Inhalt

VGH München, Beschluss v. 16.04.2020 – 20 NE 20.782
Titel:

Erfolgloser Eilantrag einer Spielhallenbetreiberin gegen Corona-Schließung

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 6
IfSG § 28 Abs. 1, § 32
BayIfSMV § 2 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 12
Leitsatz:
Bei der Folgenabwägung hinsichtlich des weiteren Vollzugs der infolge der Corona-Pandemie erlassenen Verordnung und damit auch der Schließung der Spielhallen überwiegt der beabsichtigte Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit derzeit den schwerwiegenden Eingriff in die Berufsfreiheit; zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs insbesondere nach Ablauf des befristeten Geltungszeitraums hat der Verordnungsgeber allerdings fortlaufend zu prüfen, ob die vollständige Schließung der Freizeiteinrichtungen noch erforderlich ist. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Einstweiliger Rechtsschutz im Normenkontrollverfahren, Folgenabwägung, Spielhalle, Corona, Normenkontrollantrag, Betriebsuntersagung, Eilantrag, einstweiliger Rechtsschutz, Schließung, Berufsfreiheit, Gesundheit
Fundstellen:
BeckRS 2020, 6314
NVwZ-RR 2020, 492
LSK 2020, 6314

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit ihrem zunächst beim Bayerischen Verwaltungsgericht München gestellten und von diesem mit Beschluss vom 14. April 2020 an den Verwaltungsgerichtshof verwiesenen Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO verfolgt die Antragstellerin das Ziel, den Vollzug der Bayerischen Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie vom 27. März 2020 (Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung - BayIfSMV - BayMBl. 2020 Nr. 158, GVBl. 2020 S. 196) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 31. März 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 162, GVBl. 2020 S. 194) einstweilen auszusetzen.
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1. Der Antragsgegner hat am 27. März 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die in der Hauptsache streitgegenständliche Verordnung erlassen, die in § 2 Abs. 1 Satz 1 eine Betriebsuntersagung für sämtliche Einrichtungen enthält, die nicht notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens, sondern der Freizeitgestaltung dienen. Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 BayIfSMV zählen hierzu insbesondere u.a. „Spielhallen“.
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2. Die Antragstellerin, die in Bayern derzeit sechs Spielhallen betreibt und eine weitere eröffnen will, rügt eine unzulässige Beschränkung ihrer Gewerbe- und Berufsfreiheit aus Art. 12 GG. Sie beantragt,
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die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung bis zur Entscheidung über den Normenkontrollantrag vorläufig außer Vollzug zu setzen.
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Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, sie habe aufgrund von § 2 Abs. 1 BayIfSMV den Betrieb ihrer Spielhallen einstellen und die Eröffnung einer weiteren Spielhalle verschieben müssen, obwohl es in den Spielhallen weder eine an dem Corona-Virus erkrankte Person noch einen Ansteckungsfall gegeben habe. Eine Ansteckungsgefahr bestehe in Spielhallen schon deshalb nicht, weil nach gewerberechtlichen Vorschriften zwischen den einzelnen Spielautomaten ein Mindestabstand einzuhalten sei und zudem fest montierte, blickdichte Sichtblenden mit einer Tiefe von mindestens 0,8 m aufzustellen seien. Durch die erzwungene Schließung der Spielhallen entstehe der Antragstellerin ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden aufgrund laufender Kosten und aufgrund des entgangenen bzw. entgehenden Gewinns. Es fehle bereits an einer hinreichenden Verordnungsgrundlage, da aufgrund der §§ 28 ff. IfSG nur Maßnahmen gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern möglich seien. Eine Bekämpfung der übertragbaren Krankheit COVID-19 sei in den Spielhallen der Antragstellerin, in denen es keinen Ansteckungs- oder Verdachtsfall gegeben habe, daher schon gar nicht möglich.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Antragsschrift Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Eilantrag hat in der Sache keinen Erfolg.
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1. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nach Auffassung des Senats im Ergebnis nicht vor.
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a) Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 ‒ juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 - 4 B 480/19.NE - juris Rn. 9).
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Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens im Zeitpunkt der Entscheidung über den Eilantrag nicht (hinreichend) abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, das Normenkontrollverfahren aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung ‒ trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache ‒ dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 ‒ juris Rn. 12).
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b) Nach diesen Maßstäben kommt eine vorläufige Außervollzugsetzung der mit dem Normenkontrollantrag der Antragstellerin angegriffenen Verordnung nicht in Betracht.
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aa) Der Senat hat sich bereits in mehreren Eilentscheidungen (BayVGH, B.v. 30.3.2020 - 20 NE 20.63 - juris; B.v. 9.4.2020 - 20 NE 20.663 - BeckRS 2020, 5446; 20 NE 20.688 - BeckRS 2020, 5449; 20 NE 20.704 - BeckRS 2020, 5450), auf die insofern verwiesen wird, mit der Außervollzugsetzung der auch von der Antragstellerin angegriffenen Verordnung auseinandergesetzt. Dabei ist der Senat im Rahmen der Eilverfahren davon ausgegangen, dass die angegriffenen Bestimmungen formell wirksam seien und in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG eine wirksame Rechtsgrundlage finden dürften.
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Weil insbesondere durch § 2 Abs. 1 BayIfSMV - wie die Antragstellerin zutreffend ausführt - in erheblichem Maß in ihr Grundrecht aus Art. 12 GG eingreifen und die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit und die ihrer Ermächtigungsgrundlage (vgl. hierzu kritisch VGH BW B.v. 9.4.2020 - 1 S 925/20 - bisher unveröffentlicht; OVG NW, B.v. 6.4.2020 - 13 B 398/20.NE - juris Rn. 57) angesichts der Komplexität des Gegenstands nur nach eingehender Prüfung in einem Hauptsacheverfahren erfolgen kann, sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache derzeit als offen anzusehen (vgl. BVerfG, B.v. 10.4.2020 - 1 BvR 802/20 - http://www.bverfg.de/e/rk20200409_1bvr 080220. html).
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bb) Eine Folgenabwägung führt allerdings zu dem Ergebnis, dass der Eilantrag abzulehnen ist. Durch den weiteren Vollzug der angegriffenen Verordnung kommt es zwar zu einem schwerwiegenden Eingriff in die Rechte der Antragstellerin aus Art. 12 GG. Würde der Vollzug der Verordnung jedoch ausgesetzt, wäre mit hinreichender Wahrscheinlichkeit aufgrund des Publikumsverkehrs in den Spielhallen der Antragstellerin und dem gleichzeitigen längerfristigen Aufenthalt mehrerer Personen in geschlossenen Räumen mit vermehrten Infektionsfällen zu rechnen, die nach der aktuellen Risikobewertung des nach § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 IfSG hierzu berufenen Robert-Koch-Instituts vom 26. März 2020 (vgl. https://www.rki.de/DE/ Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html) zwingend so weit wie möglich zu verhindern sind, um die weitere Ausbreitung des Virus zu verzögern und damit Zeit für die Schaffung von Behandlungskapazitäten sowie für die Durchführung und Entwicklung von Schutzmaßnahmen und Behandlungsmöglichkeiten zu gewinnen. Soweit sich die Antragstellerin darauf beruft, dass eine Ansteckungsgefahr in Spielhallen von vornherein ausgeschlossen sei, ist dieser Vortrag vor dem Hintergrund der bekannten Übertragungswege (vgl. dazu https://www.rki.de/DE/Con-tent/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText1, abgerufen am 15. April 2020), zumal in dieser Pauschalität nicht nachvollziehbar. Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs insbesondere nach Ablauf des derzeit bis zum 19. April 2020 befristeten Geltungszeitraums hat der Antragsgegner allerdings fortlaufend zu prüfen, ob die vollständige Schließung der von § 2 Abs. 1 BayIfSMV erfassten Freizeiteinrichtungen noch erforderlich ist.
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Bei einer Abwägung der Folgen eines zeitlich eng befristeten Eingriffs in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) mit dem Grundrecht behandlungsbedürftiger, teilweise lebensbedrohlich erkrankender Personen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG setzt sich der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit durch (so im Ergebnis auch BVerfG, B.v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 - http://www.bverfg.de/e/qk20200410_1bvq
002820. html; B.v. 9.4.2020 - 1 BvQ 29/20 - http://www.bverfg.de/e/qk20200409_
1bvq002920.html; B.v. 7.4.2020 - 1 BvR 755/20 - juris; BayVerfGH, E.v. 26.3.2020, Vf. 6-VII-20, juris Rn. 13 ff.).
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von der Antragstellerin angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 19. April 2020 außer Kraft tritt (§ 7 Abs. 1 BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hier nicht angebracht erscheint.
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Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).