Titel:
Voraussetzungen der Zurückweisungshaft nach Einreise über Binnengrenze
Normenketten:
AufenthG § 13, § 15 Abs. 5 S. 1
RL 2008/115/EG Art. 15 Abs. 1
BPolG § 61 Abs. 1
Leitsätze:
1. Der Betroffene ist in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, da im Zeitpunkt und am Ort der Kontrolle des Betroffenen am Grenzübergang Kiefersfelden keine nach Art. 27 Abs. 1 Satz 2 lit. c Schengener Grenzkodex und § 13 AufenthG iVm § 61 Abs. 1 BPolG zugelassene Grenzübergangsstelle bestand. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Da der Betroffene über den Grenzübergang Kiefersfelden eingereist ist, bestimmen sich die Voraussetzungen für die Haft zur Sicherung der Überstellung des Betroffenen nach Pakistan nach Art. 2 Abs. 1 der RL 2008/115. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zurückweisungshaft, Binnengrenze, Fluchtgefahr, Einreise, Grenzübergangsstelle
Vorinstanz:
AG Rosenheim, Beschluss vom 09.07.2020 – 8 XIV 84/20 (B)
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 07.11.2023 – XIII ZB 73/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 63456
Tenor
I. Die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 09.07.2020 wird zurückgewiesen.
II. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Betroffene.
III. Der Antrag des Betroffenen auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe wird zurückgewiesen.
IV. Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Betroffene ist pakistanischer Staatsangehöriger.
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Er reiste am 08.07.2020 gegen 06.00 Uhr von Österreich kommend mit dem Zug (Route Kufstein – München) in die Bundesrepublik Deutschland ein. Kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof Kiefersfelden wurde der Betroffene einer grenzpolizeilichen Kontrolle unterzogen. Dokumente, die zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland berechtigen würden, konnte er nicht vorzeigen, sondern lediglich einen Schülerausweis. Im Rahmen der durchgeführten Durchsuchung wurde eine abgelaufene Duldung aufgefunden.
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Bei einer Überprüfung konnte festgestellt werden, dass der Asylantrag des Betroffenen mit Bescheid des BAMF vom 25.01.2017 abgelehnt wurde. Das Asylverfahren des Betroffenen in Deutschland ist seit dem 11.09.2018 rechtskräftig abgeschlossen. Der Betroffene ist vollziehbar ausreisepflichtig.
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Der Betroffene wurde am 08.07.2020 wegen versuchter unerlaubter Einreise als Beschuldigter vernommen. Hier hat der Betroffene auf die Frage, ob er sich für eine Zurückweisung nach Pakistan bereithält und freiwillig fliegen würde mit den Gegenfragen, was der Vorteil von freiwillig wäre und ob er dafür Geld bekomme, beantwortet. Hierauf erhielt er die Auskunft, dass es hierfür kein Geld gebe. Die erneute Frage, ob er freiwillig nach Pakistan zurück wolle, hat er ausdrücklich mit „Nein“ beantwortet.
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Mit Schreiben vom 09.07.2020 (Blatt 1 ff.) beantragte die beteiligte Ausländerbehörde beim Amtsgericht Rosenheim Haft zur Sicherung der Zurückweisung. Zur Begründung wurde angeführt, dass der Betroffene in Anwendung des Art. 14 der VO (EG) Nr. 399/2016 nach Pakistan zurückgewiesen werden soll. Durchführungshindernisse seien nicht ersichtlich.
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Die beantragte Haftdauer setze sich zusammen aus einer Woche Bearbeitungszeit bei der BPOLI Rosenheim für das Erstellen und Versenden der Unterlagen zur Passbeschaffung, einer Woche Bearbeitungszeit beim BPOLP, acht Wochen Identifizierungsdauer seitens der pakistanischen Behörden und zwei Wochen für die Flugbuchung eines wenn möglich unbegleiteten Fluges durch die BPOLI Rosenheim.
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Es bestünde zudem der Haftgrund der Fluchtgefahr.
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Nach persönlicher Anhörung des Betroffenen am 09.07.2020 (Blatt 48) ordnete das Amtsgericht Rosenheim mit Beschluss vom selben Tag (Blatt 49/53) gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Zurückweisung bis spätestens 29.09.2020 an. Der Beschluss wurde dem Betroffenen anschließend ausgehändigt.
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Mit Schriftsatz vom 28.07.2020 (Blatt 55) legte der Betroffene über seinen Verfahrensbevollmächtigten Beschwerde gegen den Beschluss vom 09.07.2020 ein. Mit weiteren Schriftsätzen vom 05.08.2020 (Blatt 58 ff.) und vom 13.08.2020 (Blatt 73) wurde die Beschwerde begründet.
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Die Kammer erteilte am 10.08.2020 den Hinweis, dass unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 12.02.2020 – XIII ZB 65/19 beabsichtigt ist, die Beschwerde zurückzuweisen (Blatt 69/70). Hierzu nahm der Verfahrensbevollmächtigte mit Schreiben vom 13.08.2020 (Blatt 73) Stellung und kündigte weiteren Vortrag nach Eingang der vom Gericht beigezogenen Ausländerakte an. Diese wurde dem Verfahrensbevollmächtigten mit Verfügung vom 13.08.2020 (Blatt 73) mit Frist zur Stellungnahme von 3 Tagen nach Eingang übersandt. Nachdem keine Stellungnahme erfolgt war, fragte die Kammer mit Verfügung vom 25.08.2020 (Blatt 75) bei dem Verfahrensbevollmächtigten an, ob noch eine Stellungnahme abgegeben wird. Der Urlaubsvertreter des Verfahrensbevollmächtigten teilte mit Schreiben vom 26.08.2020 (Blatt 76) mit, eine ergänzende Stellungnahme werde bis zum 18.09.2020 aufgrund des Urlaubs des alleinigen Sachbearbeiters erfolgen. Hierauf wurde darauf hingewiesen, dass Freiheitsentziehungssachen beschleunigt zu bearbeiten sind, eine Stellungnahme bis 18.09.2020 nicht gewährt werden kann und Gelegenheit zur abschließenden Beschwerdebegründung bis 31.08.2020 besteht (Blatt 80). Bis heute ist keine weitere Begründung eingegangen.
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1. Gegen die Anordnung der Haft zur Sicherung der Zurückweisung des Betroffenen durch Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 09.07.2020 ist gemäß § 106 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 58 Abs. 1 FamFG das Rechtsmittel der Beschwerde gegeben. Diese wurde fristgerecht innerhalb der einmonatigen Beschwerdefrist (§ 63 Abs. 1 FamFG) eingelegt und ist zulässig.
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2. Die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 09.07.2020 ist unbegründet.
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Die Anordnung von Zurückweisungshaft beruht auf § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG.
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Danach soll der Ausländer zur Sicherung der Zurückweisung auf richterliche Anordnung in Haft (Zurückweisungshaft) genommen werden, wenn eine Zurückweisungsentscheidung ergangen ist und diese nicht unmittelbar vollzogen werden kann. Eine Zurückweisung setzt gem. § 15 Abs. 1 AufenthG voraus, dass der Ausländer noch nicht unerlaubt in die Bundesrepublik eingereist ist.
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Gemäß höchstrichterlicher Rechtsprechung (BGH, Beschluss vom 12.02.2020 – XIII ZB 65/19) bestimmen sich die Voraussetzungen für die Haft zur Sicherung der Überstellung des Betroffenen nach Pakistan allerdings nicht nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG, sondern nach Art. 2 Abs. 1 der RL 2008/115 (im Folgenden: Rückführungsrichtlinie), da – wie im Folgenden auszuführen sein wird – in der vorliegenden Fallkonstellation von einer Einreise des Betroffenen in die Bundesrepublik Deutschland auszugehen ist und eine europarechtskonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts geboten ist.
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Auch nach diesen Maßstäben hält der angefochtene Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 09.07.2020 der rechtlichen Überprüfung stand.
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a) Vorliegend ist von einer Einreise des Betroffenen in die Bundesrepublik Deutschland auszugehen, da im Zeitpunkt und am Ort der Kontrolle des Betroffenen am Grenzübergang Kiefersfelden keine nach Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c Schengener Grenzkodex und § 13 AufenthG i. V. m. § 61 Abs. 1 BPolG zugelassene Grenzübergangsstelle bestand (BGH a. a. O.).
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b) Der Anordnung der Zurückweisungshaft lag ein zulässiger und ausreichend begründeter Haftantrag der beteiligten Ausländerbehörde zugrunde. Hierfür werden insbesondere Darlegungen zu den Zurückweisungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Zurückweisung und zu der notwendigen Haftdauer verlangt (vgl. § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 – 5 FamFG).
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Inhalt und Umfang der erforderlichen Darlegung bestimmen sich nach dem Zweck des Begründungserfordernisses. Es soll gewährleisten, dass das Gericht die Grundlagen erkennt, auf welche die Behörde ihren Antrag stützt, und dass das rechtliche Gehör des Betroffenen durch die Übermittlung des Haftantrags nach § 23 Abs. 2 FamFG gewahrt wird (BGH vom 22. Juli 2010, V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511). Die Darlegungen dürfen knapp gehalten sein, müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falles ansprechen (BGH vom 15.09.2011, FGPrax 2011, 317).
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Aus dem Haftantrag der beteiligten Behörde vom 09.07.2020 geht hervor, dass beabsichtigt wird, den Betroffenen gemäß Art. 14 VO (EG) Nr. 399/2016 nach Pakistan zurückzuweisen.
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Der Antrag enthält eine schlüssige Begründung für den beantragten Zeitraum bis 29.09.2020. Die beantragte Haftdauer setze sich zusammen aus einer Woche Bearbeitungszeit bei der BPOLI Rosenheim für das Erstellen und Versenden der Unterlagen zur Passbeschaffung, einer Woche Bearbeitungszeit beim BPOLP, acht Wochen Identifizierungsdauer seitens der pakistanischen Behörden und zwei Wochen für die Flugbuchung eines wenn möglich unbegleiteten Fluges durch die BPOLI Rosenheim.
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c) Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft ist nach der Neufassung des § 72 Abs. 4 AufenthG nicht erforderlich.
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d) Der Betroffene war aufgrund der unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig. Mit der Abschiebungsanordnung des Bundesamtes vom 25.01.2017 lag auch eine Rückkehrentscheidung vor. Der Bescheid gilt als zugestellt am 02.02.2017.
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e) Es besteht der Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr im Sinne von Art. 28 Abs. 2, Art. 2 lit. n Dublin-III-Verordnung i.V.m. § 2 Abs. 14, 62 Abs. 3, Abs. 3a Nr. 6 AufenthG.
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Fluchtgefahr im Sinne des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG wird gemäß § 62 Abs. 3a) Nr. 6 AufenthG widerleglich vermutet, wenn der Ausländer ausdrücklich erklärt hat, dass er sich der Abschiebung entziehen will.
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Im Rahmen seiner polizeilichen Einvernahme hat der Betroffene auf die Frage, ob er sich für eine Zurückweisung nach Pakistan bereithält und freiwillig fliegen würde, mit den Gegenfragen geantwortet, was der Vorteil von freiwillig wäre und ob er dafür Geld bekomme. Hierauf erhielt er die Auskunft, dass es hierfür kein Geld gebe. Die erneute Frage, ob er freiwillig nach Pakistan zurück wolle, hat er ausdrücklich mit „Nein“ beantwortet. In der richterlichen Einvernahme hat er eine Rückkehr nach Pakistan unter die Bedingung gestellt, dass ein erneuter Asylantrag nicht erfolgreich ist.
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Umstände, die die Vermutung der Fluchtgefahr widerlegen, sind nicht ersichtlich. Die Fluchtgefahr ist aufgrund der geschilderten Gesamtumstände auch als erheblich einzustufen.
28
f) Die Anhörung des Amtsgerichts fand offenkundig am 09.07.2020, dem Tag des Haftantrags und der Entscheidung, statt. Soweit auf dem Protokoll als Datum der 09.06.2020 aufgeführt ist, handelt es sich um ein offensichtliches und unbeachtliches Schreibversehen. Eine Vertrauensperson hat der Betroffene ausdrücklich nicht benannt.
29
g) Das Verfahren wird von der beteiligten Behörde mit der nötigen Beschleunigung betrieben. Soweit diese in dem Haftantrag ausgeführt hat „2 Wochen für die Flugbuchung eines unbegleiteten Fluges (falls möglich!!)“, ist auch unter Berücksichtigung des nächsten Absatzes in dem Haftantrag mit dem Zusatz „falls möglich“ offenkundig gemeint, dass bei kooperativem Verhalten des Betroffenen eine unbegleitete Rückführung im Rahmen der bezeichneten Frist geplant und auch möglich ist.
30
h) Die Zurückweisung des Betroffenen kann voraussichtlich innerhalb der nächsten 3 Monate durchgeführt werden.
31
i) Die Haft wird in der zentralen Abschiebehafteinrichtung in Eichstätt vollzogen (§ 62 a Abs. 1 AufenthG).
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3. Von einer erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren hat die Kammer abgesehen, da hiervon keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind (§ 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG). Der Betroffene hat bereits bei der Polizei und beim Amtsgericht eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass er sich der Zurückweisung nach Pakistan nicht freiwillig stellen wird.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG.
34
5. Der Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren war zurückzuweisen, da die Beschwerde keine Aussicht auf Erfolg hatte (§ 76 Abs. 1 FamFG, § 114 Satz 1 ZPO). Die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe setzt neben der Bedürftigkeit des Betroffenen voraus, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (vgl. BGH vom 20.05.2016, V ZB 140/15). Die Beschwerde war nicht erfolgreich.
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Verfahrenskostenhilfe war auch nicht wegen der Schwierigkeit der Rechtslage zu gewähren. Da das Verfahrenskostenhilfeverfahren nicht dem Zweck dient, über zweifelhafte Rechtsfragen abschließend vorweg zu entscheiden, darf ein Gericht die Erfolgsaussicht nicht verneinen, wenn eine solche Rechtsfrage zu klären ist, auch wenn das Gericht in der Sache zu Ungunsten des Antragstellers entscheiden möchte. Entsprechendes muss dann gelten, wenn sich in tatsächlicher Hinsicht schwierige und komplexe Fragen stellen. (vgl. BGH a.a.O.). Solche schwierigen Rechtsfragen waren hier nicht zu klären.
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6. Die Festsetzung des Geschäftswerts der Beschwerde beruht auf §§ 61 Abs. 1 Satz 1, 36 Abs. 3 GeNotKG.