“ bzw. einer Reduzierung der AdBlue-Menge bei entsprechenden äußeren Bedingungen reicht jedenfalls in subjektiver Hinsicht nicht aus, einen solchen deliktischen Schadensersatzspruch zu begründen, denn unabhängig davon, ob es sich hierbei in objektiver Hinsicht überhaupt um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne der VO(EG) 715/2007 handelt (vgl. hierzu LG Stuttgart, VuR 2019, 148 mit abl. Anm. Wessel DAR 2019, 277; abl. auch OLG Stuttgart, ZVertriebsR 2019, 301 [306]), wäre das bloße Vorhandensein einer objektiv unzulässigen Abschalteinrichtung im streitgegenständlichen Fahrzeug nicht geeignet, deliktische Ansprüche der Klägerin auszulösen. Denn es ist nichts zu den subjektiven Voraussetzungen der deliktischen Anspruchsgrundlage von Substanz vorgetragen (siehe OLG Köln, ZVertriebsR 2019, 370 [371]): So hätten über die schlichte Kenntnis von der Verwendung des „Thermofensters“ bzw. der Regulierung im SCR-System hinaus auch Anhaltspunkte dafür vorgetragen werden müssen, dass dies bei der Beklagten zugleich mit dem Bewusstsein geschehen ist, möglicherweise gegen gesetzliche Vorschriften zu verstoßen, und dass dieser Gesetzesverstoß zumindest billigend in Kauf genommen wurde. Aus den vorgetragenen Umständen kann nicht geschlossen werden, dass ein solches Bewusstsein bei den Organen der Beklagten vorlag.
47
Vielmehr ist angesichts der äußerst kontroversen Diskussionen über die Zulässigkeit des „Thermofensters“ bzw. der Regulierung im SCR-System eine Auslegung dahingehend, dass ein „Thermofenster“ bzw. die Regulierung eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, jedenfalls nicht unvertretbar, so dass auch unter diesem Aspekt ein zumindest bedingt vorsätzliches Handeln der Beklagten fern liegt.
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4. Auch Ansprüche aus §§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6, 27 Abs. 1 EG-FGV und Art. 5 Abs. 2 S. 1 lit. VO (EG) 715/2007 sind nicht gegeben.
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Ein solcher Anspruch scheidet schon deshalb aus, da es sich bei §§ 6, 27 Abs. 1 EG-FGV und Art. 5 Abs. 2 S. 1 lit. VO (EG) 715/2007 jedenfalls nicht um Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB.
50
a) Voraussetzung für das Vorliegen eines Schutzgesetzes wäre, dass das jeweilige Gesetz dazu bestimmt ist, die Vermögensinteressen der Verbraucher zu schützen. Der Schutz anderer Individualinteressen wie z.B. die Gesundheit der Verbraucher genügt nicht. Vorliegend wird nicht etwa Schmerzensgeld wegen Gesundheitsbeeinträchtigungen geltend gemacht, sondern Schadensersatz in Form der Rückabwicklung eines Vertrags, als reine Vermögensinteressen. Der Individualschutz darf dabei kein bloßer Reflex der verletzten Verhaltensnorm sein, sondern muss bestimmungsgemäß eintreten, also im Aufgabenbereich der Norm liegen (MüKo-Wagner, BGB, 7. Aufl. 2017, BGB § 823 Rn. 498). Zudem müsste die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs sinnvoll und im Sinne des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheinen, wobei in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, geprüft werden muss, ob es in der Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten Interesses die deliktsrechtliche Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden mit allen damit zu Gunsten des Geschädigten gegebenen Beweiserleichterungen zu knüpfen (BGH, Beschluss vom 9.4.2015, Az. VII ZR 36/14 m.w.N.).
51
Hiervon kann bei der VO (EG) 715/2007 und auch aus der möglicherweise verletzten Norm selbst hinsichtlich der Vermögensinteressen der Verbraucher nicht ausgegangen werden.
52
Die VO (EG) 715/2007 hat nämlich vornehmlich die Harmonisierung der technischen Vorschriften für die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich ihrer Emissionen zum Ziel (Erwägungsgrund 1). Dadurch soll ein hohes Umweltschutzniveau sichergestellt werden, das auch über das Programm „Saubere Luft für Europa” (CAFE) angestrebt wird (Erwägungsgrund 4).
53
Im Vordergrund stehen damit eindeutig verbraucherfremde Interessen. Einzig Erwägungsgrund 17 geht in einem Nebensatz auf Verbraucherinteressen ein. Dies jedoch nicht, um einen wirksamen Vermögensschutz sicherzustellen, sondern vielmehr um eine objektive und genaue Aufklärung des Verbrauchers – und damit auch eine Kontrolle der Einhaltung der Vorschriften – sicherzustellen.
54
Dies ergibt sich nicht zuletzt auch aus Art. 13 Abs. 2 lit. d VO (EG) 715/2007 betreffend das Verbot illegaler Abschalteinrichtungen. Hiernach legen die Mitgliedstaaten für Verstöße von Herstellern gegen die Vorschriften dieser Verordnung Sanktionen fest und treffen die zu ihrer Anwendung erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Derartige Sanktionen sind aber im deutschen Recht regelmäßig dem Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht vorbehalten. Eine etwaige unzureichende Sanktionierung des Verhaltens durch den Gesetzgeber ist nicht durch die Justiz im Rahmen der zivilrechtlichen Haftung zu korrigieren (OLG Karlsruhe, Hinweisbeschluss vom 5.3.2019, Az. 13 U 142/18, Rn. 122; vgl. zu alldem auch vgl. auch LG Schweinfurt, Urteil vom 17.01.2020, Az. 21 O 95/19). b)
55
Gleiches gilt für die EG-FGV. Diese dient der Umsetzung der RL 2014/45/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die regelmäßige technische Überwachung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/40/EG (ABl. L 127 vom 29. 4. 2014, S. 51) in Teilen sowie der RL 2014/46/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Änderung der RL 1999/37/EG des Rates über Zulassungsdokumente für Fahrzeuge (ABl. L 127 vom 29. 4. 2014, S. 129).
56
Die RL 2014/45/EU wiederum hat zum Ziel, die Zahl der Unfalltoten im Straßenverkehr in der Europäischen Union bis 2050 auf nahe Null zu senken. Um dieses Ziel zu erreichen, soll die Fahrzeugtechnik einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheitsbilanz des Straßenverkehrs leisten. Nach Erwägungsgrund 7 spielt jedoch gleichermaßen der Umweltschutz eine Rolle. Aufgabe der Mitgliedstaaten soll es sein, geeignete Maßnahmen in Betracht ziehen, um unsachgemäßen Manipulationen oder Eingriffen an Fahrzeugteilen und Komponenten vorzubeugen, die die erforderlichen sicherheits- und umwelttechnischen Eigenschaften des Fahrzeugs beeinträchtigen könnten. Hieraus lässt sich allenfalls das Leben bzw. die Gesundheit des Verbrauchers als Schutzzweck ableiten, nicht jedoch seine Vermögensinteressen.
57
Auch aus den möglicherweise verletzten Normen – §§ 6, 27 EG-FGV – selbst ergibt sich ein entsprechender Schutzzweck nicht. Wiederum sanktioniert das Gesetz in § 37 EG-FGV Verstöße gegen § 27 EG-FGV lediglich über das Ordnungsmittelrecht. Auch hier gilt, dass eine etwaige unzureichende Sanktionierung des Verhaltens durch den Gesetzgeber nicht durch die Justiz im Rahmen der zivilrechtlichen Haftung zu korrigieren ist (OLG Karlsruhe, Hinweisbeschluss vom 5.3.2019, Az. 13 U 142/18, Rn. 122; vgl. auch LG Schweinfurt, Urteil vom 17.01.2020, Az. 21 O 95/19)).
58
5. Auch Ansprüche aus §§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. 16 UWG scheitern daran, dass jedenfalls die subjektiven Voraussetzungen in Form einer vorsätzlichen unwahren und irreführenden Werbung mit der von § 16 UWG geforderten Absicht nicht substantiiert dargetan sind. Auf die obigen Ausführungen wird insoweit Bezug genommen. Ein solcher Anspruch scheitert ebenso daran, dass der klägerische Vortrag nicht erkennen lässt, welche konkrete Werbung in Bezug auf Abgaswerte und Kraftstoffverbrauch im realen Fahrbetrieb irreführend gewesen sein soll, von der Klagepartei wahrgenommen wurde und letztlich auch auf die Kaufentscheidung der Klagepartei Einfluss hatte. Nur im letzten Fall, käme eine Kausalität für einen Schadenseintritt bei der Klägerin in Betracht.
59
6. Mangels Hauptanspruch unterliegen auch die geltend gemachten Nebenforderungen und der geltend gemachte Feststellungsantrag der Klageabweisung.
II.
60
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
61
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1 und 2 ZPO.