Inhalt

BayObLG, Urteil v. 25.06.2020 – 207 StRR 218/20
Titel:

Voraussetzungen der erneuten Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass nach einer gleichartigen Vorverurteilung und eines Schuldspruches durch das Revisionsgericht nach einem Freispruch durch das Berufungsgericht

Normenketten:
AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1
StPO § 261, § 354 Abs. 1
Leitsätze:
1. Eine (erneute) Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist zu bejahen, wenn sich der Angeklagte nicht um einen Pass oder Passersatz kümmert, obwohl er nach einer vorangegangenen Vorverurteilung wegen unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass mehrfach über seine entsprechenden Pflichten belehrt wurde, weil darin ein nach außen dokumentierter neuer Tatentschluss liegt. (Rn. 7 – 11) (red. LS Alexander Kalomiris)
2. Liegen lückenlose und tragfähige Feststellungen der Strafkammer vor und beruht der Freispruch durch das Berufungsgericht auf einem bloßen Subsumtionsfehler, kann das Revisionsgericht entsprechend § 354 Abs. 1 StPO den Freispruch durch einen Schuldspruch ersetzen. (Rn. 12) (red. LS Alexander Kalomiris)
Schlagworte:
unerlaubter Aufenthalt ohne Pass, Dauerdelikt, neuer Tatentschluss, Freispruch, Schuldspruch durch das Revisionsgericht, Zäsurwirkung
Vorinstanz:
LG Passau, Urteil vom 08.01.2020 – 1 Ns 24 Js 11267/18
Fundstelle:
BeckRS 2020, 63235

Tenor

I. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Passau vom 8. Januar 2020 aufgehoben.
II. Die Angeklagten sind jeweils schuldig des unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass.
III. Im Übrigen wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Passau zurückverwiesen.

Entscheidungsgründe

I.
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1. Das Amtsgericht Passau verurteilte die Angeklagten am 15. Juli 2019 jeweils wegen unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass zu einer Geldstrafe von jeweils 150 Tagessätzen zu je 10 €.
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2. Auf die Berufung der Angeklagten hob das Landgericht Passau am 8. Januar 2020 das Urteil des Amtsgerichts vom 15. Juli 2019 auf und sprach die Angeklagte aus rechtlichen Gründen frei; die auf das Strafmaß beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft wurde verworfen. Das Landgericht hat (in Übereinstimmung mit den Feststellungen des Amtsgerichts) folgenden Sachverhalt festgestellt (UA S. 4-6):
„2. Feststellungen
Die Berufungskammer hat folgende Feststellungen zum Tatvorwurf getroffen.
Als nigerianische Staatsangehörige unterliegen die Angeklagten jeweils den Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes. Die Angeklagten reisten am 07.04.20 14 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 16.04.2014 jeweils einen Asylantrag. Dieser wurde durch Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge mit Datum vom 14.10.2016 abgelehnt. In dem Bescheid war ihnen die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt worden. Ihre Anträge auf Asylanerkennung wurden abgelehnt. Ein subsidiärer Schutzstatus wurde nicht zuerkannt. Die Angeklagten wurden jeweils aufgefordert, innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung das Bundesgebiet zu verlassen. Die Abschiebung nach Nigeria wurde angedroht. Die Angeklagten erhoben daraufhin am 26.10.2016 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Regensburg (Az. Rn 5 K 16.32755). Mit Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 08.03.2017 wurde die Klage der Angeklagten abgewiesen. Die Rechtskraft des Urteils trat am 22.04.2017 ein.
Die Angeklagten hielten trotz der rechtskräftigen Entscheidung an ihrem Entschluss fest nicht auszureisen oder an einer Passbeschaffung mitzuwirken. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Passau vom 31.01.2018 wurden die Angeklagten deshalb wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass zu einer Geldstrafe verurteilt. Im Folgenden wurden die Angeklagten mit Schreiben des Landratsamts P. vom 25.04.2018, 01.06.2018 und 17.07.2018 erneut aufgefordert, mit Frist bis zum 01.06.2018, 17.07.2018 und 29.08.2018 gültige Reisepässe, für sich und die Kinder vorzulegen.
Konkret wurden die Angeklagten in den Schreiben wie folgt über die Rechtslage in Kenntnis gesetzt:
”Sofern Sie nicht im Besitz von Reisepässen sind, müssen Sie sich mit der nigerianischen Vertretung (Adresse siehe Anlage) in Verbindung setzen. Sollten die Reisepässe bis 01.06.2018 nicht ausgestellt werden, ist innerhalb der gesetzten Frist ein Nachweis über die erfolgte Beantragung der Reisepässe bei uns vorzulegen.
Desweiteren werden Sie aufgefordert, sämtliche Ihnen vorliegenden Identitätsnachweise Ihrer Familie ebenfalls bis spätestens 01.06.2018 bei uns vorzulegen. Sollten die geforderten Unterlagen bis 01.06.2018 nicht oder nicht rechtzeitig bei uns vorliegen, gehen wir davon aus, dass Sie ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachkommen möchten und werden den Sachverhalt zur weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft Passau weiterleiten. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie auch auf § 60 a Abs. 6 AufenthG (Versagung der Erlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung) und § I a AsylbLG (Leistungskürzung) hinweisen.“
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Entsprechend ihrem Antrag auf Erneuerung der Duldung wurden die Angeklagten jeweils entsprechend den zuvor erhaltenen Schreiben belehrt. Die Duldungen enthalten erneut eine schriftliche Belehrung wie folgt:
„Ich wurde heute darauf hingewiesen, dass ich der allgemeinen Passpflicht unterliege und daher verpflichtet bin, einen gültigen Nationalpass zu besitzen (3 Abs. I AufenthG). Ein Verstoß gegen die Passpflicht nach § 3 Abs. I AufenthG stellt eine Straftat nach § 95 Abs. I Nr. I dar. Weiter wurde ich darauf hingewiesen, dass ich verpflichtet bin, ein etwa in meinem Besitz befindlichen Pass oder sonstigen Ausweisidentitätspapiere unverzüglich der Ausländerbehörde vorzulegen, auszuhändigen und vorübergehend zu erlassen (§ 48 Abs. I Nr. I AufenthG). Sollte ich keinen Pass oder Passersatz besitzen, bin ich gem. § 48 Abs. 3 Satz I AufenthG verpflichtet, an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken für alle Urkunden, sonstige Unterlagen und Datenträger, die für die Feststellungen der Identität oder Staatsangehörigkeit und für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sein können und in deren Besitz ich bin, der Ausländerbehörde vorzulegen, auszuhändigen und zu überlasen.
Im Folgenden reisten die Angeklagten nicht aus dem Bundesgebiet aus und unterließen auch in der Folge bewusst jegliche Förderungshandlung einer Passbeschaffung. Die Angeklagten hielten an ihrem ursprünglichen Entschluss, nicht mitzuwirken, weiterhin fest. Insbesondere nahmen sie nicht das Angebot des Landratsamts P. wahr, nach B.zum dortigen nigerianischen Konsulat zu reisen um einen Pass zu beantragen. Ihnen war mitgeteilt worden, dass die Reisekosten von Seiten des Landratsamts nach B.– wie regelmäßig in diesen Fällen – übernommen werden. Den Angeklagten wäre sowohl eine Ausreise möglich und zumutbar gewesen als auch den genannten Mitwirkungs- und Förderungshandlungen nachzukommen. Bei Antragstellung durch die Angeklagten wäre ihnen – wie ebenfalls regelmäßig in diesen Fällen – ein Pass von Seiten des nigerianischen Konsulats erteilt worden.“
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Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Landgericht ausgeführt, dass die Angeklagten nach Rechtskraft der vorherigen Verurteilung durch Strafbefehl des Amtsgerichts Passau vom 31. Januar 2018 keinen nach außen erkennbaren neuen Tatentschluss gefasst hätten, so dass eine erneute Verurteilung wegen des reinen Unterlassungsdeliktes des unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht in Betracht komme.
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3. Hiergegen richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts rügt und eine falsche rechtlichen Würdigung des Landgerichts bezüglich der Voraussetzungen der Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beanstandet.
II.
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Die zulässige Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der erhobenen Sachrüge Erfolg und führt zur Verurteilung der Angeklagten wegen unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass sowie zur Zurückverweisung an das Landgericht zur Bestimmung der Rechtsfolgen.
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1. Die Feststellungen des Landgerichts tragen den Freispruch nicht. Sie belegen vielmehr, dass die Angeklagten sich des unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG schuldig gemacht haben.
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a) Rechtlich noch zutreffend hat das Berufungsgericht dargelegt, dass es auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (Beschluss vom 27.12.2006, 2 BvR 1895/05, zitiert nach juris) und des OLG München (Beschluss vom 04.12.2015, 4 OLG 13 Ss 478/15, zitiert nach juris) bei einem Dauerunterlassungsdelikt wie hier nicht ausreichend ist, eine erneute Strafbarkeit allein aufgrund der Zäsurwirkung einer Vorverurteilung (hier des Strafbefehls des Amtsgerichts Passau vom 31.01.2018) anzunehmen. Es bedarf vielmehr eines durch äußere Handlungen des Angeklagten dokumentierten neuen Tatentschlusses (OLG München aaO Rdn. 10).
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b) Entgegen der Auffassung des Landgerichts liegt ein solcher nach außen dokumentierter neuer Tatentschluss der Angeklagten jedoch hier darin, dass sich diese nicht um einen Pass oder Passersatz kümmerten, obwohl sie nach der Vorverurteilung mehrfach über ihre entsprechenden Pflichten belehrt wurden (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 25.07.2008, 1 Ss 407/07, zitiert nach juris, dort Rdn. 3).
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Dem steht die angeführte Rechtsprechung des OLG München nicht entgegen. Der Beschluss vom 14. Juni 2012 (3 Ws 493/12, zitiert nach juris) betrifft ein Vergehen der Insolvenzverschleppung; der Senat ging aufgrund der Feststellungen im dortigen Verfahren davon aus, dass ein neuer Tatentschluss nicht vorlag (aaO Rdn. 11). Soweit dort über die Rechtsprechung des BVerfG hinausgehend eine „veränderte Tatsachengrundlage“ gefordert wird (aaO Rdn. 11), kann das für das hier gegenständliche Delikt des unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass nur bedeuten, dass der neue Tatentschluss eben durch äußere Umstände dokumentiert sein muss. Diese stellen dann auch eine veränderte Tatsachengrundlage dar. Hinsichtlich des Beschlusses vom 4. Dezember 2015 hat die Berufungskammer übersehen, dass im dortigen Fall sämtliche Belehrungen des Angeklagten über seine Pflicht, sich einen Pass zu beschaffen, zeitlich vor der Vorverurteilung lagen (vgl aaO Rdn. 4-6 und 11), so dass – anders als beim vorliegenden Sachverhalt – eben kein durch äußere Handlungen belegter neuer Tatentschluss nach der Vorverurteilung festgestellt werden konnte.
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Diese Rechtsauffassung des Senates steht auch im Einklang mit der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (vgl. Beschluss vom 23.09.2014, 2 BvR 2545/12, zitiert nach juris). Das Bundesverfassungsgericht hat (zu einer Straftat nach § 95 AufenthG) ausgeführt (aaO Rdn. 16): „Solange die Fachgerichte nicht allein an eine fiktive „Zäsurwirkung“ einer Vorverurteilung anknüpfen, sondern – wie hier geschehen – einen von dem ersten qualitativ verschiedenen Tatentschluss feststellen, kann auch bei Unterlassungsdauerdelikten eine erneute Verurteilung ohne Verstoß gegen das Schuldprinzip erfolgen. Aus einer einmal erfolgten Verurteilung folgt kein Freibrief für straffreies, obgleich strafbewährtes zukünftiges Verhalten.“ Im dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt wurde der neue Tatentschluss aus dem weiteren Unterlassen der Mitwirkung nach einer persönlichen Belehrung durch Mitarbeiter des Ausländeramtes gefolgert. Das ist mit den hier erfolgten mehrfachen schriftlichen Hinweisen nach der Vorverurteilung vergleichbar.
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3. Das angefochtene Urteil kann danach keinen Bestand haben. Es ist aufzuheben (§ 353 StPO). Aufgrund der lückenlosen und tragfähigen Feststellungen der Strafkammer ist der Senat in der Lage, die vom Amtsgericht verurteilten und erst vom Berufungsgericht freigesprochenen Angeklagten des unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass schuldig zu sprechen (§ 354 Abs. 1 StPO). Der Freispruch durch die Strafkammer beruht auf einem bloßen Subsumtionsfehler. Weitere Feststellungen sind nicht zu erwarten; der Sachverhalt steht fest. Das rechtfertigt in derartigen Fällen die Ersetzung des Freispruchs durch einen Schuldspruch des Revisionsgerichtes (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 354 Rdn. 23; OLG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.1992,5 Ss 317/92, NZV 1993, 158, 159 – je m. w. N.; s. auch BGH, Urteil vom 24.10.1989, 1 StR 504/89, zitiert nach juris, dort Rdn. 23).
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4. Die Sache war daher nur noch zur Bestimmung der Rechtsfolge zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).