Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 11.02.2020 – 202 ObOWi 38/20
Titel:

Unwirksame Einschränkung der Verteidigervollmacht für Zustellungen

Normenketten:
StPO § 145a Abs. 1 , § 473 Abs. 1 S. 1
OWiG, § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 9, § 46 Abs. 1, § 51 Abs. 3 S. 1, § 80 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 S.2, Abs. 4 S. 1, Abs. 4 S. 3, Abs. 4 S. 4, Abs. 5
Leitsätze:
1. Der Wahlverteidiger, dessen Verteidigervollmacht sich im Zeitpunkt einer Zustellung (hier des Bußgeldbescheids) bei den Akten befindet, gilt auch im Bußgeldverfahren nach der § 145a Abs. 1 StPO entsprechenden Bestimmung des § 51 Abs. 3 Satz 1 1. Halbsatz OWiG kraft Gesetzes und damit unabhängig vom Willen des Betroffenen als zustellungsbevollmächtigt, weshalb sich eine in die Vollmacht ausdrücklich aufgenommene Ausnahme für die „Empfangsvollmacht“ ebenso als unwirksam erweist wie eine entsprechende Streichung innerhalb einer an sich unbeschränkten Vollmachtsurkunde (u.a. Anschluss an BayObLG, Beschl. v. 04.07.1969 – 1 b St 161/69 = BayObLGSt 1969, 110, 111; OLG Dresden, Beschl. v. 10.05.2005 – Ss [OWi] 309/05 = NStZ-RR 2005, 244 = DAR 2005, 572 = VRS 108 [2005], 439; OLG Köln, Beschl. v. 02.04.2004 – Ss 126/04 = NJW 2004, 3196 = NStZ 2004, 647 = NZV 2004, 595 = VRS 107 [2004], 295 und OLG Hamm, Beschl. v. 18.03.2019 – 1 RBs 42/19 bei juris). (Rn. 3)
2. Der Einwand des Eintritts von Verfolgungsverjährung bereits vor Erlass des angefochtenen Bußgeldurteils ist im Zulassungsverfahren wegen § 80 Abs. 5 OWiG nur dann zu prüfen, wenn es gerade wegen dieser Frage geboten ist, unter Berücksichtigung der Zweckkriterien des § 80 Abs. 1 und 2 OWiG die Rechtsbeschwerde zuzulassen (u.a. Anschluss an OLG Hamm, Beschluss vom 26.06.2008 - 4 Ss OWi 412/08 und OLG Schleswig, Beschluss vom 24.03.2004 - 1 Ss OWi 43/04, jeweils bei juris). (Rn. 4)
Schlagworte:
Verjährung, Verfolgungsverjährung, Verjährungsfrist, Verjährungsunterbrechung, Unterbrechenswirkung, Betroffenenanhörung, Anordnung, Erlass, Bußgeldbescheid, Zustellung, Betroffener, Verteidiger, Vollmacht, Verteidigervollmacht, Zustellungsvollmacht, Vollmachtsurkunde, Empfangsvollmacht, Fettdruck, Streichung, Ausnahme, Rechtssicherheit, Rechtsmissbrauch, Verjährungsfalle, Einwand, Stellungnahme, Zulassungsverfahren
Fundstellen:
NStZ 2021, 111
BeckRS 2020, 6468
LSK 2020, 6468

Tenor

I. Der Antrag des Betroffenen, gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 13. Juni 2019 die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wird als unbegründet verworfen.
II. Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.
1
1. Mit dem angefochtenen Urteil hat das Amtsgericht den Betroffenen wegen fahrlässiger Nichteinhaltung des Mindestabstandes von einem vorausfahrenden Fahrzeug (§ 4 Abs. 1 Satz 1 StVO; Tatzeit: 16.11.2018) zu einer Geldbuße von 100 Euro verurteilt. Der hiergegen in zulässiger Weise angebrachte Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Nach § 80 Abs. 1 und 2 Nr. 1 OWiG darf die Rechtsbeschwerde nur zugelassen werden, wenn es geboten ist, die Nachprüfung des angefochtenen Urteils zur Fortbildung des materiellen Rechts zu ermöglichen oder das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor, weshalb der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 4 Sätze 1 und 3 OWiG zu verwerfen ist. Damit gilt die Rechtsbeschwerde als zurückgenommen (§ 80 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 Satz 4 OWiG).
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2. Zugleich mit Blick auf die zur Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 09.01.2020 abgegebene Stellungnahme der Verteidigung vom 04.02.2020 bemerkt der Senat ergänzend:
3
a) Entgegen der Rechtsauffassung der Verteidigung ist - wovon das Amtsgericht zutreffend ausgeht - keine Verfolgungsverjährung eingetreten, nachdem die sog. ‚kurze‘ Verjährungsfrist von drei Monaten zunächst am 27.11.2018 gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG (Anordnung der Betroffenenanhörung) und sodann durch Erlass des Bußgeldbescheids am 11.02.2019 und seiner Zustellung an den Verteidiger des Betroffenen am 13.02.2019 gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG jeweils wirksam unterbrochen wurde. Insbesondere scheitert die Annahme der Unterbrechenswirkung nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG nicht etwa daran, dass der Bußgeldbescheid - wie die Verteidigung meint - aufgrund der sich in den Akten befindlichen Vollmacht und der dort ausdrücklich aufgenommenen und durch Fettdruck hervorgehobenen Ausnahme u.a. für die „Empfangsvollmacht […] für […] Bußgeldbescheide“ (konstitutiv) ausgeschlossen und der Bußgeldbescheid deshalb nicht wirksam an die Verteidigung zugestellt werden konnte. Vielmehr erweist sich diese Ausnahme mit der der Vorschrift des § 145a Abs. 1 StPO entsprechenden Bestimmung des § 51 Abs. 3 Satz 1 1. Halbsatz OWiG auch im Bußgeldverfahren insoweit als unvereinbar und deshalb ohne weiteres als unwirksam, als mit ihr (oder auch durch entsprechende Streichungen innerhalb einer an sich unbeschränkten Vollmachtsurkunde) von vorneherein ein vollständiger Entzug oder - wie hier - eine Begrenzung des vom Willen des Betroffenen unabhängigen, weil gesetzlichen Umfangs der sich allein aus der Stellung des Verteidigers - hier als Wahlverteidiger - ergebenden Zustellungsvollmacht herbeigeführt würde (st.Rspr.; vgl. schon BayObLG, Beschluss vom 04.07.1969 - 1 b St 161/69 = BayObLGSt 1969, 110, 111 f.; ferner OLG Dresden, Beschluss vom 10.05.2005 - Ss [OWi] 309/05 = NStZ-RR 2005, 244 = DAR 2005, 572 = BeckRS 2005, 5821 = VRS 108 [2005], 439; OLG Köln, Beschluss vom 02.04.2004 - Ss 126/04 = NJW 2004, 3196 = NStZ 2004, 647 = NZV 2004, 595 = VRS 107 [2004], 295 = BeckRS 9998, 36347; OLG Jena, Beschluss vom 06.06.2001 - 1 Ss 126/01 = NJW 2001, 3204 = OLGSt OWiG § 51 Nr 2 = VRS 101 [2001], 123 = StraFo 2001, 413 und zuletzt OLG Hamm, Beschluss vom 18.03.2019 - 1 RBs 42/19 bei juris; ferner LR/Lüderssen StPO 26. Aufl., § 145a Rn 2; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 62. Aufl. § 145a Rn. 2; Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. § 51 Rn. 44a; KK/Lampe OWiG 5. Aufl. § 51 Rn. 83 und KK/Willnow StPO 8. Aufl. § 145a Rn. 1; jeweils m.w.N.). Eine andere Sicht erwiese sich mit dem Gesetzeszweck, nämlich der im Interesse der Schaffung von Rechtssicherheit gebotenen Klarheit darüber, wann eine Zustellung an den Verteidiger des Angeklagten oder - wie hier - des Betroffenen gegen diesen wirkt, unvereinbar (BayObLG a.a.O.). Aus alledem folgt, dass es auf weitere Erwägungen, etwa zur Frage einer nach den Gesamtumständen auch rechtsgeschäftlich erteilten Zustellungsvollmacht oder einer etwaigen Rechtsmissbräuchlichkeit des Verteidigungsvorbringens zur vermeintlich unwirksamen Zustellung aufgrund bestimmter verfahrensrechtlicher Konstellationen (sog. ‚Verjährungsfalle‘) nicht ankommt.
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b) Hinzu kommt Folgendes: Der Einwand des Eintritts von Verfolgungsverjährung bereits vor Erlass des angefochtenen Urteils ist im Zulassungsverfahren wegen § 80 Abs. 5 OWiG nur dann zu prüfen, wenn es gerade wegen dieser Frage geboten ist, unter Berücksichtigung der Zweckkriterien des § 80 Abs. 1 und 2 OWiG die Rechtsbeschwerde zuzulassen (st.Rspr., vgl. u.a. OLG Hamm, Beschluss vom 26.06.2008 - 4 Ss OWi 412/08, 31.10.2006 - 2 Ss OWi 653/06, 17.03.2006 - 4 Ss OWi 145/06 und 04.01.2006 - 2 Ss OWi 873/05; OLG Schleswig, Beschluss vom 24.03.2004 - 1 Ss OWi 43/04 [sämtliche bei juris]; ferner OLG Hamm NZV 2006, 390; OLG Jena DAR 2011, 475, OLG Düsseldorf NZV 1994, 118 sowie eingehend schon OLG Stuttgart, Beschluss vom 17.10.1996 - 1 Ss 275/96 = NStZ 1997, 287 = VRS 92 [1997], 429 und BayObLG NJW 1992, 641; vgl. im gleichen Sinne u.a. auch KK/Hadamitzky OWiG 5. Aufl. § 80 Rn. 59 f.; Göhler/Seitz/Bauer a.a.O. § 80 Rn. 23 f., jeweils m.w.N.). Auch dies ist hier offensichtlich nicht der Fall.
II.
5
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.