Inhalt

AG Rosenheim, Beschluss v. 09.07.2020 – 8 XIV 84/20 (B)
Titel:

Zurückweisungshaft bei Einreise über Binnengrenze

Normenketten:
SGK Art. 14
RL 2008/115/EG Art. 2
Leitsatz:
Es ist fraglich, ob die Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG und hier insbesondere Art. 15 Abs. 1 a) zum Tragen kommt, da der Betroffene gerade nicht nach Deutschland eingereist ist und sich hier (unerlaubt) aufhält. Haftgründe im Sinne des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AufenthG müssen jedenfalls nicht vorliegen, weil über die Regelung des § 15 Abs. 5 AufenthG hinausgehende Gründe für die Anordnung von Zurückweisungshaft nicht notwendig sind.  (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zurückweisungshaft, Binnengrenze, Haftgrund
Rechtsmittelinstanzen:
LG Traunstein, Beschluss vom 02.09.2020 – 4 T 1968/20
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 07.11.2023 – XIII ZB 73/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 63457

Tenor

1. Gegen den Betroffenen wird Haft zur Sicherung der Zurückweisung angeordnet.
2. Die Haft beginnt am 09.07.2020 und endet spätestens am 29.09.2020.
3. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.

Gründe

I.
1
Der Betroffene ist pakistanischer Staatsangehöriger.
2
Er reiste am 08.07.2020 gegen 06.00 Uhr von Österreich kommend mit dem Zug unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland ein, § 14 Abs. 1 AufenthG, und wurde kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof Kiefersfelden einer polizeilichen Kontrolle unterzogen. Der Betroffene konnte keine Dokumente vorzeigen, die zur Einreise in das Bundesgebiet berechtigen würden, sondern lediglich einen Schülerausweis. Im Rahmen der Durchsuchung wurde eine abgelaufene Duldung aufgefunden. Er hat zunächst angegeben, dass er eingeschlafen und somit fälschlicherweise nach Österreich eingereist, obwohl er eine Zugfahrkarte von Innsbruck nach Deutschland hatte. Bei einer Überprüfung konnte festgestellt werden, dass das Asylverfahren in Deutschland seit dem 23.07.2018 rechtskräftig abgeschlossen und sein Asylantrag abgelehnt wurde. Seit 11.09.2018 ist er vollziehbar ausreisepflichtig. Seinen pakistanischen Pass hat er nach eigenen Angaben in Libyen zurückgelassen. Er hat bislang keinen neuen Pass beantragt.
3
Ergänzend wird hinsichtlich des festgestellten Sachverhalts auf die Ausführungen der antragstellenden Behörde vom 09.07.2020, Ziffer III. Bezug genommen.
4
Die gemäß § 71 Abs. 3 Nr. 1e des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) zuständige Bundespolizeiinspektion Rosenheim hat am 09.07.2018 beantragt, den Betroffenen gemäß § 15 Abs. 5 AufenthG zur Sicherung der Zurückweisung in Haft zu nehmen.
II.
5
Dem Antrag auf die Inhaftnahme des Betroffenen zwecks Sicherung der Zurückweisung war stattzugeben.
1. Formelle Voraussetzungen
1.1. Antrag
6
Ein zulässiger und ausreichend begründeter Haftantrag der zuständigen Ausländerbehörde im Sinne des § 417 FamFG liegt vor. Der vorliegende Haftantrag genügt insbesondere auch den Darlegungsanforderungen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. bspw. BGH vom 15.9.2011, Az. V ZB 123/11, BGH vom 10.5.2012, Az. V ZB 246/11). Erforderlich sind dabei Darlegungen dazu, dass dem Betroffenen die Einreise verweigert ist und dass und aus welchen Gründen er nicht unmittelbar an der Grenze zurückgewiesen werden kann sowie Darlegungen zur Durchführbarkeit der Zurückweisung in den beabsichtigten Zielstaat und zur notwendigen Haftdauer (vgl. BGH vom 20.09.2017, Az.: V ZB 118/17).
7
Gegen den Betroffenen ist am 08.07.2020 eine Zurückweisungsentscheidung ergangen.
8
Er kann nicht aus folgenden Gründen nicht unmittelbar an der Grenze zurückgewiesen werden: Der Betroffene muss erst noch dem zuständigen Staat (hier: Pakistan) im Rahmen eines Konsultationsverfahrens angeboten werden. Zudem muss noch ein Pass beschafft werden und ist noch ein Flug für den Betroffenen gebucht werden. Ergänzend wird auf Ziffer IV. des Antrags der Ausländerbehörde Bezug genommen.
9
Es ist beabsichtigt den Betroffenen nach Pakistan zurückzuweisen. Hindernisse, die der Durchführbarkeit der Zurückweisung in das Zielland entgegenstehen würden, sind nicht ersichtlich.
10
Die Ausländerbehörde hat zudem die beantragte Haftdauer von 12 Wochen schlüssig und nachvollziehbar begründet.
1.2. Einvernehmen der Staatsanwaltschaft
11
Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft war gemäß § 72 Abs. 4 S. 1 AufenthG vorliegend nicht erforderlich, weil eine Einreise noch nicht erfolgt ist.
1.3. Anhörung
12
Im Rahmen der heutigen Vorführung wurde dem Betroffenen in der gebotenen Weise vor der Entscheidung rechtliches Gehör gewährt.
13
Der Haftantrag der beteiligten Ausländerbehörde vom 09.07.2020 ist dem Betroffenen im gesamten Inhalt bekannt gegeben worden. Ein Abdruck des Antrags ist dem Betroffenen überlassen worden. Der Betroffene war in der Lage, sich zu sämtlichen Angaben der beteiligten Behörde zu äußern. Es handelt sich vorliegend um einen überschaubaren Sachverhalt, den der Betroffene vor der Anhörung ausreichend erfassen konnte. Auch aufgrund der vorangegangenen polizeilichen Vernehmung vom 08.07.2020 hatte er bereits Kenntnis von den tatsächlichen Umständen, die die Ausländerbehörde dem Antrag zugrunde gelegt hat. Im Übrigen wird auf das Protokoll Bezug genommen.
2. Materielle Voraussetzungen
14
Die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Zurückweisungshaft nach § 15 Abs. 5 AufenthG liegen vor.
15
Gegen den Betroffenen ist eine Zurückweisungsverfügung ergangen, die derzeit nicht unmittelbar vollzogen werden kann. Die materielle Rechtmäßigkeit der Zurückweisungsverfügung ist vom Haftgericht nicht zu prüfen. Es liegen keine Erkenntnisse vor, dass die Verfügung nicht vollzogen werden dürfte oder könnte. Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 5 AufenthG liegen somit vor.
16
Die Haft war wie von der Verwaltungsbehörde beantragt, bis zum 29.09.2020 anzuordnen. Die Verwaltungsbehörde hat den zeitlichen Bedarf nachvollziehbar begründet (Ziffer IV f des Antrags), so dass davon auszugehen ist, dass die Haft so kurz wie möglich sein wird. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die entsprechenden Ausführungen der Verwaltungsbehörde im Haftantrag Bezug genommen.
17
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird gewahrt. Insoweit ist zwar bereits fraglich, ob die Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG und hier insbesondere Art. 15 Abs. 1 a) vorliegend überhaupt zum Tragen kommt, da der Betroffene gerade nicht nach Deutschland eingereist ist und sich hier (unerlaubt) aufhält. Haftgründe im Sinne des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AufenthG müssen jedenfalls nicht vorliegen, weil über die Regelung des § 15 Abs. 5 AufenthG hinausgehende Gründe für die Anordnung von Zurückweisungshaft nicht notwendig sind (vgl. BGH FGPraxis 2018/183).
18
Die Anordnung der Haft war im vorliegenden Fall nicht unverhältnismäßig.
19
Der Betroffene hat die zuständige Ausländerbehörde in Deutschland nach Ablehnung seiner Asylanträge nicht über seinen weiteren Aufenthalt informiert, sondern ist – nach seinen Angaben – nach Frankreich ausgereist, so dass er für die Behörde nicht mehr erreichbar war. Er hat auch keine Bemühungen unternommen, einen Pass zu bekommen und damit erschwerte die bereits angedrohte Abschiebung erschwert. Der Betroffene hat außerdem im Rahmen der polizeilichen Vernehmung geäußert, dass er nicht freiwillig nach Pakistan zurück wolle. Er wolle mit Pakistan nichts mehr zu tun haben. Soweit er in der richterlichen Anhörung angegeben hat, ggf. freiwillig in sein Heimatland zurückzukehren, vermag dies das Gericht demgegenüber nicht zu überzeugen. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, warum der Betroffene dies tun sollte und im Fall einer negativen Auskunft hinsichtlich der von ihm begehrten letzten Chance nicht doch wieder ausreisen o.ä. sollte.
20
Nach Ansicht des Gerichts würde er sich aufenthaltsbeendenden Maßnahmen daher nicht freiwillig zur Verfügung stellen.
III.
21
Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Entscheidung beruht auf § 2 Abs. 15 S. 3 AufenthG i.V.m. § 422 Abs. 2 FamFG und ist erforderlich, da andernfalls der Zweck der Maßnahme nicht erreicht werden könnte.