Inhalt

LG Augsburg, Beschluss v. 14.08.2020 – 874 T 4539/19
Titel:

Abgelehnter Rechtspfleger, Ablehnung des Rechtspflegers, Zuschlagsbeschluß, Zwangsversteigerungsverfahren, Vollstreckungsschutzantrag, Einstweilige Einstellung, Vermögen des Schuldners, Aufhebung, Räumungsvollstreckung, Rechtsmißbrauch, Vollstreckungsgericht, Zwangsversteigerungstermin, Suizidgefahr, Verfahrensbevollmächtigter, Eigentumsverlust, Sachverständigenberatung, Sachverständigengutachten, Besorgnis der Befangenheit, einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung, Zuschlagserteilung

Schlagworte:
Zwangsversteigerung, Einstellung des Verfahrens, Suizidgefahr, Befangenheitsantrag, Gutachten, Zuschlagsbeschluss, Beschwerde
Fundstelle:
BeckRS 2020, 63609

Tenor

1. Die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Zuschlagsbeschluss des Amtsgerichts … vom 05.11.2019, Az. 2 K 28/18 gegen die Schuldnerin wird aufgehoben.
2. Die sofortige Beschwerde der Schuldnerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts … vom 05.11.2019, Az. 2 K 15/18, wird zurückgewiesen.
3. Der Beschwerdewert wird auf bis zu 31.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit Beschluss des Amtsgerichts … – Insolvenzgericht vom 10.04.2018 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin wegen Zahlungsunfähigkeit am 10.04.2018 eröffnet (vgl. Bl. 33/35 d. Akte).
2
Die Schuldnerin ist Eigentümerin des Grundstücks …, jeweils Gebäude – und Freifläche, eingetragen im Grundbuch des Amtsgerichts … von …Blatt … Mit Beschluss des Amtsgerichts … – Vollstreckungsgericht vom 08.08.2018 (Bl. 21/24 d. A.) wurde aufgrund der vollstreckbaren Ausfertigung der Grundschuldbestellungsurkunde von Notarin … wegen eines dinglichen Anspruchs aus dem Recht Abt. III Nr. 3 in der Rangklasse des § 10 Abs. 1 Nr. 4, 5 ZVG mit einer Hauptsache (Grundschuldkapital) in Höhe von … € nebst Zinsen, unverzinslichen Nebenleistungen (einmalige Nebenleistung, … €) und Kosten der gegenwärtigen Rechtsverfolgung die Zwangsversteigerung der auf den Namen der Schuldnerin eingetragenen Objekte angeordnet. Der Beschluss gilt zugleich als Beschlagnahme.
3
Mit Schriftsatz vom 20.08.2018 beantragte die Schuldnerin die Einstellung des Verfahrens. Sie stehe seit langer Zeit mit der Gläubigerin in Kontakt, um eine einvernehmliche Lösung über die Veräußerung der Immobilie zu erreichen (Bl. 25/29 d. A.).
4
Mit Beschluss des Amtsgerichts … – Vollstreckungsgericht vom 26.09.2018 wurde sodann der Antrag der Schuldnerin vom 20.08.2018 auf einstweilige Einstellung des von der betreibenden Gläubigerin aus dem Beschlagnahmebeschluss vom 08.08.2018 betriebenen Verfahrens nach § 30 a ZVG zurückgewiesen (Bl. 38/41 d. A.).
5
Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Schuldnerin wurde mit Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 25.10.2018 zurückgewiesen (Az. 073 T 3599/18, Bl. 69/72 d. A.).
6
Mit Beschluss vom 08.05.2019 wurde durch das Amtsgericht – Vollstreckungsgericht – … der Gesamtverkehrswert der drei Versteigerungsobjekte auf … € festgesetzt (Bl. 160/163 d. A.).
7
Mit Verfügung vom 13.08.2019 wurde Zwangsversteigerungstermin für den 05.11.2019 bestimmt (Bl. 170/174 d. A.).
8
Mit Schriftsatz vom 13.08.2019 wurde seitens des Verfahrensbevollmächtigten der Schuldnerin beantragt, das angeordnete Versteigerungsverfahren einstweilen einzustellen. Als Begründung wurde angeführt, dass das Grundstück im 1. Quartal 2020 zu einem Preis von … € veräußert werden könne. Die Schuldnerin habe die Abtretung des hier zu erzielenden Kaufpreises angeboten, um die Versteigerung zu vermeiden (Bl. 175/176 d. A.).
9
Mit Beschluss des Amtsgerichts … – Vollstreckungsgericht vom 13.09.2019 wurde sodann der Antrag des Verfahrensbevollmächtigten der Schuldnerin vom 13.08.2019 auf einstweilige Einstellung des von der betreibenden Gläubigerin aus dem Beschlagnahmebeschluss vom 08.08.2018 betriebenen Verfahrens nach § 30 a ZVG zurückgewiesen (Bl. 181/184 d. A.).
10
Mit Schriftsatz vom 01.11.2019 wurde seitens des weiteren Verfahrensbevollmächtigten der Schuldnerin beantragt, die Zwangsvollstreckung für die Dauer von 6 Monaten einstweilen einzustellen. Als Begründung wurde angeführt, dass die Durchführung der Zwangsversteigerung eine sittenwidrige Härte darstelle, da bei der Schuldnerin bei Durchführung der Zwangsversteigerung eine erhöhte Wahrscheinlichkeit eines lebensbedrohlichen Zustands bestehe, also eine konkrete Lebensgefahr. Als Beweis wurde ein Attest von Dr. med. … vorgelegt (Bl. 191/193 d. A.). Das Attest sei eindeutig. Es bestehe eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass die Schuldnerin eine Zwangsversteigerung nicht überleben werde. Weiterhin wurde als Beweis im Bestreitensfall ein amtsärztliches medizinisches Gutachten nach Wahl des Gerichts angeboten. Es wurde zudem auf die Entscheidungen OLG Hamm, Az. 15 W 66/01 und BVerfG, Az. 1 BvR 1002/01, Bezug genommen. Die Versteigerung würde gegen die guten Sitten verstoßen. Es könne nicht sehenden Auges eine Vollstreckungshandlung durchgeführt werden, welche mit einiger Wahrscheinlichkeit Ursache für den Tod der Beteiligten sein könne (BGH V ZB 99/05). Das Verfahren wäre richtigerweise einzustellen. Es wäre eine befristete Einstellung zu beschließen und mit Auflagen zu versehen, die das Ziel hätten, die Gesundheit der Antragstellerin wieder herzustellen. Der konkrete Zusammenhang zwischen der konkreten Gefahr und der Durchführung der Versteigerung ergebe sich eindeutig aus dem Attest. Die Antragstellerin sei auch in Behandlung. Ohne Begutachtung sei es unmöglich, die konkreten Gefahren kurzfristig zu beseitigen. Der Termin am 05.11.2019 sei dringend abzusagen.
11
Das Amtsgericht … wies mit Verfügung vom 04.11.2019 darauf hin, dass die Vorlage eines allgemein-ärztlichen Attests nicht ausreichend sei. Es wurde Gelegenheit gegeben, bis zum morgigen Termin am 05.11.2019 eine fachärztliche Stellungnahme vorzulegen (Bl. 195 d. A.).
12
Sodann wurde mit Schriftsatz vom 05.11.2019 (Bl. 196/205 d. A.) durch den weiteren Verfahrensbevollmächtigten der Schuldnerin „der/die Rechtspfleger/Rechtspflegerin … wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt (Die Ablehnung bezieht sich auf jeden Rechtspfleger, der entscheiden will, so dass solche moves, wie das Auswechseln von Gerichtspersonen/Rechtspflegern zu unterlassen ist)“. Es sei jedes Attest zu beachten. Insofern sei die parteiische Rechtspflegerin, die sich über medizinische Tatsachen hinwegsetzen wolle, dringend abzulösen. Da bis zum heutigen Zeitpunkt keine angemessene Reaktion erfolgt sei und somit der Rechtspfleger offensichtlich nicht zeitnah entscheiden wolle, sondern die Entscheidungen in den Zuschlag ziehen wolle, sei der Rechtspfleger wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen.
13
Zudem wurde in dem Schriftsatz beantragt, abweichend von den gesetzlichen Vorschriften die beantragten Versteigerungsbedingungen festzusetzen. Auch solle der betreibende Gläubiger dem Gericht Auskunft über die Höhe der persönlichen Forderung erteilen. Schließlich wurde ausgeführt, dass der Zuschlag vorliegend nicht im Versteigerungstermin ergehen dürfe (§ 87 ZVG). Der Schuldner sei anwaltlich vertreten, aber der Rechtsanwalt im Termin nicht anwesend. Insoweit sei den Schuldnern zu ermöglichen hinsichtlich des Ablaufs der Versteigerung einen Einstellungsantrag durch seinen Rechtsanwalt zu stellen. Der Unterfertigte wolle sich zum Ablauf der Versteigerung äußern. Dieses Recht sei auch Ausfluss des Fairplay durch das Versteigerungsgericht. Das Gericht habe grundsätzlich vor Entscheidungen gegen den Schuldner darauf hinzuweisen und Gelegenheit zur Äußerung zu geben.
14
Das Amtsgericht – Vollstreckungsgericht – … hat durch Beschluss vom 05.11.2019 – nach Durchführung des Versteigerungstermins (vgl Niederschrift Bl. 232/240 d. A.). – die verfahrensgegenständlichen Beschlagnahmeobjekte im Gesamtausgebot zugeschlagen an … und … zu je 1/2 Anteil für den bar zu zahlenden Betrag von … €. Zugleich wurden die Anträge der Schuldnerin vom 01.11.2019 und 05.11.2019 gemäß § 765a ZPO, der Antrag auf Ablehnung der Rechtspflegerin, der Antrag auf Auskunft zur Höhe der persönlichen Forderung und der Antrag auf Bestimmung eines Verkündungstermins zurückgewiesen (Bl. 241/251 d. A.).
15
Gegen diesen Zuschlagbeschluss hat der weitere Verfahrensbevollmächtigte der Schuldnerin mit Schreiben vom 11.11.2019 Beschwerde eingelegt. Die Beschwerde wurde mit Schriftsatz vom 18.11.2019 begründet (Bl. 267/291 d. A.).
16
Es liege der Versagungsgrund §§ 100, 83 Nr. 6 ZVG vor.
17
Das Verfahren hätte für 6 Monate eingestellt werden müssen und der Zuschlag versagt werden müssen (§ 33 ZVG). Folglich sei der Zuschlagbeschluss aufzuheben, weil nach vorliegender Beschwerde einzustellen sei (insoweit wurde auf Entscheidungen LG Hannover, AG Tuttlingen und LG Hildesheim verwiesen). Der Beschwerdeführerin sei nicht ausreichend rechtliches Gehör gewährt worden. Es sei der Anspruch auf ein faires Verfahren das Recht auf effektiven Rechtsschutz verletzt. Das Gericht habe sich bei Entscheidung über den Vollstreckungsschutzantrag von sachfremden Erwägungen leiten lassen. Das Attestieren einer konkreten Gefahr für Leib und Leben bei einer Versteigerung reiche für das Einholen eines Gutachtens. Das Beweisangebot wurde wiederholt, dass der Schuldnerin bei einem endgültigen Verlust des Eigentums an Haus und Grundstück im Zwangsversteigerungsverfahren konkret an Leib und Leben gefährdet sei und diese Gefahr auf andere Weise als durch Aufhebung des Zuschlags nicht wirksam begegnet werden könne. Das Sachverständigengutachten sei zwingend durch das Gericht zu erholen. Der Zuschlagsbeschluss sei deshalb aufzuheben und der Zuschlag zwingend zu versagen. Keinesfalls dürfe der Zuschlagsbeschluss gerettet werden, zum Beispiel in der Form, dass die Vollstreckung aus dem Zuschlag eingestellt wird und ein Gutachten eingeholt wird. Ist ein Gutachten einzuholen, wäre von vornherein das Verfahren einzustellen gewesen, mit der Folge dass der Zuschlag hätte versagt werden müssen (§ 33 ZVG).
18
Die Rechtspflegerin hätte weiterhin den Zuschlag nicht erteilen dürfen, solange die Entscheidung über das Rechtspflegerablehnungsgesuch nicht rechtskräftig war (Stöber, ZVG, Einleitung 26.4, BGH NJW-RR 2008,216).
19
Der Zuschlagsbeschluss sei auch deshalb aufzuheben, da die Schuldnerin schon am 13.08.2019 einen Vollstreckungsschutzantrag wegen eines Kaufangebotes gestellt habe. Dieses Angebot entspreche der geltenden Rechtsprechung. Der Antrag nach § 765 a ZPO hätte niemals abgewiesen werden dürfen (vgl. LG Kaiserslautern, Az. 1 T 140/94: konkreter Kaufinteressent unter Angabe eines erzielbaren Kaufpreises und Nachweis, dass der Kauf des Grundstücks zumindest unmittelbar bevorsteht). Das Gericht habe sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich damit auseinanderzusetzen.
20
Schließlich läge ein Versagungsgrund gemäß §§ 100,83 Nr. 6 ZVG vor, da das Finanzamt die Bescheide für das Ehepaar geschätzt habe. Dagegen sei Einspruch eingelegt worden. Das Finanzamt habe trotzdem vollstreckt und dann Insolvenzantrag gestellt. Die Versteigerung sei unter falschen Bedingungen eingeleitet worden. Eine Insolvenz habe überhaupt nicht vorgelegen. Hätte das Finanzamt richtig gehandelt, hätte es das Versteigerungsverfahren überhaupt nicht gegeben.
21
Das Amtsgericht – Vollstreckungsgericht – … hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 26.11.2019 nicht abgeholfen und die Akte dem Landgericht Augsburg als zuständigem Beschwerdegericht vorgelegt (Bl. 294/297 d. A.).
22
Mit Beschluss vom 23.12.2019 wurde das Verfahren gemäß § 568 ZPO der Kammer zur Entscheidung übertragen (Bl. 303/305 d. A.).
23
Auf entsprechenden Hinweis der Kammer hin wurde seitens der Schuldnerin mit Schriftsatz vom 14.01.2020 ein Gutachten von Dr. med. … vorgelegt. Dieses Gutachten reiche für die Einstellung des Verfahrens und die Aufhebung des Zuschlags (Bl. 323/324 d. A.)
24
Das Beschwerdegericht hat mit Beschluss vom 24.01.2020 die Zwangsvollstreckung aus dem Zuschlagsbeschluss des Amtsgerichts … gegen die Schuldnerin einstweilig eingestellt und mit weiterem Beschluss vom 24.01.2020 ein psychiatrisches Sachverständigengutachten zur Klärung der Frage, ob bei der Schuldnerin zu 1) eine konkrete und akute Suizidgefahr im Zusammenhang mit dem vorliegenden Zwangsversteigerungsverfahren, insbesondere dem Zuschlagsbeschluss und einer etwaigen Räumungsvollstreckung aus diesem Beschluss, besteht.
25
Der Sachverständige Dr. … hat ein Gutachten erstellt, welches auf den 30.04.2020 datiert (Bl. 350/367 d. A.). Zudem hat der Sachverständige unter dem 10.06.2020 eine ergänzende Stellungnahme abgegeben (Bl. 390/393 d. A.). Die Verfahrensbeteiligten erhielten jeweils Gelegenheit zur Stellungnahme zu den Gutachten.
II.
26
1. Die sofortige Beschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig, §§ 96, 98, 100 ZVG, 567 Abs. 1 Nr. 1, 569 Abs. 1, Abs. 2 ZPO.
27
Sie erweist sich jedoch als unbegründet. Insoweit kann zunächst auf die zutreffenden Gründe der angegriffenen Entscheidung sowie des Nichtabhilfebeschlusses Bezug genommen werden.
28
Eine Zuschlagsentscheidung kann lediglich mit den in § 100 ZVG angeführten Beschwerdegründen angefochten werden. Die gemäß § 100 Abs. 3 ZVG von Amts wegen zu prüfenden Versagungsgründe des § 83 Nr. 6, 7 ZVG liegen nicht vor:
29
Die Formvorschriften der §§ 43 Abs. 1 und 73 Abs. 1 ZVG wurden eingehalten (§ 83 Nr. 7 ZVG).
30
Nach Prüfung der Aktenlage und der von der Kammer durchgeführten Beweisaufnahme ist die Kammer auch der Überzeugung, dass der Zuschlag auch nicht deshalb zu versagen war, weil die Zwangsversteigerung bzw. Fortsetzung des Verfahrens aus einem sonstigen Grund gemäß § 83 Nr. 6 ZVG unzulässig war.
31
a) Zunächst liegt kein Versagungsgrund gemäß §§ 100, 83 Nr. 6 ZVG vor, weil das Finanzamt … trotz eines Einspruchs gegen die Schuldnerin vollstreckt und Insolvenzantrag gestellt habe und die Versteigerung daher unter falschen Bedingungen eingeleitet worden sei.
32
Einerseits wird die Zwangsversteigerung im vorliegenden Verfahren nicht vom Finanzamt … betrieben, sondern betreibende Gläubigerin ist die …,, die aus einer Grundschuld vorgeht. Die Ausführung der Schuldnerin, hätte das Finanzamt richtig gehandelt, hätte es das Versteigerungsverfahren überhaupt nicht gegeben, ist daher nicht zu treffend. Dies mag für das Insolvenzverfahren gelten, wo tatsächlich der Insolvenzantrag vom Finanzamt … gestellt wurde, aber nicht für das hiesige Zwangsvollstreckungsverfahren.
33
Andererseits könnten Einwände gegen das Bestehen einer Forderung des betreibenden Gläubigers im Rahmen der Versteigerung nicht erhoben werden. Der Gesetzgeber hat die Problematik der Geltendmachung eventuell nicht oder nicht mehr bestehender Ansprüche in der Zwangsvollstreckung sehr wohl gesehen und in §§ 767, 769 ZPO klar, eindeutig und abschließend geregelt und dem Vollstreckungsgericht eine Zuständigkeit nur in ganz bestimmten Fällen zugewiesen, nämlich wenn das Prozessgericht nach Bekanntwerden einer materiellen Einwendung nicht mehr rechtzeitig vor Durchführung der Zwangsvollstreckungsmaßnahme entscheiden kann (vgl. Thomas Putzo, ZPO, 36. Auflage, Rdnr. 4 zu § 769 ZPO). Dies war vorliegend aber eindeutig nicht der Fall, da die Schuldnerin seit der Verfahrenseröffnung am 08.08.2018 bis zum Versteigerungstermin mehr als ein Jahr Zeit hatte, sich an das Prozessgericht zu wenden, wenn es denn im Versteigerungsverfahren um die Forderung des Finanzamtes gehen würde. Mangelnde finanzielle Mittel hätten einem solchen Vorgehen auch nicht entgegengestanden, da in diesem Fall Prozesskostenhilfe hätte beantragt werden können und im Fall der Erfolgsaussicht des Vorgehens auch bewilligt worden wäre.
34
b) Der Zuschlagsbeschluss ist auch nicht wegen des Vollstreckungsschutzantrages der Schuldnerin vom 13.08.2019 aufzuheben. Dieses Angebot der Schuldnerin hätte aus Sicht der Beschwerdeführerin niemals abgewiesen werden dürfen, aber das Gericht habe sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich damit auseinanderzusetzen.
35
Das Amtsgericht … hat sich mit dem Angebot auseinandergesetzt und mit Beschluss vom 13.09.2019 den Antrag des Verfahrensbevollmächtigten der Schuldnerin vom 13.08.2019 auf einstweilige Einstellung des von der betreibenden Gläubigerin aus dem Beschlagnahmebeschluss vom 08.08.2018 betriebenen Verfahrens nach § 30 a ZVG zurückgewiesen (Bl. 181/184 d. A.). Dabei musste sich das Amtsgericht mit dem Angebot – mag es auch der geltenden Rechtsprechung entsprechen – in der Sache nicht befassen, da im Falle der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners der Insolvenzverwalter eines zur Insolvenzmasse gehörenden (pfändbaren) Rechts am Grundstück allein verfügungsbefugt ist (Stöber, ZVG, 21. Auflage, § 9, Ziffer 3.15; § 15, Ziffer 23.9 ff). Die Schulderin kann unter diesen Umständen nur noch dann eine einstweilige Einstellung des Verfahrens beantragen, wenn sie einen Insolvenzplan vorgelegt hätte (§ 30 d Abs. 2 ZVG; Stöber, ZVG, 21. Auflage, § 9, Ziffer 3.15) dies ist hier nicht erfolgt, so dass der Antrag der Schulderin vom 13.08.2019 nicht zu einer vorläufigen Einstellung des Verfahrens führen konnte. Im übrigen wurde gegen den Beschluss des Amtsgerichts … vom 13.09.2019 keine Beschwerde eingelegt.
36
c) Der Befangenheitsantrag vom 05.11.2019 stand dem Erlass des Zuschlagsbeschlusses darüber hinaus auch nicht entgegen.
37
Der Beschwerde ist zuzustimmen, dass der als befangen abgelehnte Rechtspfleger grundsätzlich keine Entscheidung über den Zuschlag treffen darf, solange die Entscheidung über das Rechtspflegerablehnungsgesuch nicht rechtskräftig war (Stöber, ZVG, Einleitung 26.4).
38
Anders verhält es sich jedoch, wenn das Ablehnungsgesuch rechtsmissbräuchlich ist. Die Übergehung eines solchen Gesuchs kann nicht als sonstiger – der Zuschlagserteilung einstweilen entgegenstehender – Grund im Sinne von § 83 Nr. 6 ZVG anerkannt werden.
39
Der auch das Zwangsvollstreckungsrecht beherrschende Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verpflichtet die Parteien zu redlicher Verfahrensführung und verbietet insbesondere den Missbrauch prozessualer Befugnisse (std. Rspr.; BGH, Beschluss vom 21. Juni 2007, Az. V ZB 3/07, NJW-RR 2008,216; BGH NJW-RR 2005, 1226).
40
Ebenso wie ein Richter im Falle eines gegen ihn gerichteten rechtsmissbräuchlichen Ablehnungsgesuchs darf auch ein Rechtspfleger einen gegen ihn gerichteten rechtsmissbräuchlichen Befangenheitsantrag selbst als unzulässig verwerfen (Stöber, ZVG, Einleitung 26.3; BGH, Beschluss vom 14.04.2005, Az. V ZB 7/05; BayObLG, Az. 2 Z BR 107/92). Dieser Ausnahmefall, in dem § 47 ZPO nicht gilt, war vorliegend gegeben.
41
Der Befangenheitsantrag im Schriftsatz vom 05.11.2020 – dem Tag des Versteigerungstermins – diente ersichtlich allein dazu, eine Aufhebung bzw. Verlegung des Termins zur Verkündung einer Entscheidung über den Zuschlag zu erreichen und damit das Verfahren weiter zu verschleppen, wie auch die Rechtspflegerin im Beschluss vom 05.11.2019 zutreffend angenommen hat. Die Schuldnerin hat die Rechtspflegerin abgelehnt, nachdem deutlich geworden war, dass die Rechtspflegerin vor dem Versteigerungstermin und der Entscheidung über den Zuschlag nicht über die von der Schuldnerin gestellten Anträge auf einstweilige Einstellung des Verfahrens entscheiden würde. Die von der Rechtspflegerin beabsichtigte Verfahrensweise ist jedoch zulässig (Stöber, ZVG, 21. Aufl., Einl. Anm. 58.3). Der Rechtsschutz der Schuldnerin ist dadurch gewahrt, dass die Zurückweisung des Einstellungsantrags im Rahmen der Anfechtung der Entscheidung über den Zuschlag der Nachprüfung zugänglich ist (vgl. BGH NJW 1965, 2107). Die erkennbare Absicht der Rechtspflegerin, in dieser Weise zu verfahren, erlaubt nicht die Feststellung eines nachvollziehbaren Grunds für die Befürchtung, die Entscheidung über den Einstellungsantrag und den Zuschlag werde nicht unparteiisch erfolgen. Damit ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass der Rechtspfleger das Ablehnungsgesuch als rechtsmissbräuchlich und offensichtlich allein als zum Zwecke der Verzögerung des Verfahrens eingelegt gewertet und über die Verwerfung des Gesuchs selbst entschieden hat (vgl. hierzu auch: BGH NJW-RR 2005, 1226).
42
Die Kammer sieht den Antrag auch deshalb als zum Zwecke der Verzögerung des Verfahrens gestellt an, da fehlerhafte Rechtsauffassungen und (etwaige) Verfahrensverstöße – wie hier mit Blick auf die Forderung der Rechtspflegerin in der Verfügung vom 04.11.2019 nach der Vorlage eines fachärztlichen Attestes geltend gemacht – im Rahmen der Prozessleitung oder (etwaig) fehlerhafte Entscheidungen grundsätzlich nicht geeignet sind, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen (vgl. hierzu Zöller-Vollkommer, ZPO, 31. Auflage, § 42, Rz. 28 m. w. N.). Die Ablehnung wegen Befangenheit ist grundsätzlich kein Instrument zur Fehler – und Verfahrenskontrolle. Die Stützung des Ablehnungsgesuchs hierauf erachtet die Kammer als vorgeschoben, weil es für jeden verständigen Verfahrensbeteiligten auf der Hand liegt, dass der geltend gemachte Grund unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt die Besorgnis der Befangenheit zu rechtfertigen vermag.
43
Letztlich rechtfertigt auch der Wortlaut des Befangenheitsantrages (“(Die Ablehnung bezieht sich auf jeden Rechtspfleger, der entscheiden will, so dass solche moves, wie das Auswechseln von Gerichtspersonen/Rechtspflegern zu unterlassen ist):“) einen Rückschluss auf eine Missbräuchlichkeit des Antrags, auch in Zusammenschau mit dem Umstand, dass das Zwangsversteigerungsverfahren bereits seit August 2018 läuft.
44
Es ist dabei auch ohne Belang, ob und wann der abgelehnte Rechtspfleger die Befangenheitsanträge als unzulässig zurückgewiesen hat. So führt der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 21.06.2007 (Az: V ZB 3/07) aus, dass die rechtsmissbräuchliche Ablehnung des Rechtspflegers nicht als sonstiger – der Zuschlagserteilung einstweilen entgegenstehender – Grund im Sinne von § 83 Nr. 6 ZVG anerkannt werden kann, wenn der Rechtspfleger davon abgesehen hat, das Ablehnungsgesuch vor der Entscheidung über den Zuschlag selbst als unzulässig zu verwerfen (vgl. BGH a. a. O. mit weiterer Begründung).
45
Aus der Berechtigung der Rechtspflegerin, den Befangenheitsantrag selbst als unzulässig zu verwerfen, folgt nicht nur, dass die Rechtspflegerin am 05.11.2019 den Zuschlagsbeschluss erteilen durfte, sondern auch, dass die gegen die Verwerfung des Antrags gerichtete Beschwerde unbegründet ist.
46
d) Schließlich liegen auch die Voraussetzungen einer Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses und Einstellung des Verfahrens aufgrund der von der Schuldnerin vorgetragenen Suizidgefahr nicht vor.
47
Die Versagung des Zuschlags hat nach § 100 ZVG insbesondere dann zu erfolgen, wenn das Verfahren nach Vorschriften des ZVG oder der ZPO einzustellen gewesen wäre (Stöber, ZVG, 22. Auflage 2019, § 83 RN 22).
48
aa) § 765 a ZPO ist auch im Zwangsversteigerungsverfahren anwendbar (Stöber, ZVG, 18. Auflage, Einleitung Rdnr. 52) und eine Ausnahmevorschrift, die eng auszulegen ist. Nur in besonders gelagerten Fällen, nämlich dann, wenn im Einzelfall das Vorgehen des Gläubigers zu einem ganz untragbaren Ergebnis führen würde, ist eine Aufhebung oder Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens gerechtfertigt (Münchener Kommentar zur ZPO/Heßler, 5. Auflage 2016, § 765a, Rn. 1; Zöller/Stöber, ZPO, 27. Auflage, § 765 a Rdnr. 5).
49
Zwar kann die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners im Verfahren über die Zuschlagsbeschwerde zur Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses und zur einstweiligen Einstellung des Verfahrens führen (Stöber, ZVG, 19. Auflage, Einl. Rn. 56.6, 59.10 b). Dies setzt aber voraus, dass der Eigentumsverlust durch den Zuschlag bzw. die Endgültigkeit der Zuschlagserteilung der für die Suizidgefahr maßgebliche Grund ist.
50
So ist nach der ständigen Rechtsprechung einer Beschwerde gegen den Zuschlagsbeschluss nach § 100 Abs. 3 i.V.m. § 83 Nr. 6 ZVG stattzugeben, wenn wegen eines Vollstreckungsschutzantrags des Schuldners nach § 765a ZPO der Zuschlag wegen einer bereits mit dem Eigentumsverlust verbundenen konkreten Gefahr für das Leben des Schuldners oder eines nahen Angehörigen nicht hätte erteilt werden dürfen oder wenn die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners während des Beschwerdeverfahrens zu Tage getreten ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Zwangsversteigerung ohne Weiteres einstweilen einzustellen oder aufzuheben wäre. Vielmehr ist zur Wahrung der ebenfalls grundrechtlich geschützten Interessen des Vollstreckungsgläubigers und des Erstehers zu prüfen, ob der Lebens- oder Gesundheitsgefährdung auch anders als durch eine Einstellung oder Aufhebung der Zwangsversteigerung wirksam begegnet werden kann (vgl. z. B. BGH Beschluss vom 19.9.2019, Az. V ZB 16/19, Rn. 4; BGH NZM 2015, 264).
51
Es ist in derartigen Fällen eine Abwägung der ganz besonders gewichtigen Interessen des Betroffenen (Lebensschutz, Art. 2 Abs. 2 GG) mit den Vollstreckungsinteressen des Gläubigers geboten. Dabei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich auch der Gläubiger auf Grundrechte berufen kann. Die Aufgabe des Staates, das Recht zu wahren, umfasst die Pflicht, titulierte Ansprüche notfalls mit Zwang durchzusetzen und dem Gläubiger zu seinem Recht zu verhelfen (BVerfGE 49, 220, 231). Der Gläubiger hat gemäß Art. 19 Abs. 4 GG einen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz (vgl. BVerfGE 49, 220, 225). Mit Blick auf die Interessen des Erstehers gilt nichts anderes. Nötigenfalls wäre der Zuschlagsbeschluss aufzuheben (vgl. BGH, Beschluss vom 04. Mai 2005, Az. I ZB 10/05; Beschluss vom 24. November 2005, Az. V ZB 99/05; Beschluss vom 15. Juli 2010, Az. V ZB 1/10; Beschluss vom 13. Oktober 2016 – V ZB 138/15; BVerfG, Beschluss vom 27. 06. 2005, Az. 1 BvR 224/05).
52
Liegt hingegen der Grund für die Absicht der Selbsttötung darin, dass der gefährdete Schuldner den Verlust seines bisherigen Lebensmittelpunkts infolge der nach dem Zuschlag drohenden Zwangsräumung fürchtet, reicht es aus, dass der Suizidgefahr durch einen Antrag auf einstweilige Einstellung der dem Versteigerungsverfahren folgenden Räumungsvollstreckung begegnet werden kann. In diesem Fall dürfen erst im Verfahren der Zuschlagsbeschwerde zu Tage getretene neue Umstände unberücksichtigt bleiben und müssen nicht zur Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses führen (BGH NJW 2006, 505). Geht die Lebensgefahr nicht von dem mit der Zuschlagserteilung einhergehenden Eigentumsverlust aus, sondern nur von der nach dem Zuschlag drohenden Zwangsräumung, darf der Zuschlag nicht versagt werden (Stöber, ZVG, 19. Auflage, Einl. Rn. 56.6, 59.10 b; Kindl/Meller-Hannich/Wolf, Gesamtes Recht der Zwangsvollstreckung, ZPO § 765a, Rn. 30; BGH, Beschluss vom 24. November 2005, Az. V ZB 99/05; Beschluss vom 15. Juli 2010, Az. V ZB 1/10).
53
bb) Dies auf den vorliegenden Fall angewandt, gilt Folgendes:
54
Bei Fallgestaltungen der vorliegenden Art ist vorrangig festzustellen, aus welchem Grund die Absicht zur Selbsttötung besteht. Diesbezüglich bestanden zunächst auch Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für Leib oder Gesundheit der Schuldnerin im Zusammenhang mit dem Zuschlagsbeschluss, denen von Amts wegen nachzugehen gewesen wäre (Stöber, ZVG, 22. Auflage 2019, Einl. Rn 272). Der Verfahrensverstoß des Amtsgerichts ist jedoch mit Blick auf die folgenden Ausführungen nicht kausal geworden.
55
(a) Zunächst hat die Kammer die von der Schuldnerin selbst vorgelegten Atteste einer kritischen Würdigung unterzogen.
56
Einerseits beruft sich die Schuldnerin auf ein Attest ihres Hausarztes. Dr. … ist Facharzt für Allgemeinmedizin und weist auf dem Briefkopf auch die Bereiche Chemotherapie, Homöopathie und Umweltmedizin aus. Nach dem ärztlichen Attest von Dr. … vom 30.10.2019 (Bl. 93 d. A.) sei die Schuldnerin zwar in einem äußerst labilen Zustand. Es sei zu befürchten, wenn ihr Heim zu diesem Zeitpunkt versteigert werde, dass Gefahr für Leib und Leben bestehe. Er empfehle dringend, diese Versteigerung für ein halbes Jahr auszusetzen. Er habe der Schuldnerin neben medikamentöser Therapie empfohlen, ab 11.11.2019 bei Frau Dr. …, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie in …, eine Therapie zu beginnen. Bis dahin sei die Praxis leider wegen Urlaub geschlossen. Bei einem akuten Notfall solle die Betroffene sofort die psychiatrische Notfallambulanz des BKH … aufsuchen. Im Attest wird jedoch letztlich kein Befund einer psychiatrischen Untersuchung wiedergegeben, der Grundlage für die Beurteilung einer Suizidalität der Schuldnerin sein kann.
57
Andererseits wurde ein neurologisch-psychiatrisches, sozialmedizinisches Gutachten von Dr. … vom 19.11.2019 vorgelegt, welches von Dr. …, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Psychotherapie, Homöopathie, unter dem 09.07.2020 – überarbeitet – nochmals vorgelegt wurde.
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Der Privatsachverständige führt zur Thematik einer Suizidgefahr aus, dass die Schuldnerin als Eigentümerin der Immobilie der Zwangsvollstreckung nicht habe beiwohnen können, weil sie psychisch sehr krank sei und häufige Suizidpläne habe und ihr Lebensende herbeisehne, da die Lebenswirklichkeit unerträglich geworden sei. Nur die Kinder und Enkel hätten bisher gerade noch das Schlimmste verhindern können. Sie sei komplett überfordert und extrem depressiv, die raptusartigen Suizidimpulse und ständig kreisende Gedanken daran nähmen immer mehr zu. In ihrer Not habe sich bisher an den Hausarzt gewandt, fachärztliche Unterstützung nehme sie jetzt auch in Anspruch. Die impulsiven Suizidgedanken müssten sehr ernst genommen werden, da der erfolgreiche Suizid eine endgültige Lösung für sie darstelle, Ruhe durch den Tod zu finden und damit alle Probleme zu lösen. Auch die Kinder und Angehörigen könnten ihr nicht wirklich helfen. Das wäre zwar eine negative Bilanz, aber eine, bei der sie sich nicht mehr weiterplagen müsste. In psychischer Hinsicht zeige sich ein schwer depressive Affekt mit starker Ängstlichkeit, Panikstörung, Instabilität und häufigeren Suizidimpulsen, die bei entsprechenden Ereignissen wie der bevorstehenden Zwangsräumung in ein unmittelbar nicht mehr steuerbares Suizidverhalten übergehen könnten mit einem erfolgreichen Suizid.
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In seiner Stellungnahme vom 19.11.2019 spricht der Privatgutachter somit selbst von Suizidimpulsen wegen der bevorstehenden Zwangsräumung, nicht aber wegen des mit der Zuschlagserteilung verbundenen Eigentumsverlustes.
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Unter dem 09.07.2020 überarbeitete der Privatsachverständige Dr. … sein Gutachten vom 19.11.2019 und gab eine Stellungnahme zum gerichtlichen Sachverständigengutachten ab. Darin schilderte der Privatgutachter nunmehr, dass die Schuldnerin bei seiner ersten Begutachtung suizidal gewesen sei und sich auch eindeutig in Vorstellungen und Wünschen bei den Suizidplänen geäußert habe. Sie habe jedoch aufgrund der Öffentlichkeit zum eigenen Schutz die Suizidpläne nicht im Gutachten offenlegen wollen und es dabei belassen, die Suizidalität zu bestätigen. Sie habe bereits damals keine Perspektive gehabt und sei völlig am Ende ihrer Hoffnungen angekommen gewesen. Damals und heute quäle sie die Frage, warum kein freihändiger Verkauf des Objekts möglich gewesen sei und aus ihrer Sicht durch ominöse Machenschaften der Bank zunichte gemacht worden sei. Dr. … kenne die Schuldnerin nicht. Er habe sie erstmals beim Gutachtenstermin kennengelernt. Er habe sie auch später nicht behandelt.
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Auf Grundlage der seitens der Schuldnerin vorgelegten Atteste ist infolgedessen festzustellen, dass gerade der Eigentumsverlust der für die Suizidgefahr maßgebliche Grund ist.
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(b) Die Kammer stützt ihre Überzeugung letztlich auf die gutachterlichen Stellungnahmen des Gerichtssachverständigen Dr. … vom 30.04.2020 (Bl. 350/367 d. A.) und 10.06.2020 (Bl. 390/393 d. A.). Die Verfahrensbeteiligten erhielten Gelegenheit, zu diesen Gutachten jeweils Stellung zu nehmen.
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Der Sachverständige untersuchte die Schuldnerin am 23.04.2020, nachdem zunächst wegen der Covid-19 Situation kein früherer Termin stattfinden konnte. Die Schuldnerin wurde selbst auch positiv auf Covid-19 getestet.
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Laut Gutachten vom 30.04.2020 habe der Sachverständige die Schuldnerin vom psychiatrischen Untersuchungsbefund her im Affekt depressiv gestimmt erlebt bei aufgehobener Modulations- und Resonanzfähigkeit. Im formalen Denken sei sie kreisend, verlangsamt und zum Teil inkohärent gewesen, im inhaltlichen Denken kaum auslenkbar ganz auf depressive Inhalte eingeengt. Die Schuldnerin habe eine negativistische Zukunftseinschätzung. Es sei eine prämorbide Persönlichkeit wohl mit ausgeprägten hyperthymen, histrionischen und narzisstischen Zügen festzustellen. Es sei Krankheitseinsicht vorhanden und dem Grunde nach Behandlungsbereitschaft. Diese werde jedoch auch eingeschränkt erlebt durch die soziale Situation und die finanziellen Möglichkeiten. Kritik- und Urteilsfähigkeit seien erhalten. Derzeit bestehe akute Suizidalität.
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Nach den Ausführungen des Sachverständigen im Gutachten vom 30.04.2020 bestehe aus nervenärztlicher Sicht eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptomatik. In seiner gutachterlichen Untersuchung habe gesichert werden können, dass eine akute Suizidalität bestehe und die Schuldnerin diesbezüglich sich sehr eindeutig geäußert habe. An sich wäre das korrekte Vorgehen des Sachverständigen bei den Angaben der Klägerin gewesen, sie unmittelbar an die Begutachtung anschließend ins BKH einzuweisen. Da die Schuldnerin jedoch glaubhaft versichert habe, dass sie am Folgetag der Untersuchung zu Dr. … in … gehe, habe er davon ausgehen können, dass die Schuldnerin in Begleitung und Überwachung ihres Ehemannes durchaus bis zu diesem Zeitpunkt sich wohl das Leben nicht nehmen werde. Darüber hinaus werde von der Schuldnerin als letzte Hoffnung erlebt, dass sie durch die Begutachtung einen Aufschub in ihrem Zwangsversteigerungsverfahren erhalte und noch länger an ihrem jetzigen Wohnort verbleiben könne, was die akute Suizidalität derzeit mindere.
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Die Schuldnerin werde mit Sicherheit derzeit nicht intensiv genug psychiatrischerseits behandelt. Es wäre eine kompetente psychopharmakologische Behandlung notwendig, nicht eine selbst finanzierte Therapie mit Neurexan (einem schulmedizinisch und naturkundlich in der Wirkung sehr umstrittenen, homöopathischen Komplexmedikament). Dies sei bislang nicht erfolgt, obwohl dies bereits im November 2019 durch den Vorgutachter Dr. … dringend angeregt worden sei, also der Schuldnerin bekannt. Inwieweit hier die ungeklärte Finanzierungsituation der privaten Krankenversicherung ausschlaggebend gewesen sei oder ein tendenzielles Verhalten der Klägerin, dass sie ihre depressive Erkrankung nutze, um das gegenständliche Verfahren zu verlängern, könne gutachterlich nicht sicher beurteilt werden.
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Prognostisch sei in jedem Fall zu erwarten, dass sich eine Depression unter adäquater, hier auch psychopharmakologischer Behandlung, wieder bessern werde. In aller Regel sei ein Behandlungszeitraum von drei bis sechs Monaten realistisch. Die Schuldnerin solle hier auf die Mitwirkung an ihrer Gesundung verpflichtet werden. Ob sie dieser nachkomme, solle im Rahmen einer erneuten Begutachtung in 3 Monaten von einem unabhängigen Gutachter festgestellt werden.
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Zusammenfassend gibt der Sachverständige Dr. … in seinem Gutachten vom 30.04.2020 an, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der Schuldnerin eine konkrete und akute Suizidgefahr im Zusammenhang mit dem vorliegenden Zwangsversteigerungsverfahren, insbesondere im Zusammenhang mit dem Zuschlagsbeschluss und einer etwaigen Räumungsvollstreckung vorliege. Bei der Klägerin bestehe die schwere depressive Symptomatik, die sich durchaus im Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren weiter verschlechtert habe. Im Gutachtensgespräch eher nebenbei erwähnte Gedankenspiele der Schuldnerin deuteten psychiatrisch-gutachterlicherseits allerdings darauf hin, dass die Schuldnerin möglicherweise bewusstseinsnah nicht abgeneigt sei, die psychiatrische Erkrankung zu einer Beeinflussung des Gerichtsverfahrens in Ihrem Sinne zu nutzen. Dies relativiere die Gefahr der aktiven Suizidalität, wenn auch in einem psychiatrisch nur schwer einschätzbaren Maße.
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Der Sachverständige Dr. … äußerte sich auch zum vorgelegten Gutachten des Privatsachverständigen Dr. … vom 19.11.2019. Dieser gebe ausführlich den Rechtsstreit der Betroffenen wieder. Hierzu merkt der Sachverständige Dr. … zur Anamneseerhebung kritisch an, dass der Privatsachverständige bei der Anamneseerhebung bereits eindeutig Position für die Betroffene gegen das sie laufende Verfahren beziehe. Im Sprachduktus zeige er an, dass er das Gutachten nicht im Sinne eines gerichtlichen Gutachters unabhängig von den Einflussnahmen der Prozessparteien verfasst habe. Im psychischen Befund werde in der Systematik des ICD-10 eine mittelschwere depressive Symptomatik niedergelegt. Sehr unscharf bleibe die Beschreibung im psychischen Befund, worauf sich die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung stütze. Erst in der Zusammenfassung und Beurteilung erwähne der Privatgutachter in seinem Gutachten die häufigen Suizidimpulse und die Instabilität der Schuldnerin, nicht jedoch im psychopathologischen Befund (hier nur lapidar als rezidivierende Suizidalität bezeichnet), wo sie aus psychiatrischer Sicht von erheblichem Belang, weil medizinisch objektivierbar begründet gewesen wären. Daraus folgt für die Kammer, dass die Feststellungen des Privatsachverständigen Dr. … kritisch zu würdigen sind.
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Der Sachverständige Dr. … nahm ferner mit Gutachten vom 10.06.2020 ergänzend dazu Stellung (Bl. 390/393 d. A.), ob die Schuldnerin am 05.11.2019 als suizidal einzuschätzen war, also der Zuschlag die Gefahr darstelle. Für das Datum des 05.11.2019 sei in den Akten kein psychiatrischer Befundbericht vorgelegen, sodass nicht mit Sicherheit gesagt werden könne, ob zum damaligen Zeitpunkt Suizidalität vorgelegen habe oder auch nicht, so der Sachverständige Dr. … Der Gutachter Dr. … habe in seinem Gutachten vom 19.11.2019 eine schwere reaktive Depression festgestellt sowie eine posttraumatische Belastungsstörung. Allerdings habe dieser in seinem Gutachten nicht angegeben, worauf sich die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung stütze und auch nicht genau, ob Suizidalität vorgelegen habe. In seinem psychopathologischen Befundbericht erwähne er lediglich eine rezidivierende Suizidalität. Was er genau damit meine, führe er in seinem Gutachten nicht aus.
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Vom Gesamtverlauf her könne deshalb zum jetzigen Zeitpunkt rückblickend zum 05.11.2019 aus nervenärztlicher Sicht festgestellt werden, dass die Zuschlagserteilung für die Schuldnerin durchaus ein belastendes Erlebnis gewesen sei, so der Sachverständige Dr. … Es scheine jedoch nicht derart belastend gewesen zu sein, dass der wenige Tage später zugezogene Gutachter eine akute Suizidalität festgestellt habe. Hätte er diese festgestellt, hätte er umgehend Schritte einleiten müssen, z. B. Einweisung der Schuldnerin eine psychiatrische Klinik oder Beginn einer unmittelbaren psychiatrischen Behandlung. Da dies nicht erfolgt sei, könne aus dem Vorgehen des Privatgutachters geschlossen werden, dass möglicherweise eine latente Suizidalität vorgelegen habe, nicht jedoch eine schwere, d. h. akute, die unmittelbar zu Konsequenzen nach fachlichem Gebiet hätte führen müssen.
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Weder die depressive Verstimmung, noch die Suizidalität scheinen derartig gravierend ausgeprägt gewesen zu sein, dass ein sogenannter Stupor aufgetreten sei. Dieser sei ein Zustand, in dem daran erkrankte Patienten zu einer Reaktion auf ihre Umgebung nicht mehr in der Lage seien. Derartige Krankheitsbilder seien ausgesprochen selten und würden aller Regel auch gutachterlich nicht übersehen. Hinweise auf ein derartiges Krankheitsbild finden sich in dem Gutachten vom 19.11.2019 jedoch nicht.
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Der Sachverständige Dr. … äußert sich abschließend dahingehend, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit am Tag der Zuschlagserteilung, dem 05.11.2019, von keiner akuten Suizidalität auszugehen gewesen sei, jedoch von einer Belastungsreaktion, d. h. einer reaktiven Depression. Durchaus möglich sei, dass erst im Gefolge der Realisierung, welche Bedeutung dieser gerichtliche Schritt habe, bei der Schuldnerin eine Verschlechterung ihrer reaktiven Depression eingetreten sei und erst in diesem Gefolge eine akute Suizidalität aufgetreten sei.
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Die Kammer folgt letztlich in ihrer Entscheidung den Ausführungen des Gerichtssachverständigen Dr. … Dieser ist der Kammer aus zahlreichen Verfahren, auch im Zusammenhang mit zivilrechtlichen Unterbringungen zum Schutz des Betroffenen als zuverlässig und kompetent bekannt. Der Sachverständige begründet seine medizinische Einschätzung sorgfältig und überzeugend. Das Beschwerdegericht schließt sich den Ausführungen des Sachverständigen nach eigener kritischer Prüfung an.
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Die Kammer hat bei ihrer Prüfung nicht verkannt, dass es sich bei der Frage nach dem Bestehen von Suizidalität um ein dynamisches Geschehen handeln kann und Suizidgefahr in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden sein kann. Mit Blick auf die nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. … ergibt sich allerdings für die Kammer, dass die Schuldnerin am 05.11.2019 nicht akut suizidal war und dass somit auch nicht der Eigentumsverlust durch den Zuschlag der für die Suizidgefahr maßgebliche Grund ist. Die Kammer ist – sachverständig beraten – davon überzeugt, dass die Schuldnerin den Verlust ihres bisherigen Lebensmittelpunkts infolge der nach dem Zuschlag drohenden Zwangsräumung fürchtet. Von dem Verlust der Rechtsposition des Eigentümers geht zumeist kein so gewichtiger Einschnitt für die Lebensführung des Vollstreckungsschuldners aus, wie das bei dem bevorstehenden Verlust der Wohnung der Fall ist (so auch: BVerfG NJW 2007, 2910).
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Die Kammer kann somit nicht feststellen, dass gerade der Eigentumsverlust durch den an 05.11.2019 erteilten Zuschlag der für die Suizidgefahr maßgebliche Grund ist. Gründe für eine Aufhebung des Zuschlags und Einstellung des Verfahrens im Rahmen der Zuschlagsbeschwerde sind auf dieser Basis nicht ersichtlich.
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Über die Frage, wie einer fortbestehenden Suizidgefahr bei der Schuldnerin im weiteren Verfahren begegnet wird, hat die Kammer im Rahmen der Beschwerde nicht zu befinden.
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2. Eine Kostenentscheidung war vorliegend nicht veranlasst, da eine förmliche Zuziehung der Gläubigerin oder der Ersteher nicht erfolgt ist (Stöber, ZVG, 21. Auflage 2016, § 99 RN 2.5) und es sich nicht um ein kontradiktorisches Verfahren handelt (BGHZ 170, 378 ff.).
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3. Den Wert des Beschwerdegegenstandes hat die Kammer unter Berücksichtigung des Interesses der Schulderin an einer vorübergehenden Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens mit einem Zehntel des Zuschlagswertes bemessen (§ 3 ZPO).
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4. Die Rechtsbeschwerde war gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 ZPO nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts nicht erfordert. Für die Zulassung der Rechtsbeschwerde genügt nicht, wenn eine Entscheidung im grundrechtsrelevanten Bereich ergeht (BGH, Beschluss vom 30.09.2010 – V ZB 199/09) oder wenn eine Gefährdung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG) im Raum steht (BGH, Beschluss vom 07.10.2010 – V ZB 82/10).