Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 22.07.2020 – 206 StRR 1893/19
Titel:

Revisionsverfahren, Verfahrensverzögerung, Freiheitsstrafe, Ausländerbehörde, Ausreisepflichtiger Ausländer, Überlange Verfahrensdauer, Rechtsstaatswidrigkeit, Unerlaubter Aufenthalt, Kostenentscheidung, Revisionsgericht, Erteilung einer Duldung, Revisionsbegründung, Generalstaatsanwaltschaft, Rechtsmittel, Anspruch auf Erteilung, Revisionsgebühr, Notwendige Auslagen, Urteilsfeststellungen, Duldungsanspruch, Antragsschrift

Schlagworte:
unerlaubter Aufenthalt, Revision, Verfahrensverzögerung, Strafbarkeit, Duldung, Freiheitsstrafe, Rechtsfehler
Vorinstanz:
LG München I, Urteil vom 06.03.2019 – 26 Ns 383 Js 156979/18
Fundstelle:
BeckRS 2020, 63236

Tenor

I. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 6. März 2019 wird als unbegründet verworfen, jedoch mit der Maßgabe, dass von der verhängten bedingten Freiheitsstrafe zwei Monate als vollstreckt gelten
II. Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels, allerdings wird die Revisionsgebühr um ein Viertel ermäßigt. Die dem Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen werden, soweit sie ausscheidbar sind, zu einem Viertel der Staatskasse auferlegt.

Gründe

I.
1
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 10. August 2018 wurde der Angeklagte wegen unerlaubten Aufenthalts zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
2
Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Berufung eingelegt. Das Landgericht München I hat mit Berufungsurteil vom 6. März 2019 die Berufung des Angeklagten verworfen.
3
Hiergegen hat der Angeklagte form- und fristgerecht Revision eingelegt, die mit Verteidigerschreiben vom 10. Mai 2019 form- und fristgerecht begründet wurde. Mit Antragsschrift vom 26. August 2019, dem Verteidiger zugestellt am 5. September 2019, übersandte die Generalstaatsanwaltschaft München die Sache dem Revisionsgericht, wo sie am 12. September 2019 einging.
II.
4
Die zulässige Revision ist unbegründet. Wegen rechtsstaatswidriger Verzögerung des Revisionsverfahrens wird jedoch angeordnet, dass zwei Monate der verhängten Freiheitsstrafe als bereits verbüßt gelten.
5
1. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der mit der Revision erhobenen Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird zur Begründung auf die zutreffende Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft in der Antragsschrift vom 26. August 2019 Bezug genommen.
6
Der Senat führt ergänzend aus:
7
a) Die Revision weist zwar im Grundsatz zutreffend darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach ein ausreisepflichtiger Ausländer, dem ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 55 Abs. 2 AuslG (jetzt: § 60a AufenthG) zustehe, den Straftatbestand des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG (jetzt: § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) auch dann nicht verwirkliche, wenn ihm eine entsprechende Duldung nicht erteilt worden sei. Die Strafgerichte dürften sich deshalb nicht mit der Feststellung begnügen, der Ausländer sei nicht im Besitz einer Duldung; sie hätten vielmehr von Verfassungs wegen selbstständig zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben gewesen seien (BVerfG, Beschluss vom 6. März 2003 – 2 BvR 397/02, NStZ 2003, 488). Anderenfalls wäre es dem freien Ermessen der Ausländerbehörde überlassen, eine Duldung trotz eines bestehenden Anspruchs nicht zu erteilen und im Ergebnis darüber zu bestimmen, ob sich der Ausländer strafbar macht.
8
b) Wie auch die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift zutreffend ausführt, bedeutet dies indessen nicht, dass die Strafgerichte jeder Behauptung, es habe im Tatzeitraum objektiv ein Anspruch auf Duldung bestanden, nachzugehen hätten. Die Straflosigkeit unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 – hier: Nr. 2a – AufenthG dann, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung vorgelegen haben, gilt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der sich der Senat anschließt, nämlich nur dann, wenn die Ausländerbehörde Kenntnis vom Aufenthalt des Ausländers hat (BGH, Urteil vom 6. Oktober 2004 – 1StR 76/04, BeckRS 2004,11740; ebenso OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 21. August 2013 – 1 Ss 225/13, BeckRS 2015, 9792; Beschluss vom 8. November 2013 – 1Ss 137/13, BeckRS 2014, 2849; Mosbacher, Urteilsanmerkung, NStZ 2003, 489). Nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes wird ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben oder ihm wird eine Duldung erteilt. Diese Systematik des Gesetzes lässt grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt des Ausländers (BVerfG a.a.O. Rn. 4). Bei einer Duldung handelt es sich um die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung eines ausreisepflichtigen Ausländers, § 60a AufenthG. Eine entsprechende Entscheidung der Ausländerbehörde ist nur in den Fällen möglich, in denen sie Kenntnis vom Aufenthalt des Ausländers hat. Ist ihr der Aufenthalt unbekannt, weil der Ausländer, wie vorliegend der Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen, untergetaucht ist, kommt eine Duldung seitens der Ausländerbehörde nicht in Betracht. Die zeitweise Aussetzung der Abschiebung ist nur möglich, wenn der Ausländer für die Ausländerbehörde erreichbar ist. Diese könnte eine etwaige Abschiebung bereits nicht vollziehen. Sie wäre auch ohne Kenntnis vom Aufenthalt des Ausländers nicht in der Lage, eine tragfähige Entscheidung über die Abschiebung oder die Erteilung einer Duldung zu treffen. Ist ein Ausländer untergetaucht oder geflohen, kommt es für die Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG mithin nicht auf einen Duldungsanspruch an (BGH a.a.O.).
9
Infolge des festgestellten, seinen Aufenthalt im Bundesgebiet verschleiernden Verhaltens des Angeklagten, sich vor der Ausländerbehörde verborgen zu halten, welches bis zu seiner Festnahme und damit bis zum Ende des gegenständlichen Tatzeitraums andauerte, bestand mithin kein Anlass für das Berufungsgericht, den Behauptungen des Angeklagten nachzugehen und in rechtlicher Hinsicht einen hypothetischen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG, etwa aus dringenden persönlichen Gründen, zu prüfen.
10
2. Der Senat stellt jedoch fest, dass das Verfahren in der Revisionsinstanz eine rechtsstaatswidrig überlange Verfahrensdauer aufweist. Zur Kompensation dieser Verfahrensverzögerung wird angeordnet, dass zwei Monate der verhängten bedingten Freiheitsstrafe als verbüßt gelten.
11
a) Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK hat der Angeklagte das Recht auf Entscheidung binnen angemessener Frist. Ob diesem Gebot Rechnung getragen worden ist, hat der Senat, wenn es zu Verzögerungen im Revisionsverfahren gekommen ist, von Amts wegen zu prüfen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, Anh 4 Art. 6 MRK Rn. 9e m.w.N.).
12
Die Revision wurde mit Verteidigerschreiben vom 10. Mai 2019 begründet; das Revisionsverfahren ging am 12. September 2019 bei dem Revisionsgericht ein. Damit sind seit Eingang der Revisionsbegründung gut ein Jahr zwei Monate vergangen. Bei der Angemessenheit der Verfahrensdauer sind die Umstände des Einzelfalls maßgebend, insbesondere die Schwere des Tatvorwurfs und Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. Rn. 7a ff.). Der dem Schuldspruch zugrunde liegende Sachverhalt ist nicht schwierig gelagert. Zulässige Verfahrensrügen, die einer intensiven Prüfung bedurft hätten, wurden nicht erhoben. Die entstandenen Verzögerungen sind ausschließlich auf justizinterne Gründe zurückzuführen und stellen sich im Ergebnis als konventionswidrig dar.
13
b) Bei Verfahrensverzögerungen im Revisionsverfahren kommt in Betracht, dem Satisfaktionsinteresse des Angeklagten durch Feststellung der konventionswidrigen Sachbehandlung Genüge zu tun. Vor dem Hintergrund des gegenständlichen überschaubaren Sachverhalts und der von vorneherein mangelnden Erfolgsaussichten des Rechtsmittels ist bei einer rund einjährigen Verzögerung eine solche Lösung nicht mehr sachgerecht. Unter Berücksichtigung der Gedanken, die sich auch in §§ 198 ff. GVG niederschlagen, wird es den Interessen des Angeklagten nur gerecht, wenn in Übereinstimmung mit der Entscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofs vom 17. Januar 2008 (BGHSt 52, 124 ff.) angeordnet wird, dass ein Teil der verhängten Strafe als bereits verbüßt gilt. Dies gilt auch, wenn Strafaussetzung zur Bewährung gewährt wurde (EGMR (V. Sektion), Urteil vom 20. Juni 2019 – 497/17 (Chiarello/Deutschland), NJW 2020, 1047). Der Senat hält es unter Abwägung aller Umstände für angemessen, von der verhängten bedingten Freiheitsstrafe zwei Monate als bereits vollstreckt zu bestimmen.
14
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 StPO.