Inhalt

VGH München, Beschluss v. 20.08.2020 – 20 CS 20.1877
Titel:

Infektionsschutzrecht, SARS Cov-2-Pandemie, Stilllegung einer Konservenfabrik, Auswahlermessen, Bestimmtheit

Normenketten:
VwGO § 146
VwGO § 114 Satz 2
IfSG § 16 Abs. 1 Satz 1
Halbsatz 1 IfSG § 28 Abs. 1 Satz 1
Schlagworte:
Infektionsschutzrecht, SARS Cov-2-Pandemie, Stilllegung einer Konservenfabrik, Auswahlermessen, Bestimmtheit
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 11.08.2020 – RN 14 S 20.1389
Fundstelle:
BeckRS 2020, 64203

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 25.000,-Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Antragsgegner gegen einen Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen eine infektionsschutzrechtliche Anordnung der Stilllegung ihres Betriebes angeordnet hat.
2
Die Antragstellerin stellt in ihrem Betrieb Konserven her. Bei Reihentestungen im Betrieb der Antragstellerin wurde bei zahlreichen Mitarbeitern eine Infektion mit dem Coronavirus (SARS-COV-2) nachgewiesen.
3
Hierauf ordnete das Landratsamt mit Bescheid vom 4. August 2020 für den gesamten Betrieb mit allen Mitarbeitern einschließlich der Betriebsleitung bis zur Ermittlung der Kontakte und der Infektionsketten eine Quarantäne an und verfügte zudem nach Nr. 1.4 des Bescheids:
4
„Die Produktion des Betriebes M. K. GmbH & Co. KG wird bis Abschluss der Ermittlung des Infektionsherdes, sowie der Erfüllung der aus infektionsschutzrechtlicher Sicht erforderlichen Maßnahmen stillgelegt.“
5
Die Betriebsstilllegung werde auf § 16 Abs. 1 IfSG gestützt. Bis zur Abklärung des Infektionsgeschehens sei die Betriebsstilllegung das einzig wirksame Mittel, um weitere Infektionen zu verhindern und die Verbreitung des Virus zu unterbinden.
6
Am 5. August 2020 ließ die Antragstellerin Klage erheben. Zugleich ließ sie einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage bezüglich aller Anordnungen im Bescheid stellen. Mit Beschluss vom 11. August 2020 hat das Verwaltungsgericht das Verfahren hinsichtlich der Betriebsstilllegung abgetrennt, da sich die Anträge hinsichtlich der übrigen Anordnungen im Bescheid zwischenzeitlich erledigt hätten.
7
Mit Beschluss vom 11. August 2020 ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Nr. 1.4 des Bescheids des Landratsamts vom 4. August 2020 an. Die Klage dürfte in der Hauptsache erfolgreich sein. Dabei könne dahinstehen, ob die Anordnung der Betriebsstilllegung zum Zeitpunkt ihres Erlasses am 4. August 2020 rechtmäßig gewesen sei, wofür einiges spreche. Zwar sei die im angegriffenen Bescheid enthaltene Begründung für die Betriebsstilllegung recht knapp; gleichwohl erscheine es nachvollziehbar, dass die Betriebsstilllegung das einzig probate Mittel zur Abklärung des Infektionsgeschehens und zur Verhinderung weiterer Infektionen und damit zur Verhinderung einer weiteren Ausbreitung des Virus gewesen sei. Da es sich bei der Betriebsstilllegung jedoch um einen Dauerverwaltungsakt handele, komme es für die Entscheidung des Gerichts für die Beurteilung der maßgeblichen Sach- und Rechtslage auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an und nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts. Zu diesem Zeitpunkt sei die Betriebsstilllegung nicht (mehr) verhältnismäßig. Aufgrund des Infektionsgeschehens im Betrieb der Antragstellerin lagen Tatsachen nach § 16 Abs. 1 IfSG unzweifelhaft vor, weshalb der Antragsgegner habe einschreiten müssen. Dem Antragsgegner sei insoweit kein Ermessensspielraum eingeräumt. Auf der Rechtsfolgenseite sei jedoch zu beachten, dass die zuständige Behörde nur die notwendigen Maßnahmen zur Abwendung der drohenden Gefahren treffen dürfe. Bei dieser Prüfung habe die Behörde den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, im Rahmen dessen jeweils das mildeste Mittel zu ergreifen sei, das geeignet sei, die jeweiligen Gefahren abzuwenden. Auch wenn danach zunächst eine Betriebsstilllegung geboten gewesen sein möge, so sei doch zu berücksichtigen, dass zwischenzeitlich das Betriebsgelände der Antragstellerin geräumt sei und die von Corona betroffenen Mitarbeiter separiert und in Quarantäne geschickt worden seien. Dies betreffe auch Personen, die mit infizierten Mitarbeitern in Kontakt gewesen seien und bei denen derzeit noch nicht ausgeschlossen werden könne, dass sie Träger des Virus seien. Nach dem am 7. August 2020 von der Antragstellerin vorgelegten Hygienekonzept beabsichtige diese, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass ein Kontakt der sich unter Quarantäne befindlichen Mitarbeiter, deren Unterkunft sich auf dem Nachbargrundstück befinde und die keinen Zugang zum Betriebsgelände hätten, sowie den neuen bzw. nachweislich nicht infizierten Mitarbeitern, die den Betrieb wiederaufnehmen sollen, ausgeschlossen sei. Ferner sei eine vollständige Desinfektion des Betriebes seitens der Antragstellerin vorgesehen. Unter diesen Umständen sei die Betriebsstilllegung nicht mehr zu rechtfertigen. Sie sei nicht mehr erforderlich und somit auch nicht mehr verhältnismäßig. Nach den von der Antragstellerseite vorgeschlagenen Betriebsabläufen erscheine es ohne weiteres möglich, einen aus infektionsschutzrechtlicher Sicht unbedenklichen Betrieb der Konservenproduktion wiederaufzunehmen. Eine weitere Aufrechterhaltung der Betriebsstilllegung sei jedenfalls nach aktuellem Stand nicht mehr zu rechtfertigen.
8
Gegen diesen Beschluss hat der Antragsgegner am 17. August 2020 Beschwerde erhoben. Dass das Infektionsgeschehen im Hinblick auf den Betrieb der Antragstellerin noch nicht bewältigt sei, bewiesen die zahlreichen weiteren positiven Testergebnisse im Betrieb der Antragstellerin. Nach einem von der privaten Betreiberin organisierten Abstrich vom 7. August 2020 seien 57 neue Infektionsfälle festgestellt worden, nach einer weiteren Laboruntersuchung vom 11. August 2020 nochmals zusätzlich 18 Fälle. Insofern hätten sich die mit der Unterbringungssituation auf dem Betriebsgelände eingehenden Infektionsrisiken bereits weitergehend realisiert. Zwar könne, da die Inkubationszeit bis zu 14 Tage betrage, nicht ausgeschlossen werden, dass die am 7. August 2020 und am 10. August 2020 neu positiv Getesteten bereits vor Beginn der Absonderung infiziert gewesen seien. Doch dies stehe der Rechtmäßigkeit der Betriebsstilllegung nicht entgegen. Es könne auch nicht sicher ausgeschlossen werden, dass die Infektionen zumindest teilweise erst nach Ergreifen der zusätzlichen Maßnahmen eingetreten seien. In dieser mit Unsicherheiten verbundenen Lage, in der im Falle der Untätigkeit eine jegliche Gefährdung für Leib und Leben einer Vielzahl von Personen im und außerhalb des Betriebes drohen würde, sei die Betriebsstilllegung geboten gewesen. Zu beachten sei in diesem Zusammenhang auch, dass ansonsten die Gefahr bestünde, dass Arbeiter, die nicht auf dem Gelände wohnten, im Falle einer Ansteckung bei der Arbeit das Virus in die allgemeine Bevölkerung tragen könnten. Infolge der weiterhin hohen Infektionszahlen im Betrieb vermögen auch die vom erstinstanzlichen Gericht angeführten, im Betrieb ergriffenen Maßnahmen, wie etwa die Räumung des Betriebsgeländes, Separierung und Absonderung der Mitarbeiter sowie die geplante Desinfektion des Betriebes eine Unverhältnismäßigkeit und damit eine Rechtswidrigkeit der Betriebsschließung nicht zu begründen. Stattdessen sei die Betriebsschließung hier ein geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel. Die tatsächliche Infektionsgefahr zeige, dass die Betriebsstilllegung nicht nur anfänglich verhältnismäßig gewesen sei, sondern dies auch weiterhin sei.
9
Im Betrieb der Antragstellerin sei unbeschadet des vorgesehenen Hygienekonzepts mit dem Zusammentreffen vieler Menschen zu rechnen. Auch mit regelmäßigen Tests sei nicht verlässlich festzustellen, ob jemand nicht doch infiziert sei und das Virus weitergeben könnte. Negative Testergebnisse stellten stets nur eine Momentaufnahme dar, die sich fast stündlich ändern könnte. Somit erscheine eine Wiederaufnahme der Produktion im Betrieb der Antragstellerin derzeit noch zu riskant. Der Betrieb könne als mögliche Quelle des zweiten M. Infektionsgeschehens noch nicht sicher ausgeschlossen werden, ebenso wenig als weiterer Ausgangspunkt von Neuinfektionen. Das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) habe unter anderem auch aufgrund seiner Betriebsbegehungen festgestellt, dass eine besondere betriebsnahe Wohnsituation in Apartments und Wohncontainern mit dadurch bedingtem Ansteckungsrisiko gegeben sei. Weiter wiesen Indizien (Wäsche zum Trocknen außerhalb der Zimmer) darauf hin, dass die Quarantäne nicht hinreichend beachtet werde. Es bestehe die Gefahr, dass Personen, die arbeiten dürften, mit abgesonderten Personen in Kontakt kämen. Dies wiederum berge die Gefahr einer Ansteckung von Arbeitern bei unerkannt erkrankten Personen und in der Folge ein Hineintragen des Virus in den Betriebsablauf in sich. Durch nicht im Betrieb wohnende Mitarbeiter wiederum könnte das Virus sodann auch nach außen getragen werden. Dem stehe auch nicht entgegen, dass sich dem zweiten Begehungsbericht des LGL entnehmen lasse, dass Personen, die sich trotz heftiger Ermahnungen des Betriebsinhabers nicht lediglich in ihren Zimmern aufhalten würden, nunmehr extern untergebracht werden würden. Das Risiko, dass die Quarantäneregeln nicht eingehalten werden würden, bestehe weiterhin. Es komme hinzu, dass sich das Infektionsgeschehen im Rahmen des Unterbringungsbereiches und im Betrieb selbst nicht trennscharf separieren ließe. Die von der Antragstellerin vorgelegten Schichtpläne seien unvollständig und könnten eine Infektionsgefahr nicht beseitigen. Die Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts könne keinen Bestand haben, weil dieses nicht hätte offenlassen dürfen, ob die Betriebsstilllegung anfänglich rechtmäßig gewesen sei, weil bei Dauerverwaltungsakten ein Aufhebungsanspruch nur insoweit bestehe, als er rechtswidrig gewesen sei. Seien die Erfolgsaussichten offen, hätte das Verwaltungsgericht eine Folgenabwägung zugunsten der Stilllegung des Betriebes treffen müssen.
10
Die Antragstellerin tritt der Beschwerde entgegen und verteidigt den angegriffenen Beschluss. Seit dem 12. August 2020 laufe der Betrieb in der Konservenfabrik wieder, wenngleich in eingeschränktem Umfang. Die Antragstellerin stehe im ständigen Kontakt zu den Behörden, sodass die Einlegung der Beschwerde nun völlig überraschend komme. Selbst in der Stellungnahme des LGL vom 12. August 2020 werde keine Betriebsstilllegung gefordert, vielmehr nur einige ergänzende Maßnahmen sowie eine häufigere Kontrolle. Am 17. August 2020 sei eine Befragung der neben der Fabrik im Wohnpark wohnenden Arbeiter, sowie eine weitere Testung der dort wohnenden bisher mehrfach negativ getesteten Personen erfolgt. Am 19. August 2020 solle dann die geforderte und mit dem Antragsgegner am 14. August 2020 abgestimmte räumliche Trennung von positiv getesteten Personen, negativ getesteten Personen und Kontaktpersonen durchgeführt werden. Die Beteiligten hätten sich hier auf ein Umlegungskonzept verständigt. Es werde klargestellt, dass auf dem Betriebsgelände der Antragstellerin keine Arbeiter wohnten. Im Betrieb selbst habe es seit zwei Wochen keine neuen positiven Fälle gegeben. Die Antragstellerin stehe mit dem im fremden Eigentum befindlichen Wohnpark in keiner rechtlichen Verbindung. Entsprechend den Abstimmungen vom 14. August 2020 verblieben im Wohnpark voraussichtlich ab dem 19. August 2020 ausschließlich negativ getesteten Personen oder aber früher positiv getestete Personen, die nach Ablauf der Quarantäne und bei Symptomfreiheit wieder als gesund gälten. Der Wohnpark stehe derzeit faktisch unter Quarantäne, er sei von einem Bauzaun umgeben und werde von Security bewacht. Zugang und Verlassen sei derzeit nur mit Identitätsnachweis durch Abgleich mit einer Negativliste möglich. Es sei daher ausgeschlossen, dass unter Quarantäne stehende Personen den Wohnpark verließen und in der Fabrik arbeiteten. In der Produktion seien derzeit in Abstimmung mit den Behörden nur Personen beschäftigt, die nach überstandener Quarantäne wieder als gesund gälten oder negativ getestet worden seien. Ohnehin deuteten die Ermittlungen darauf hin, dass die Ansteckung wohl nicht in der Fabrik erfolgt sei, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach in den Unterkünften. Der Betrieb habe durch die durchgeführte Grundreinigung und den Einsatz ausschließlich gesunder Personen in Abstimmung mit dem zuständigen Gesundheitsamt alles dafür getan, dass keine weiteren Infektionen aufträten. Wenn aber in der Produktion nur nachweislich gesunde Personen arbeiteten, stelle sich die Frage, wo dann dort weitere Infektionen herkommen sollten. Der Antragsgegner verkenne immer wieder den Umstand, dass es sich bei der Fabrik und dem Wohnpark um zwei völlig verschiedene Dinge handele. Weiter würden konkrete Defizite am Betriebs selbst und dem dortigen Hygienekonzept nicht vorgetragen. Selbst wenn also bei der erneuten Testung am 17. August 2020 wieder positive Testergebnisse für Personen im Wohnpark aufträten, so habe dies keine Auswirkungen für die Antragstellerin. Diese Personen hätten in den letzten 15 Tagen nicht in der Fabrik gearbeitet und würden dort auch nicht arbeiten, bis das Gesundheitsamt sie freigebe. Die Antragstellerin gehe davon aus, dass die möglichen Infektionsherde in der Fabrik durch die Desinfektion und Grundreinigung ausgeschaltet worden seien. Eine nochmalige Betriebsstilllegung wäre unverhältnismäßig. Insbesondere seien weniger belastende Maßnahmen nicht angestrebt worden. Auch werde die Antragstellerin durch einen Umsatzverlust von mehreren 100.000 € täglich, welche die Existenz des Unternehmens bedrohe, unangemessen in Anspruch genommen. Zudem habe die Stilllegung erhebliche Auswirkung auf die anliefernden Landwirte.
11
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Akteninhalt.
II.
12
1. Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.
13
a) Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn die Klage keine aufschiebende Wirkung hat.
14
Der Verwaltungsgerichtshof hat bei seiner Entscheidung eine originäre Interessenabwägung auf der Grundlage der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage darüber zu treffen, ob die Interessen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, oder diejenigen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, überwiegen. Dabei sind die Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren wesentlich zu berücksichtigen, soweit sie bereits überschaubar sind. Nach allgemeiner Meinung besteht an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer voraussichtlich aussichtslosen Klage kein überwiegendes Interesse. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen.
15
Der Verwaltungsgerichtshof prüft in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bei Beschwerden gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zwar grundsätzlich nur die rechtzeitig und in der gebotenen Weise dargelegten Gründe. Erweisen sich die Beschwerdegründe aber als berechtigt, hat die Beschwerde nicht schon aus diesem Grund Erfolg. Vielmehr darf sich die angefochtene Entscheidung auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweisen, was aus der entsprechenden Anwendung des § 144 Abs. 4 VwGO folgt (BayVGH, B.v. 27.3.2019 – 8 CS 18.2398 – ZfB 2019, 202 = juris Rn. 25 m.w.N.). Insoweit beschränkt § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO die Prüfung in diesen Fällen nicht auf die dargelegten Gründe (BayVGH, B.v. 14.8.2020 – 20 CS 20.1821 – BeckRS 2020,19555).
16
b) Gemessen daran begründen die in der Beschwerdeschrift dargelegten Gründe im Ergebnis keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Die Hauptsacheklage der Antragstellerin hat nach vorläufiger Prüfung der Rechtslage und summarischer Prüfung der Sachlage (vgl. BVerwG, B.v. 23.2.2018 – 1 VR 11.17 – juris Rn. 15) Aussicht auf Erfolg. Die angegriffene Stilllegungsverfügung des Antragsgegners vom 4. August 2020 ist aller Voraussicht nach rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
17
aa) Der Senat geht aufgrund der nur möglichen vorläufigen Prüfung davon aus, dass die vom Antragsgegner im Bescheid ausdrücklich genannte Rechtsgrundlage für die Betriebsstilllegung des § 16 IfSG bereits nicht einschlägig ist. Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 IfSG kann die Behörde Maßnahmen zur Verhütung einer übertragbaren Krankheit treffen, während nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG Maßnahmen zur Bekämpfung einer übertragbaren Krankheit getroffen werden können. Auch wenn es Verschränkungen der Vorschriften über die Verhütung von übertragbaren Einheiten (§§ 16 ff. IfSG) und der Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten (§§ 24 ff. IfSG) gibt, stehen die beiden Generalklauseln der § 16 Abs. 1 Satz 1 IfSG und des § 28 Abs. 1 IfSG in einem Exklusivitätsverhältnis (vgl. im Einzelnen: Struß/Fabi, Entschädigungsansprüche für unternehmensbezogene Eingriffe nach dem IfSG, DÖV 2020, S. 665/667). Sie decken auf der Tatbestandsebene unterschiedlich intensive Gefährdungslagen ab. Weil bereits vor dem Erlass der streitgegenständlichen Betriebsstilllegungsverfügung auch vor Ort Infektions- und wohl auch Krankheitsfälle von COVID-19 festgestellt worden sind, hätte das Landratsamt allein § 28 Abs. 1 IfSG als Rechtsgrundlage für die Betriebsstilllegung heranziehen dürfen.
18
Zwar ist ein Auswechseln der Rechtsgrundlage im Rahmen des Nachschiebens von Gründen auch im Verwaltungsprozess grundsätzlich zulässig und das Landratsamt hat entsprechend in seiner Stellungnahme mit Schreiben vom 6. August 2020 auch vorgetragen (vgl. Bl. 74 bis 76 der Gerichtsakte). Dies kann im vorliegenden Fall jedoch keine Berücksichtigung finden.
19
§ 16 Abs. 1 IfSG und § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind zwar ähnlich konzipiert. Hinsichtlich der Frage, ob Maßnahmen ergriffen werden, handelt es sich jeweils um eine gebundene Entscheidung. Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen – das „Wie“ des Eingreifens – ist der Behörde aber Ermessen eingeräumt. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Maßnahmen nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat beide Vorschriften daher als Generalklausel ausgestaltet. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (BVerwG, U.v. 22.3.2012 – 3 C 16.11 – BVerwGE 142, 205 – juris Rn. 24). Im vorliegenden Fall ist im Bescheid des Landratsamtes hinsichtlich des ihm zustehenden Auswahlermessens lediglich die Erwägung getroffen worden, dass die Anordnung der Quarantäne für den gesamten Betrieb und auch für die zwei weiteren Betriebe sowie die Stilllegung der Produktion des Betriebes zur Abklärung des Infektionsgeschehens das einzig wirksame Mittel sei, um weitere Infektionen zu verhindern und die Verbreitung des Virus zu unterbinden. Weitere Erwägungen enthält der angefochtene Bescheid nicht. Aufgrund der sich dem Senat darstellenden Sachlage ist nicht davon auszugehen, dass sich eine Betriebsstilllegung bis zum Eintritt nicht genau definierter Ereignisse („bis (…) Erfüllung der aus infektionsrechtlicher Sicht erforderlichen Maßnahmen“) als einzig mögliche und verhältnismäßige Maßnahme aufgedrängt und insoweit ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen hat. Insofern wäre u.U. denkbar gewesen, eine Betriebsstilllegung (zunächst) nur bis zur Grundreinigung und Desinfektion des Betriebes zu erlassen. Allenfalls dann wäre das Auswahlermessen des Landratsamtes einer gebundenen Entscheidung angenähert. Vielmehr hat sich das Landratsamt aber für eine sehr weitgehende, kumulativ durch die „Ermittlung des Infektionsherdes“ und die „Erfüllung der aus infektionsschutzrechtlicher Sicht erforderlichen Maßnahmen“ auflösend bedingte Betriebsstillegung entschieden. Hierzu enthält der Bescheid im Ergebnis aber keine belastbaren Ermessenserwägungen, so dass es sich um einen Ermessensausfall handelt.
20
Ob ein Nachschieben von Ermessenserwägungen zulässig ist, bestimmt sich nach dem materiellen Recht und dem Verwaltungsverfahrensrecht. § 114 Satz 2 VwGO regelt lediglich, unter welchen Voraussetzungen derart veränderte Ermessungserwägungen im Prozess zu berücksichtigen sind (BVerwG, U.v. 13.12.2011 – 1 C 14.10 – BVerwGE 141, 253 <Rn. 11>). Neue Gründe für einen Verwaltungsakt dürfen nach dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht nur nachgeschoben werden, wenn sie schon bei Erlass des Verwaltungsakts vorlagen, dieser nicht in seinem Wesen verändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird (stRspr, U.v. 14.10.1965 – 2 C 3.63 – BVerwGE 22, 215 <218>, v. 16.6.1997 – 3 C 22.96 – BVerwGE 105, 55 <59> und v. 29.1.2001 – 11 C 3.00 – Buchholz 401.64 § 6 AbwAG Nr. 3). Diese Grundsätze gelten auch bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung, wenn deren Begründung für einen bereits abgelaufenen Zeitraum geändert werden soll. Auch ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung in Ansehung eines bereits abgelaufenen Zeitraums kann nicht mehr mit Ermessenserwägungen begründet werden, durch welche die ursprüngliche Ermessensentscheidung im Kern ausgewechselt wird (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 114 Rn. 89).
21
Der Austausch wesentlicher Ermessenserwägungen kann jedoch zulässig sein, soweit die Begründung des Dauerverwaltungsakts (nur) für die Zukunft geändert wird. Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung muss einer Änderung der Sach- und Rechtslage Rechnung tragen. Er ist deshalb auf eine Anpassung an jeweils neue Umstände angelegt und wird dadurch nicht zwangsläufig in seinem Wesen verändert. So wie die Behörde eine Verbotsverfügung mit neuer Begründung neu erlassen könnte, kann sie das Verbot auch mit geänderter Begründung für die Zukunft aufrechterhalten. Die Rechtsverteidigung des Betroffenen wird durch eine Änderung (nur) für die Zukunft nicht beeinträchtigt. Da für die rechtliche Beurteilung von Dauerverwaltungsakten grundsätzlich die jeweils aktuelle Sach- und Rechtslage maßgeblich ist, muss das Prozessverhalten des Betroffenen sich ohnehin auf zukunftsbezogene Veränderungen einstellen. Führt (erst) die Änderung der Begründung der Untersagung mit Wirkung für die Zukunft dazu, dass die bisherigen Erfolgsaussichten einer Klage entfallen, steht es dem Betroffenen frei, den Rechtsstreit durch Erledigungserklärung ohne eigene Kostenbelastung zu beenden (vgl. § 161 Abs. 2 VwGO), sofern er die Untersagung nicht – etwa als Rechtsgrundlage noch rückgängig zu machender Vollzugsmaßnahmen – für die Vergangenheit (gegebenenfalls: weiterhin) anfechten oder wegen eines berechtigten Feststellungsinteresses im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zu einem Fortsetzungsfeststellungsantrag übergehen kann und will. Aus § 114 Satz 2 VwGO ergeben sich keine weitergehenden Anforderungen. Diese Vorschrift regelt nicht die Voraussetzungen für die materiell-rechtliche und verwaltungsverfahrensrechtliche Zulässigkeit des Nachschiebens von Ermessenserwägungen, sondern betrifft nur deren Geltendmachung im Prozess. Ihr Zweck ist es, klarzustellen, dass ein materiell- und verwaltungsverfahrensrechtlich zulässiges Nachholen von Ermessenserwägungen nicht an prozessualen Hindernissen scheitert (BVerwG, U.v. 5.5.1998 – 1 C 17.97 – BVerwGE 106, 351 <364>).
22
Kommt ein Nachschieben von Ermessenserwägungen nach dem Vorstehenden in Betracht, so muss dies allerdings genügend bestimmt geschehen. Das Erfordernis hinreichender Bestimmtheit ergibt sich aus Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG und gilt als Ausprägung des Rechtsstaatsgebots (Art. 20 Abs. 3 GG) auch für die Änderung eines Verwaltungsakts einschließlich seiner Begründung. Wird die Änderung erst in einem laufenden Verwaltungsprozess erklärt, so muss die Behörde unmissverständlich deutlich machen, dass es sich nicht nur um prozessuales Verteidigungsvorbringen handelt, sondern um eine Änderung des Verwaltungsakts selbst. Außerdem muss deutlich werden, welche der bisherigen Erwägungen weiterhin aufrechterhalten und welche durch die neuen Erwägungen gegenstandslos werden. Andernfalls wäre dem Betroffenen keine sachgemäße Rechtsverteidigung möglich. Das wäre mit der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu vereinbaren (vgl. zum Ganzen BVerwG, U.v. 20.6.2013 – 8 C 46.12 – BVerwGE 147, 81).
23
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Der Antragsgegner hat zu keinem Zeitpunkt des gerichtlichen Verfahrens, insbesondere in seinem Schreiben vom 6. August 2020, aber auch nicht in seiner Beschwerdebegründung vom 17. August 2020 einen entsprechenden Änderungswillen unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Die Ausführungen des Antragsgegners vor allem zur Notwendigkeit der Betriebsstilllegung sind ersichtlich darauf gerichtet die Rechtmäßigkeit der Betriebsstilllegung auch in der Vergangenheit zu rechtfertigen. In diesem Zusammenhang ist aber auch zu berücksichtigen, dass der angefochtene Bescheid keine Ermessenserwägungen enthält und es sich damit um einen Ermessensausfall handelt. Die erstmalige Begründung einer Ermessensentscheidung ist im Verwaltungsprozess jedoch nicht möglich (vgl. BT-Drs. 13/3993 S. 13), denn § 114 Satz 2 VwGO spricht lediglich von einer Ergänzung der Ermessenserwägungen, setzt also eine vorherige Betätigung des Ermessens voraus. Bereits aus diesem Grund erweist sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts als richtig.
24
bb) Ob die durch den Antragsgegner nachgeschobenen Gründe ausreichende Ermessenserwägungen darstellen, kann deswegen dahinstehen. Anzumerken ist jedoch, dass sich der Antragsgegner auch bei seinen nachgeschobenen Ermessenserwägungen nicht hinreichend dazu verhält, ob weniger belastende Maßnahmen zum gleichen Erfolg, also der Verhinderung der Weiterverbreitung von COVID-19 im Betrieb der Antragstellerin, als die Stilllegung des Betriebes führen. Dies gilt jedenfalls für den Zeitpunkt nach der Grundreinigung und Desinfektion des Betriebes. Die niedrige Eingriffsschwelle des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ist auf der Ermessensebene zu kompensieren, indem an das Kriterium der Erforderlichkeit und insbesondere an die Angemessenheit der Maßnahme je nach Eingriffstiefe der Maßnahme ggf. erhöhte Anforderungen zu stellen sind (BayVGH, B.v. 14.8.2020 – 20 CS 20.1821 – BeckRS 2020,19555).
25
cc) Schließlich dürfte sich die im angefochtenen Bescheid angeordnete Betriebsstilllegung auch als unbestimmt (Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG) erweisen. Wird dem Adressaten durch einen Verwaltungsakt ein Handeln, Dulden oder Unterlassen aufgegeben, muss das Ziel der geforderten Handlung so bestimmt sein, dass sie nicht einer unterschiedlichen subjektiven Beurteilung zugänglich ist (Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2018, § 37 Rn 31). Nach der ausdrücklichen Tenorierung des Bescheids in Ziffer 1.4 sollte die Betriebsstillegung u.a. bis zur Erfüllung „der aus infektionsrechtlicher Sicht erforderlichen Maßnahmen“ gelten. Welche Maßnahmen darunter zu verstehen sind, lässt sich auch der Begründung des Bescheids nicht entnehmen. Eine solch offene, interpretationsfähige und -bedürftige Regelung erlaubt es dem Adressaten des Bescheids nicht zu erkennen, welche Durchführung von Maßnahmen zu einer Beendigung der Betriebsstillegung führen können und genügt damit den Anforderungen an die Bestimmtheit von Verwaltungsakten nicht.
26
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
27
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.
28
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (152 Abs. 1 VwGO).