Inhalt

ArbG Würzburg, Endurteil v. 13.05.2020 – 1 Ca 1333/19
Titel:

Arbeitnehmer, Tarifvertrag, Nachtarbeit, Manteltarifvertrag, Arbeitgeber, Arbeitszeit, Tarifvertragsparteien, Zuschlag, Mehrarbeit, Schichtarbeit, arbeit, Leistungen, Normenkontrolle, Tarifautonomie, tarifliche Regelung, kein Anspruch, tarifvertragliche Regelung

Schlagworte:
Arbeitnehmer, Tarifvertrag, Nachtarbeit, Manteltarifvertrag, Arbeitgeber, Arbeitszeit, Tarifvertragsparteien, Zuschlag, Mehrarbeit, Schichtarbeit, arbeit, Leistungen, Normenkontrolle, Tarifautonomie, tarifliche Regelung, kein Anspruch, tarifvertragliche Regelung
Rechtsmittelinstanz:
LArbG Nürnberg, Urteil vom 22.03.2023 – 7 Sa 239 20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 62613

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 412,07 € festgesetzt.
4. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über weitere tarifliche Nachtarbeitszuschläge für Arbeitsstunden, die der Kläger im Rahmen von Nachtschichten geleistet hat.
2
Der Kläger ist bei der Beklagten, einem Unternehmen der …, seit dem 04.05.1992 als Elektroniker für Betriebstechnik zu einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt 3.306,00 € beschäftigt.
3
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet aufgrund beidseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Milchindustrie, für das Molkerei- und Käsereigewerbe sowie für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Schmelzkäse-industrie in Bayern in der Fassung vom 15.11.1999 (im Folgenden: MTV Milchindustrie) Anwendung.
4
Der MTV Milchindustrie lautet auszugsweise wie folgt:
„§ 4 Schichtarbeit, Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonntags- und Feiertagsarbeit
1. (…)
5. a. Regelmäßige Nachtarbeit oder ständige Nachtschichtarbeit ist die nach festem Zeitplan geleistete Arbeit, im Molkerei- und Käsereigewerbe die in der Zeit von 20:00 Uhr bis 5:00 Uhr oder von 21:00 Uhr bis 6.00 Uhr geleistete Arbeit, in der Milchindustrie die in der Zeit von 21:00 Uhr bis 5.00 Uhr oder 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr geleistete Arbeit …
b. Unregelmäßige Nachtarbeit ist die in der Zeit von 20:00 Uhr bis 6:00 Uhr von Fall zu Fall geleistete Arbeit.
Sie liegt auch vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb fester Zeitpläne einzelne Nachtschichten zu leisten hat oder kurzfristig ein Wechsel des Rhythmus von der ersten oder zweiten in die dritte Schicht bzw. von Normalarbeitszeit in die Nachtschicht angeordnet wird.
(…)
§ 5 Zuschläge für Schichtarbeit, Mehrarbeit und Nachtarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit
Die Zuschläge betragen:
1. In der …
(…)

c. für regelmäßige Nachtarbeit bzw. Nachtschichtarbeit

25 %

d. für unregelmäßige Nachtarbeit

50 %

2. Im Molkerei- und Käsereigewerbe
(…)
e. für regelmäßige Nachtarbeit, die nach festem Zeitplan geleistet wird, und für Nachtschichtarbeit, die im wöchentlichen Wechsel mit

Tagesarbeit durchgeführt wird

25 %

f. für unregelmäßige Nachtarbeit

50 % zur Stundenvergütung.

(…)
§ 12 Schichtfreizeit
1. a) Arbeitnehmer, die ausschließlich in Nachtarbeit beschäftigt sind, erhalten je einen Tag Schichtfreizeit für 45 geleistete Nachtschichten,
b) Arbeitnehmer, die regelmäßig im Dreischichtbetrieb arbeiten, erhalten je einen Tag Schichtfreizeit für 15 geleistete Nachtschichten“.
5
Der Kläger wird bei der Beklagten regelmäßig in der Nachtschicht eingesetzt. Im Zeitraum vom 01.01.2019 bis 28.02.2019 hat der Kläger im Rahmen von Nachtschichten insgesamt 82,25 Arbeitsstunden geleistet und erhielt für diese Stunden zusätzlich zu seinem Stundenlohn einen Nachtschichtzuschlag von 25 %.
6
Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger für diese von ihm in der Nachtschicht geleisteten Arbeitsstunden die Differenz bis zu einem Zuschlag von 50 %.
7
Der Kläger hat die streitgegenständlichen Klageforderungen gegenüber der Beklagten mit Schreiben vom 29.04.2019 geltend gemacht.
8
Der Kläger ist der Auffassung, die Zahlung eines Zuschlages in Höhe von lediglich 25 % für die von ihm erbrachte Nachtschichtarbeit verletze ihn in seinem Grundrecht auf Gleichbehandlung mit einem 50 % – ig vergüteten unregelmäßigen Nachtarbeiter. Die tarifliche Regelung differenziere bei der Zahlung von Zuschlägen zwischen „regelmäßiger“ und „unregelmäßiger“ Nachtarbeit. Während Arbeitnehmer, die nur gelegentlich Nachtarbeit leisten, einen Zuschlag von 50 % erhielten, werde regelmäßige Nachtarbeit bzw. Arbeit im Nachtschichtbetrieb lediglich mit einem Zuschlag von 25 % vergütet.
9
Eine derartige tarifvertragliche Regelung stelle Nachtschichtarbeitnehmer gegenüber Arbeitnehmern, die außerhalb von Schichtsystemen Nachtarbeit leisten, gleichheitswidrig schlechter. Ein sachlicher Grund für diese Unterscheidung sei nicht gegeben. Auf der Grundlage des Urteils des BAG vom 21.03.2018 – 10 AZR 34/17 – sei diese gleichheitswidrige Ungleichbehandlung durch eine Anpassung „nach oben“ zu beseitigen. Der Kläger könne daher für die in der Nachtschicht geleisteten Arbeitsstunden einen Zuschlag in Höhe von insgesamt 50 % beanspruchen.
10
Für den streitgegenständlichen Zeitraum beziffert der Kläger seine Klageansprüche wie folgt:
„Januar 2019:

45,75 h × 20,04 EUR brutto × 50 % =

458,42 EUR brutto

abzüglich gezahlter

229,21 EUR brutto

229,21 EUR brutto

Februar 2019:

36,5 h × 20,04 EUR brutto × 50 % =

365,73 EUR brutto

abzüglich gezahlter

182,87 EUR brutto

182,87 EUR brutto

11
Der Kläger stellt folgende Anträge:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für den Monat Januar 2019 weitere 229,21 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.03.2019 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für den Monat Februar 2019 weitere 182,86 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.04.2019 zu zahlen.
12
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
13
Die Beklagte trägt im Wesentlichen Folgendes vor:
14
Der Kläger stütze sein Begehren im Wesentlichen auf das Urteil des BAG vom 21.03.2018.
15
Selbst wenn man die in diesem Urteil getroffenen Rechtsgrundsätze einer Würdigung des zwischen den Parteien anwendbaren Tarifvertrages zugrunde legte, käme man zu einem anderen Ergebnis. Die Regelungen des MTV Milchindustrie seien nicht gleichheitswidrig. Sie seien auf jeden Fall aber von der durch das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 21.03.2018 eingeräumten Einschätzungsprärogative umfasst.
16
Anders als der im Urteil des BAG vom 21.03.2018 zu beurteilende Manteltarifvertrag Textilindustrie N. behandele der hier vorliegende Manteltarifvertrag MTV Milchindustrie keine unterschiedlich hohen Zuschläge für zu leistende Nachtschichtarbeit. Im Manteltarifvertrag Textilindustrie N. gelte als Schichtarbeit in der Nacht eine Arbeitszeit von mindestens sechs Stunden. Für Nachtarbeit im Übrigen gelte jedoch ein Zuschlag von 55 %.
17
Im vorliegend anwendbaren MTV Milchindustrie gelte jedoch für Nachtschichtarbeit grundsätzlich ein Zuschlag in Höhe von 25 %.
18
Darüber hinaus fehle es vorliegend bereits an einer Gruppenbildung, die für die Anwendung des Gleichheitssatzes Tatbestandsvoraussetzung sei. Beispielhaft hierzu sei, dass in den Kalenderjahren 2018 und 2019 über den gesamten Standort der Beklagten in Würzburg 88.354,64 Stunden Nachtschichtarbeit angefallen seien. Diese seien mit dem tariflichen Zuschlag in Höhe von 25 % erfasst. Die finanzielle Belastung der Beklagten beziffere sich hier auf 421.163,08 €.
19
Im selben Zeitraum seien 9,83 Stunden (unregelmäßige) Nachtarbeit erfasst, die mit dem 50 %-igen tariflichen Zuschlag vergütet worden seien. Beziffert ergebe dies einen Betrag in Höhe von 101,90 €. Unregelmäßige Nachtarbeit finde bei der Beklagten daher nahezu überhaupt nicht statt.
20
Prozentual folge hieraus ein Anteil an unregelmäßiger Nachtarbeit in Höhe von 0,011 Prozent. Unregelmäßige Nachtarbeit sei deshalb im Betrieb der Beklagten die absolute Ausnahme. Aus diesem Grunde könne hier schon nicht von einer für die Feststellung einer Ungleichbehandlung notwendigen Gruppenbildung gesprochen werden. Arbeitnehmer, die bei der Beklagten unregelmäßige Nachtarbeit leisteten, erhielten zwar einen Nachtzuschlag von 50 %, allerdings handele es sich hierbei um eine verschwindend geringe Anzahl und insoweit keinen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, da es bereits an einer relevanten Vergleichsgruppe fehle.
21
Die 50 %-igen Zuschläge für Nachtarbeit „außerhalb von regulärer Schichtarbeit“ erhielten in der Regel solche Mitarbeiter, die einen nicht geplanten Bereitschaftseinsatz absolvierten und insoweit kurzfristig zur Nachtarbeit herangezogen würden. Diese Beschäftigten könnten die Zeitplanung für ihre Arbeitszeit nicht langfristig vornehmen, wie es bei Schichtarbeitenden der Fall sei.
22
Die regelmäßige Nachtarbeit/Nachtschichtarbeit sei vorhersehbar und planbar, denn in aller Regel werde eine Schicht, in die Arbeitnehmer eingeteilt sind, nicht kurzfristig und überraschend angekündigt, sondern mit einem angemessenen zeitlichen Vorlauf. Die unregelmäßige Nachtarbeit hingegen sei die von Fall zu Fall geleistete Arbeit (§ 4 Ziffer 5 lit. b MTV Milchindustrie).
23
Nur am Rande weist die Beklagte darauf hin, dass die arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse, auf die das BAG sich in seiner Entscheidung vom 21.03.2018 beruft, zum Teil bereits über mehrere Jahrzehnte alt seien und heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht ernsthaft genügten. Unter den Wissenschaftlern bestehe keine Einigkeit, insbesondere ob Nachtarbeit so kurz wie möglich andauern solle, oder ob andererseits längere Perioden mit Nachtarbeit oder dauernden Nachtarbeit zu einer besseren Anpassung führten.
24
Des Weiteren stehe einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung von unregelmäßiger und regelmäßiger Schichtarbeit entgegen, das die Tarifvertragsparteien des MTV Milchindustrie mit der Regelung zu Freischichten in § 12 ein weiteres Instrument zur Kompensation für solche Arbeitnehmer geschaffen haben, die im Rahmen regelmäßiger Nachtarbeit/Nachtschichtarbeit tätig seien. Rechne man die tariflich gewährten Freischichten für geleistete Nachtschichten hinzu, so ergebe sich in der Regel eine Kompensation von ca. vier Tagen Schichtfreizeit zusätzlich zu dem 25 %-igen Zuschlag für Nachtschichtarbeit.
25
Außerdem sei bei den höheren Zuschlägen für unregelmäßige Nachtarbeit zu berücksichtigen, dass mit diesen auch etwaige Mehrarbeit abgegolten sowie dem Umstand Rechnung getragen werden solle, dass unregelmäßige, nicht planbare Nachtarbeit grundsätzlich eine größere Belastung darstelle als regelmäßig planbare Nachtarbeit und insoweit vermieden werden solle. Unregelmäßige Nachtarbeit stelle fast immer Mehrarbeit dar und falle im Übrigen bei der Beklagten so gut wie überhaupt nicht an. Der typische Fall der unregelmäßigen Nachtarbeit sei, dass ungeplant gearbeitet werden müsse, weil beispielsweise eine Haverie oder sonstige Störung vorliege. Diese Arbeitszeiten wichen von der normalen geplanten Schichtarbeit ab und seien somit in der Regel Mehrarbeit im Sinn der tariflichen Vorschriften. Unregelmäßige Nachtarbeit solle nach dem Willen der Tarifvertragsparteien verteuert werden und somit für den Arbeitgeber unattraktiv sein. Die Lenkungsfunktion dieses höheren Nachtarbeitszuschlages diene der Vermeidung von Nachtarbeit.
26
Weiter ist die Beklagte der Auffassung, dass die Entscheidung der Parteien des vorliegenden Tarifvertrages für eine Differenzierung zwischen „üblicher“ regelmäßiger Nachtarbeit in Schicht- bzw. Wechselschicht und unregelmäßiger Nachtarbeit bei den diesbezüglichen Zuschlagshöhen von deren Einschätzungsprärogative im Rahmen der Tarifautonomie gedeckt sei. Die tarifliche Differenzierung sei jedenfalls mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.
27
Die Tarifvertragsparteien hätten – abgeleitet aus Art. 9 Abs. 3 GG – eine eigene Kompetenz, die Normen des Arbeitslebens festzulegen. Die Einschränkung dieser grundrechtlich geschützten Tarifkompetenz bedürfe triftiger Gründe. Mit dem Bundesverfassungsgericht sei davon auszugehen, dass ein Gesetzgeber die Grenzen der ihm zustehenden weiten Gestaltungsfreiheit erst überschreite, „wenn die ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte mit Gesetzlichkeiten, die in der Natur der Sache selbst liegen, und mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise nicht mehr vereinbar ist, d.h. wenn die gesetzliche Differenzierung sich – sachbereinigt bezogen – nicht auf einen vernünftigen rechtfertigenden Grund zurückführen lässt“ (BVerfG, AP GG Art. 6 Abs. 1 Nr. 28).
28
Die Beklagte ist der Auffassung, dass sich das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 21.03.2018 nicht mit diesen Kriterien des Bundesverfassungsgerichtes auseinandergesetzt habe. Das BAG habe es unterlassen, die Systematik der tariflichen Zuschläge zu erfassen. Typisch für Tarifverhandlungen sei gerade, dass zahlreiche materielle Fragestellungen in Übereinstimmung gebracht werden müssen und dass dabei die eine Seite an einer Stelle etwas gibt und dafür an einer anderen Stelle ein Zugeständnis des Verhandlungspartners bekomme. Insofern verbiete es sich, lediglich zwei Komponenten einer differenzierten Zuschlagsstruktur miteinander zu vergleichen und somit in das Gesamtgefüge einzugreifen.
29
In Übereinstimmung mit der von Eylert/Creutzfeldt in ihrem Rechtsgutachten „Gutachten zur Zulässigkeit von differenzierenden Nachtzuschlagsregelungen in Tarifverträgen der Ernährungswirtschaft vom 20.08.2019 geäußerten Auffassung würde eine Prüfung tarifvertraglicher Regelungen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu einer verbotenen „Tarifzensur“ durch die Arbeitsgerichte führen. Hätten „gleichwertige“ Tarifpartner die tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen ausgehandelt und sei ein Tarifvertrag zustande gekommen, so hätten diese tariflichen Regelungen die Vermutung der Angemessenheit für sich.
30
Tarifverträge böten daher eine materielle „Richtigkeitsgewähr“.
31
Die Beklagte ist der Auffassung, dass die vorliegende tarifliche Regelung nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoße. Unter Berücksichtigung der Kompensationsregelungen, insbesondere der Freischichtenregelung, ergäbe sich vorliegend keine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Nachtarbeitszuschlägen für beide möglichen Arbeitnehmergruppen der Nachtschichtarbeit bzw. der Nachtarbeit, die verfassungsrechtlich relevant wäre oder auch nur einen niedrigschwelligen Anlass für die Prüfung einer Vereinbarkeit der tariflichen Regelungen mit Art. 3 Abs. 1 GG ergäbe.
32
Die sich aus den tariflichen Regelungen ergebenden unterschiedlichen Zwecke der Nachtarbeitszuschläge zeigten, dass es nicht nur um den Gesundheitsschutz als einzigen Zweck gehe. Deshalb könne es nicht auf den schlichten Umstand ankommen, dass der Nachtarbeitszuschlag für die „sonstigen“ Beschäftigten höher sei als für die regelmäßig in Nachtarbeit Tätigen.
33
Die besondere Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien, insbesondere unter Beachtung der tariflichen Kompromisse, könne eben dazu führen, dass die Tarifvertragsparteien bei ihrer Bewertung zu differenzierten Ergebnissen kämen, die unterschiedliche Bedürfnisse der Tarifpraxis aufgriffen und einer nicht immer zwingend als „gerecht“ anzusehenden Lösung zuführten. So seien deshalb unterschiedlich hohe tarifliche Zuschläge auch unter dem Blickwinkel des Art. 3 Abs. 1 GG unproblematisch, wenn es für sie – wie vorliegend – einen Sachgrund gebe, wie insbesondere hier der Tarifzweck der Vermeidung von „sonstiger Nachtmehrarbeit“. Der Zuschlag für „sonstige“ nicht regelmäßige Nachtarbeit solle im Verhältnis zur „üblichen Schichtarbeit“ – wie sich aus der Tarifsystematik des MTV Milchindustrie ergebe – die („sonstige“) Nachtarbeit in weitaus größerem Umfang verteuern und damit die Schwelle für ihre Anordnung möglichst weit erhöhen, um dem tarifvertraglichen Gebot, Mehrarbeit grundsätzlich zu vermeiden, Nachdruck zu verleihen.
34
Weiter ist die Beklagte der Auffassung, dass selbst für den Fall der Annahme einer gleichheitswidrigen Tarifregelung kein Anspruch des in der Nacht arbeitenden Schichtarbeitnehmers auf den höheren Zuschlag bestehe. Der Tarifvertrag wäre an dieser Stelle lückenhaft. Die Lücke müsse von den Tarifvertragsparteien geschlossen werden.
35
Da sich eine Gleichheitswidrigkeit innerhalb des Regelungssystemes allein aus dem Abstand zwischen beiden Bestimmungen ergebe, sei nicht notwendig eine einzelne Regelung betroffen, sondern das gesamte „Ensemble“ der Regelungen, mit der Folge, dass die beiden Bestimmungen, aus denen sich die gleichheitswidrige Differenzierung ergebe, insgesamt unwirksam seien.
36
Vorliegend sei offensichtlich, dass es übereinstimmende Auffassung der Tarifvertragsparteien gewesen sei, dass die Zuschläge differenziert ausgestaltet werden sollten. Insofern könne nicht gegen den klaren Willen der Vertragsparteien eine Anpassung nur nach oben erfolgen.
37
Hinzu komme, dass von den „sonstigen“ ungeplanten Nachtarbeitszuschlägen vorliegend lediglich eine verschwindend geringe Anzahl aller beschäftigten Arbeitnehmer bei der Beklagten betroffen seien. Wenn man deshalb eine (unbewusste) Tariflücke annehmen sollte, gebe es weder aus dem Zweck noch aus der Anzahl der betroffenen Arbeitsverhältnisse einen Anhaltspunkt dafür, dass die Tarifvertragsparteien diese Lücke durch eine Anwendung der deutlich höheren und nur auf eine extreme Minderheit zutreffenden Zuschlagsregelung auf jede einzelne Nachtarbeitsstunde auch von Nachtschichtarbeitern angewendet hätten.
38
Der Kläger hält dem im Wesentlichen Folgendes entgegen:
39
Entgegen der Auffassung der Beklagten beziehe sich die Entscheidung des BAG vom 21.03.2018 nicht nur auf den Manteltarifvertrag der Nordrheinischen Textilindustrie. Vielmehr treffe das Bundesarbeitsgericht in seinen Entscheidungsgründen eine allgemeine Aussage, die auf andere Tarifverträge mit vergleichbaren Regelungen anwendbar sei. Dies gelte auch für den vorliegenden Fall. Denn es gehe im vorliegenden Rechtsstreit ebenfalls um eine gleichheitswidrige Schlechterstellung von Nachtschichtarbeitnehmern gegenüber Arbeitnehmern, die außerhalb von Schichtsystemen Nachtarbeit leisteten.
40
Zwar sei es zutreffend, dass hinsichtlich der Angemessenheit tariflicher Regelungen aufgrund der Tarifautonomie keine gerichtliche Beurteilungskompetenz bestehe. Vorliegend gehe es jedoch nicht um die Angemessenheit der Zuschläge für Nachtarbeit, sondern um die Unzulässigkeit der erfolgten Differenzierung.
41
So sei Nachtarbeit, wenn sie in einem Schichtarbeitssystem stattfinde, nicht weniger belastend als andere Nachtarbeit, die nur gelegentlich stattfinde.
42
Dies ergebe sich aus bisherigen Veröffentlichungen der arbeitswissenschaftlichen Diskussion. Auf welcher empirischen Grundlage die Beklagte zu der Erkenntnis gelange, ein Arbeitnehmer, der in Schichtarbeit arbeite, könne sich leichter auf die mit der Nachtarbeit verbundenen Erschwernisse einstellen, bleibe völlig unklar. Die Annahme der Beklagten, Schichtarbeit sei – auch wenn sie nachts erfolge – gesundheitlich und sozial weniger belastend, basiere auf dem Bild der „biologischen Uhr“, die von den Menschen jeweils entsprechend eingestellt werden könne. Das tradierte Bild der verstellbaren biologischen Uhr werde in den heutigen Arbeitswissenschaften deutlich abgelehnt. Vielmehr sei festzustellen, dass die biologische Uhr nicht umgestellt werden könne. Insoweit bedeute Nachtarbeit in jeder Form, also egal ob vorausplanbar oder ungeplant, eine „biologische Desynchronisation“. Desweiteren führe Nachtarbeit aber auch zu einer „sozialen Desynchronisation“. Die möglicherweise vorhandene Planbarkeit der Nachtarbeit bei Schichtarbeit führe nicht zu einer geringeren Belastung der Arbeitnehmer. Zudem erfolge die Feinplanung der Schichten bei der Beklagten jeweils nur mit einer kurzen Vorlaufzeit, welche eben gerade keine ausreichende Zeitspanne für eine angemessene Zeitplanung darstelle. Erst mit der Feinplanung der Schichten sei für die Arbeitnehmer im Schichtsystem klar, wann der Einsatz zur Nachtschicht erfolge. Hierin könne nicht wirklich eine Rechtfertigung gesehen werden für den immensen Unterschied in der Höhe der Zuschläge. Im Hinblick auf die Schichtfreizeiten nach § 12 MTV wolle die Beklagte suggerieren, dass das „Gesamtkonstrukt Manteltarifvertrag“ zu bewerten sei. Dabei verkenne die Beklagte, dass das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 21.03.2018 ausschließlich die Höhe der Nachtzuschläge miteinander verglichen und nicht darauf abgestellt habe, wie zusätzliche Erschwernisse ausgeglichen würden. So sei es vom Bundesarbeitsgericht offensichtlich nicht als relevant angesehen worden, dass im Geltungsbereich des MTV Textilindustrie N. zusätzlich zum niedrigen Nachtzuschlag gegebenenfalls noch andere Zuschläge, wie z.B. der Mehrarbeitszuschlag, zu zahlen wären oder dass für eine bestimmte Anzahl von Nachtschichten Schichtfreizeiten zu gewähren seien. Zudem sei bei der Bewertung der Schichtfreizeiten nach § 12 Ziffer 1 MTV zu berücksichtigen, dass ein Tag Schichtfreizeit bei Beschäftigten im Dreischichtsystem nach der Ableistung von jeweils 15 geleisteten Nachtschichten anfalle. Auch wenn in der Schichtfreizeit ein pekuniärer Vorteil liegen möge, ergebe sich bei vergleichender Gegenüberstellung kein entsprechender Ausgleich für den entgangenen Nachtzuschlag in Höhe von restlichen 25 %.
43
Desweiteren sei zu bestreiten, dass unregelmäßige Nachtarbeit bei der Beklagten fast immer auch Mehrarbeit darstelle. Es könne sehr wohl Fälle geben, in denen sonstige Nachtarbeit nicht gleichzeitig Mehrarbeit sei, beispielsweise, wenn die Lage der täglichen Arbeitszeit verschoben, aber nicht gleichzeitig verlängert werde.
44
Desweiteren sei es zwar grundsätzlich richtig, dass eine Vergleichsgruppe vorhanden sein müsse, um eine Ungleichbehandlung festzustellen. Die Beklagte verkenne jedoch, dass es anders als beim allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, der zur Anwendung komme, wenn ein Arbeitgeber „seine“ Arbeitnehmer ungleich behandele, vorliegend um eine Normenkontrolle gehe. Entscheidend sei, ob (tarifliche) Normen unzulässig differenzierten. Hierzu müsse die Vergleichsgruppe (noch) nicht konkret vorhanden sein, sondern es sei ausreichend, wenn sie vorhanden sein könne. Es gehe darum, ob die Normgeber Normen für unterschiedliche potenzielle Gruppen geschaffen hätten. Im Übrigen wäre, selbst wenn eine konkrete tatsächliche Ungleichbehandlung darzulegen wäre, der gesamte Geltungsbereich des jeweiligen Tarifvertrages und nicht ein einzelner Betrieb der ausschlaggebende Maßstab.
45
Entgegen der Auffassung der Beklagten könne die vorliegende gleichheitswidrige Ungleichbehandlung des Klägers nur durch eine Anpassung „nach oben“ beseitigt werden. Nur so könne ein dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG entsprechender Ausgleich von Erschwernissen der Nachtarbeit erfolgen.
46
Schließlich könne das Gutachten Eylert/Creutzfeldt die gleichheitswidrige Schlechterstellung von Nachtschichtarbeitnehmern gegenüber Arbeitnehmern, die außerhalb von Schichtsystemen Nachtarbeit leisteten, nicht rechtfertigen. Zweck der Zuschläge sei es, die mit Nachtarbeit üblicherweise verbundenen gesundheitlichen und sozialen Nachteile auszugleichen. Diese Nachteile seien unabhängig davon, ob die Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit oder aber außerhalb von Schichtarbeit erfolge. Insbesondere hätten die beiden von der Arbeitgebervereinigung bestellten Gutachter anscheinend nicht erkannt, dass es hier nicht um die Angemessenheit der Zuschläge für Nachtarbeit gehe, sondern um die Unzulässigkeit der Differenzierung. Insoweit könne nicht davon ausgegangen werden, dass Tarifverträge stets eine materielle „Richtigkeitsgewähr“ böten.
47
Insgesamt liege damit ein Verstoß der tarifvertraglichen Differenzierung bei den Zuschlägen für „Nachtarbeit“ einerseits (§ 5 Ziffer 1 d MTV) und für Nachtschichtarbeit (§ 5 Ziffer 1 c MTV) andererseits gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Denn damit hätten die Tarifvertragsparteien mit der für die Nachtarbeitszuschläge vorgenommenen Gruppenbildung den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten, indem sie für eine Gruppe von Normadressaten ohne sachlichen Grund eine erheblich weniger günstige Zuschlagsregelung geschaffen hätten, als für eine vergleichbare Gruppe.
48
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

49
Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet.
A.
50
Die Klage ist zulässig.
51
Das angerufene Arbeitsgericht Würzburg ist sowohl örtlich (§§ 46 Abs. 2 ArbGG, 12, 13, 17 ZPO) als auch vom Rechtsweg her (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a ArbGG) zuständig.
52
Der Kläger verfolgt sein Begehren zutreffend im Urteilsverfahren (§ 2 Abs. 5 ArbGG).
B.
53
Die Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
54
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Nachtarbeitszuschläge in Höhe von rechnerisch 50 % statt der von der Beklagten zu Recht geleisteten 25 %. Ein derartiger Anspruch ergibt sich weder aus dem Tarifvertrag noch aus einer Verletzung des EU Rechtes oder des grundgesetzlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes.
I.
55
Der streitgegenständliche Zahlungsanspruch ist nicht aufgrund der Ausschlussfrist des § 22 MTV verfallen.
56
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet aufgrund der Tarifgebundenheit sowohl des Klägers als auch der Beklagten der von seinem räumlichen, fachlichen und persönlichen Anwendungsbereich eröffnete Manteltarifvertrag vom 15.11.1999 für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Milchindustrie, für das Molkerei- und Käsegewerbe sowie für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Schmelzkäseindustrie in Bayern (MTV) Anwendung.
57
Nach § 22 Nr. 2 MTV sind alle übrigen (nicht aus unrichtiger Eingruppierung im Sinn des § 22 Nr. 1 sich ergebenden – Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten nach Fälligkeit geltend zu machen.
58
Diese Ausschlussfrist hat der Kläger hinsichtlich der streitgegenständlichen Klageforderungen gewahrt.
59
Nach § 8 Nr. 2 S. 1 MTV ist der Zeitpunkt der Entgeltzahlung betrieblich zu vereinbaren. Nach der unbestrittenen Darlegung des Klägers in der Klageschrift sind die Zuschläge jeweils mit dem Arbeitsentgelt des Folgemonats zum Monatsende zur Zahlung fällig.
60
Durch sein Geltendmachungsschreiben vom 29.04.2019 hat der Kläger ersichtlich die drei monatige Geltendmachungsfrist ab Fälligkeit für die streitgegenständlichen Zulagen aus dem Monat Januar 2019 und Februar 2019 gewahrt.
II.
61
Der Klageanspruch ergibt sich nicht unmittelbar aus dem MTV.
62
Nach dem Sachvortrag des Klägers, dem die Beklagte nicht entgegengetreten ist, wurde er im streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.01.2019 bis 28.02.2019 im Rahmen von Nachtschichten insgesamt 12,5 Arbeitsstunden eingesetzt. Die zeitliche Lage und der konkrete Umfang der verfahrensgegenständlichen Arbeitsstunden ist ebenso unstreitig wie der Umstand, dass diese im Rahmen des regelmäßigen Nachtschichteinsatzes des Klägers angefallen sind; somit hat der Kläger die betreffenden Arbeitsstunden in regelmäßiger Nachtarbeit im Sinn des § 4 Nr. 5 lit. a MTV erbracht. Für derartige in der Milchindustrie erbrachte regelmäßige Nachtarbeit bzw. Nachtschichtarbeit sieht § 5 Nr. 1 lit. c MTV einen Zuschlag in Höhe von lediglich 25 % vor. Eine – die klägerische Forderung auf 50 %-igen Zuschlag begründende – unregelmäßige Nachtarbeit im Sinn des § 5 Nr. 1 lit. d MTV ist nicht gegeben.
III.
63
Der vom Kläger begehrte höhere Zuschlag ergibt sich auch nicht aus einem Verstoß des MTV gegen das Unionsrecht der Europäischen Gemeinschaft.
64
Ein Verstoß der vorliegenden Zulagenregelung des § 5 Nr. 1 lit. c MTV gegen die Arbeitszeitrichtlinie der Europäischen Union ist hinsichtlich der konkrete Zuschlagshöhe von 25 % nicht gegeben.
65
1. Die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitsgestaltung (Arbeitszeitrichtlinie) verpflichtet im Rahmen des Kapitel 3 (Nachtarbeit – Schichtarbeit – Arbeitsrhythmus, Art. 8 bis Art. 13) in Art. 12 lit. a die Mitgliedsstaaten zu den erforderlichen Maßnahmen, damit Nacht- und Schichtarbeitern hinsichtlich Sicherheit und Gesundheit in einem Maß Schutz zuteil wird, das der Art ihrer Arbeit Rechnung trägt. Der deutsche Gesetzgeber hat insbesondere mit § 6 Abs. 5 ArbZG eine Regelung geschaffen, um die aus Art. 12 der RL 2003/88/EG resultierenden Pflicht zum Treffen effektiver Maßnahmen des Gesundheitsschutzes umzusetzen (BAG vom 09.12.2015 – 10 AZR 423/14; Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum Europäischen Arbeitsrecht, 3. Auflage 2020, RL 2003/88/EG Art. 12 Rn. 2).
66
2. § 6 Abs. 5 ArbZG verpflichtet den Arbeitgeber – soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen –, dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren. Der Zuschlag in § 6 Abs. 5 ArbZG soll Nachtarbeit so nachhaltig verteuern, dass nur noch in unverzichtbaren Fällen Nachtarbeit verlangt wird (BAG vom 09.12.2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 18). Eine solche Verteuerung ist nach gefestigter Rechtsprechung des BAG nur dann gegeben, wenn wenigstens ein Zuschlag von 25 % gezahlt wird (BAG vom 09.12.2015 – 10 AZR 423/14; BAG vom 16.04.2014 – 4 AZR 802/11; ErfK/Wank, Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 20. Auflage, § 6 ArbZG Rn. 14 mit weiteren Hinweisen auf Rechtsprechung und Literatur).
67
3. Eine den Schutz von Nachtarbeitern im Rahmen des Anwendungsbereiches der RL 2003/88/EG ausreichend gewährende Zulage setzt somit für den Regelfall eine Höhe von 25 % voraus (zu den ebenfalls in Frage kommenden Über- oder Unterschreitungen dieses Regelwertes, vgl. BAG vom 09.12.2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 27 ff.).
68
Die vorliegend in § 5 Nr. 1 lit. c MTV vorgesehene und dem Kläger tatsächlich zugeflossene Zuschlagshöhe von 25 % ist unionsrechtlich ausreichend hoch und verstößt somit nicht gegen die Arbeitszeitrichtlinie RL 2003/88/EG (so im Ergebnis auch Kohte, Anmerkung zu BAG vom 21.03.2018 – 10 AZR 34/17 –, juris PR-ArbR 19/2019, Anm. 5).
IV.
69
Ein Anspruch des Klägers auf den höheren Zuschlag ergibt sich auch nicht aus einem Verstoß des Tarifvertrages gegen den verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Die Unterscheidung der Zuschlagshöhe für regelmäßige Nachtarbeit von 30 % gegenüber unregelmäßiger Nachtarbeit von 50 % verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
70
1. Entgegen der Auffassung der Beklagten scheitert ein Anspruch des Klägers aus verfassungswidriger Ungleichbehandlung nicht schon an der fehlenden Aufzeigung einer konkreten Vergleichsgruppe.
71
Zwar setzt die Anwendung des Gleichheitssatzes zutreffend eine Gruppenbildung voraus (so zutreffend BAG vom 21.03.2018 10 AZR 34/17, Rn. 44).
72
Jedoch weist der Kläger zurecht darauf hin, dass anders als beim allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, der zur Anwendung kommt, wenn ein Arbeitgeber nach bestimmten von ihm aufgrund einseitiger Gestaltungsmacht selbstgesetzten Regeln verfährt und bei dem eine tatsächliche Ungleichbehandlung „seiner“ Arbeitnehmer vorliegen muss, es hier um eine Normenkontrolle geht. Bei dieser muss für die Frage, ob (tarifliche Normen) unzulässig differenzieren, die Vergleichsgruppe noch nicht konkret vorhanden sein, sondern es reicht aus, wenn sie vorhanden sein kann. Es geht darum, ob die Normgeber Normen für unterschiedliche potenzielle Gruppen geschaffen haben. Zutreffend zitiert der Kläger das Urteil des BAG vom 11.12.2013 – 10 AZR 736/12 –, wonach bei der Überprüfung von Tarifverträgen anhand des allgemeinen Gleichheitssatzes nicht auf die Einzelfallgerechtigkeit abzustellen ist, sondern auf die generellen Auswirkungen der Regelung.
73
Dem Vorliegen einer – vom Kläger behaupteten – gleichheitssatzwidrigen Ungleichbehandlung steht daher nicht von vorneherein der von der Beklagten geltend gemachte Umstand entgegen, dass der Anteil an unregelmäßiger Nachtarbeit in den Kalenderjahren 2018 und 2019 nur 0,011 % der gesamt geleisteten Nachtarbeit ausgemacht hat und somit den Betrieb der Beklagten die absolute Ausnahme bildet.
74
2. Nach gefestigter Rechtsprechung des BAG und auch nach dem vom Kläger zur Stützung seines Klageanspruches als besonders herangezogenes Urteil des BAG vom 21.03.2018 kommt den Tarifvertragsparteien als selbständigen Grundrechtsträgern aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Mit der kollektiv ausgeübten privatautonomen Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge ist eine unmittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien nicht zu vereinbaren. Die Tarifvertragsparteien haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interesse. Bei der Lösung tarifpolitscher Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht (BAG vom 26.04.2017 – 10 AZR 856/15; BAG vom 21.12.2017 – 6 AZR 790/16; BAG vom 21.03.20118 – 10 AZR 34/17).
75
3. Jedoch ist die Grundrechtsgewährung nicht auf die bloße Abwehr staatlicher Eingriffe beschränkt, sondern verpflichtet darüber hinaus den Staat, die Rechtsordnung in einer Weise zu gestalten, dass die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen wirksam werden können. Die Schutzfunktion der Grundrechte verpflichtet die Arbeitsgerichte, solchen Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu einer Gruppenbildung führen, mit der Art. 3 GG verletzt wird (BAG vom 27.06.2017 – 6 AZR 364/16; BAG vom 21.03.2018 – 10 AZR 34/17).
76
Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt das Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (BVerfG vom 13.12.2016 – 1 BvR 713/13; BAG vom 25.01.2018 – 6 AZR 791/16). Dabei ist es grundsätzlich dem Normgeber überlassen, die Merkmale zu bestimmen, nach denen Sachverhalte als hinreichend gleich anzusehen sind, um sie gleich zu regeln. Die aus dem Gleichheitssatz folgenden Grenzen sind überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könnte (BVerfG vom 07.05.2013 – 2 BvR 909/06; BAG vom 26.04.2017 – 10 AZR 856/15; BAG vom 21.03.2018 – 10 AZR 34/17).
77
4. Mit dem vom Kläger herangezogenen Urteil vom 21.03.2018 (10 AZR 34/17) ist das BAG zu der Auffassung gelangt, dass die zugrundliegende Regelung des Manteltarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer der nordrheinischen Textilindustrie vom 10. Mai 1987 (MTV Textilindustrie N.), die für Nachtarbeiter einen Zuschlag von 50 % zum Stundenlohn vorsieht, während Nachtarbeit im Schichtbetrieb lediglich mit einem Zuschlag von 15 % vergütet wird, eine gleichheitswidrige Schlechterstellung von Nachtschichtarbeitnehmern gegenüber solchen Arbeitnehmern darstelle, die außerhalb von Schichtsystemen Nachtarbeit leisten.
78
Diese gleichheitswidrige Ungleichbehandlung des – nachtschichtleistenden – Arbeitnehmers könne nur durch eine Anpassung „nach oben“ beseitigt werden, indem er anstelle eines Zuschlages von 15 % ebenfalls einen Zuschlag von insgesamt 50 % zum jeweiligen Stundenlohn erhalten müsse.
79
5. Selbst wenn man mit dem Urteil des BAG vom 21.03.2018 davon ausginge, dass Arbeitnehmer, für die tarifvertraglichen Regelungen unmittelbar und zwingend gelten, sich als Normunterworfene auf das Grundrecht des Art. 3 Abs. 3 GG berufen können, sind die unterschiedlichen Zuschlagshöhen des vorliegenden MTV Milchindustrie nach Überzeugung des erkennenden Gerichtes jedenfalls sachlich gerechtfertigt und stellen keine Art. 3 GG verletzende Ungleichbehandlung dar, der das angerufene Gericht die Durchsetzung verweigern müsste.
80
a) Der Unterschied der Zuschlagshöhe war in dem Fall, der der Entscheidung des BAG vom 21.03.2018 zugrunde lag und der das BAG zur Annahme einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung veranlasste, erheblich größer als im vorliegenden Fall. Während dort Zuschläge von 15 % Nachtschichtarbeit gegenüber 50 % für Nachtarbeit standen, sind es nach dem vorliegenden MTV 25 % für regelmäßige Nacht(schicht)arbeit gegenüber 50 % für unregelmäßige Nachtarbeit. Das BAG hat im Urteil vom 21.03.2018 zur Begründung seiner Annahme, die Tarifvertragsparteien des dortigen MTV hätten den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten, dem Umstand besonderes Gewicht eingeräumt, dass der Zuschlag von 50 % für Nachtarbeit um mehr als das dreifache höher sei als der Zuschlag für Nachtschichtarbeit (BAG vom 21.03.2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 47).
81
b) Vorliegend sind die Zuschläge für unregelmäßige Nachtarbeit jedoch lediglich doppelt so hoch, wie für regelmäßige Nacht(schicht)arbeit. (25:50 %). Selbst in einem Fall, wo der einschlägige Tarifvertrag für reine Nacharbeit einen Zuschlag von 50 % und für Nachtschichtarbeit nur einen Zuschlag von 20 % vorsah, hatte das BAG – allerdings unter den besonderen branchentypischen Bedingungen des Einzelhandels – einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG verneint (BAG vom 11.12.2013 – 10 AZR 736/12 zu § 8 Ziffer 5 a des Manteltarifvertrages für den Berliner Einzelhandel vom 06.07.1994).
82
6. Außerdem ist vorliegend eine Überschreitung der Einschätzungsprärogative durch die Tarifvertragsparteien umso mehr ausgeschlossen, als die geringere Zuschlagshöhe für regelmäßige gegenüber unregelmäßiger Nachtarbeit zumindest teilweise durch zusätzliche Schichtfreizeiten gemäß § 12 MTV kompensiert wird.
83
Anspruch auf Schichtfreizeit von je einem Tag für 45 geleistete Nachtschichten oder für 15 geleistete Nachtschichten haben nur Arbeitnehmer, die ausschließlich in Nachtarbeit beschäftigt sind (§ 13 Nr. 1 lit. a MTV) oder die regelmäßig im Dreischichtbetrieb arbeiten (§ 12 Nr. lit. b MTV).
84
Da die Schichtfreizeit ebenfalls als Ausgleich für die Nachtarbeit dient, ist sie beim Vergleich von regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit mit zu berücksichtigen, was dazu führt, dass die Differenz der Vergütung regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit rechnerisch noch geringer als 25 % wird (so zutreffend Arbeitsgericht Kempten vom 16.12.2019 – 1 Ca 1176/19).
85
7. Auch der Umstand, dass der Stand der arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse zu den spezifischen Belastungen von Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit kontrovers zu diskutieren ist, steht nach Überzeugung des Gerichtes im vorliegenden Fall einer Wahrung der Einschätzungsprärogative durch die Tarifvertragsparteien des MTV Milchindustrie nicht entgegen.
86
a) So stützt sich der Kläger zur Begründung seiner Auffassung, dass es für die Schlechterstellung der Nachtschichtarbeit gegenüber der unregelmäßigen Nachtarbeit im vorliegenden MTV vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit keinen sachlich vertretbaren Grund gebe, auf die Ausführungen des BAG im Urteil vom 21.03.2018, wonach Nachtarbeit nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen grundsätzlich für jeden Menschen schädlich sei. Die Belastung der Beschäftigten steige nach bisherigen Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Anzahl der Nächte pro Monat und die Anzahl der Nächte hintereinander. Hieraus leitet der Kläger ab, dass das tradierte Bild der verstellbaren biologischen Uhr in der heutigen Arbeitswissenschaft abgelehnt werde. Insoweit bedeute Nachtarbeit in jeder Form, also egal ob vorausplanbare oder ungeplante „biologische Desynchronisation“, die mit einer „sozialen Desynchronisation“ einhergehe.
87
Die Beklagte hält dem entgegen, dass die arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse, auf die das BAG und in der Folge auch der Kläger sich berufen, zum Teil über mehrere Jahrzehnte alt seien. In zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen seien unterschiedliche Auffassungen vertreten worden. Unter den Wissenschaftlern bestünde keine Einigkeit, insbesondere, ob Nachtarbeit so kurz wie möglich andauern solle, oder ob andererseits längere Perioden mit Nachtarbeit oder dauernde Nachtarbeit zu einer besseren Anpassung führten.
88
b) Nach Überzeugung des erkennenden Gerichtes kommt es für die Frage, ob ein sachlich rechtfertigender Grund für die unterschiedliche Zulagenhöhe im MTV gegeben ist, auf diese Kontroverse nicht an.
89
Als Differenzierungsgrund kommt – aufgrund des den Tarifvertragsparteien zustehenden weiten Prüfungsmaßstabes – grundsätzlich jede vernünftige Erwägung in Betracht.
90
Die Zweckbestimmung ergibt sich vorrangig aus den tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen, von deren Vorliegen und Erfüllung die Leistung abhängig gemacht wird. Das BAG stellt in seinem Urteil vom 21.03.2018 bei den Zuschlägen für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit auf die mit Nachtarbeit verbundenen herausgehobenen Belastungen ab, die insbesondere in den möglichen negativen gesundheitlichen Auswirkungen und in der erschwerten Teilhabe am sozialen Leben bestehen sollen.
91
Denkbar ist aber, zusätzlich in der Höhe der Zuschläge zugunsten von Arbeitgebern einen wirtschaftlichen Anreiz für Arbeitnehmer zu sehen, eine Tätigkeit in der Nacht bzw. in Nachtschicht überhaupt ausüben zu wollen. Ferner muss die wirtschaftliche Belastung für den Arbeitgeber bedacht werden. Ein im Vergleich zur Nachtarbeit geringerer Zuschlag für Nachtschichtarbeit könne für Arbeitgeber teurer – und für Arbeitnehmer lukrativer – sein, da insbesondere bei Dauernachtschicht mehr zuschlagspflichtige Stunden anfallen als bei wenigen Nachtarbeitsstunden außerhalb von Schichten (so zutreffend: Kleinebrink, Die Erhöhung tarifvertraglicher Nachtzuschläge durch Urteil, NZA 2019, 1458, 1461).
92
c) Unter Berücksichtigung aller Differenzierungsgründe muss eine deutliche Schlechterstellung der einen Vergleichsgruppe gegenüber der anderen vorliegen. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich nicht allein anhand der unterschiedlichen Höhe der Zuschläge. Berücksichtigt werden muss bei Zuschlägen, die besondere Erschwernisse ausgleichen sollen, eine geringere Belastung der einen Gruppe im Vergleich zur anderen Gruppe und die Häufigkeit der Belastungen, zu der es in einer bestimmten Branche kommen kann (vgl. BAG vom 11.12.2013 – 10 AZR 736/12).
93
Ganz besonderes Augenmerk muss auf das finanzielle „Gesamtpaket“ gelegt werden, das im Zusammenhang mit dem jeweiligen tarifvertraglichen Zuschlag vereinbart wurde. Ein erheblicher Unterschied bei der Höhe der Zuschläge kann deshalb auf verschiedene Weise durch die Tarifvertragsparteien relativiert werden. Dies ist vorliegend durch die Regelung zu Schichtfreizeiten für Nachtschichtarbeit in § 12 Nr. 1 MTV der Fall.
94
Alles in allem bleibt festzuhalten, dass die Tarifvertragsparteien durch die unterschiedliche Ausgestaltung der Zuschläge für regelmäßige Nacht(Schicht)arbeit von 25 % und für unregelmäßige Nachtarbeit von 50 % den ihnen zustehenden Einschätzungsspielraum wegen Vorliegens ausreichender sachlicher Rechtfertigungsgründe nicht überschritten und insbesondere den verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 GG nicht verletzt haben.
V.
95
Ohne dass es hierauf noch ankommt, sei darauf hingewiesen, dass das erkennende Gericht erhebliche Bedenken an der Zulässigkeit einer Unwirksamkeitserklärung einer tariflichen Regelung wegen Verstoßes gegen Art. 3 Grundgesetz durch das BAG im Urteil vom 21.03.2018 hegt.
96
1. Mit diesem Urteil hat das BAG zum ersten Mal eine tarifvertragliche Regelung wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz für unwirksam erklärt und insoweit Neuland betreten (Kleinebrink, a.a.O., unter I. 1 mit Bezug auf Wiedemann/Jacobs, Kommentar zum TVG, 8. Auflage 2019, Einleitung, Rn. 300). Das Urteil des BAG vom 21.03.2018 hat in Rechtsprechung und Literatur teilweise heftigen Widerspruch erfahren (beispielsweise Kleinebrink, Die Erhöhung tarifvertraglicher Nachtzuschläge durch Urteil, NZA 2019, 1458; Bayreuther, Überstunden- und Nachtzuschläge: die Bindung der Tarifvertragsparteien an Gleichheitsgrundsätze, NZA 2019, 1684; Kohte, Anm. zu BAG vom 21.03.2018, juris PR – ArbR 19/2019 Anm. 5; Giesen: Nach fest kommt lose – stark nachjustierte Tarifautonomie, NZA Editorial Heft 4/2020; Arbeitsgericht Kempten vom 06.12.2019 – 1 Ca 1176/19; Arbeitsgericht München vom 10.12.2019 – 3 Ca 844/19, Arbeitsgericht Mainz vom 06.11.2019 – 4 Ca 1110/19 –; sowie das von der Beklagten eingereichte Rechtsgutachten zur Zulässigkeit von differenzierenden Nachtzuschlägen in Tarifverträgen der Ernährungswirtschaft von Eylert und Creutzfeldt).
97
a) Zwar haben Tarifvertragsparteien bei den von ihnen getroffenen Vereinbarungen über Arbeitsbedingungen, die für die tarifunterworfenen Arbeitsverhältnisse normativ wirken (§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1, 2 Abs. 1 TVG), vor allem den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und die Freiheitsgrundrechte, insbesondere Art. 12 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu beachten (Eylert/Creutzfeldt, a.a.O., S. 27 mit Hinweis auf einschlägige Entscheidungen des BAG in Fußnote 69).
98
Bei der Bestimmung der Grenze, ab der die Tarifvertragsparteien den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt haben, muss jedoch die ihnen eingeräumte und verfassungsrechtlich in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie berücksichtigt werden. Aus dieser verfassungsrechtlichen Garantie der Tarifautonomie ist große Zurückhaltung bei der gerichtlichen Kontrolle tarifvertraglicher Normen geboten. Die Tarifvertragsparteien haben einen weiten Gestaltungsspielraum und damit eine weite Einschätzungsprärogative. Aus ihr folgt, dass Gerichte die vereinbarten Regelungen nur sehr begrenzt kontrollieren dürfen. Die ihnen zustehende Kontrolldichte ist gering.
99
b) Dies gilt in besonderem Maß bei der Prüfung, ob tarifvertragliche Regelungen, die die Höhe des Entgeltes regeln, gegen den Gleichheitssatz verstoßen (Kleinebrink, a.a.O. unter Hinweis auf BAG vom 19.01.2011 – 3 AZR 29/09, in Fußnote 31). Nach der Konzeption des Grundgesetzes ist die Festlegung der Höhe des Entgelts grundsätzlich Sache der Tarifvertragsparteien, weil dies zu sachgerechteren Ergebnissen führt als eine staatlich beeinflusste Entgelt- und Leistungsfindung. Das schließt auch die Befugnis zur Vereinbarung von Regelungen ein, die den Betroffenen ungerecht und Außenstehenden nicht zwingend sachgerecht erscheinen mögen. Ausgangspunkt für den Maßstab der Prüfung ist, ob die Prüfung willkürlich ist (Kleinebrink, a.a.O. mit Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 29.09.2015 – 2 BvR 2683/11 in Fußnote 33).
100
c) Für einen weiten Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien und damit für eine geringe Kontrolldichte spricht insbesondere, dass die der Norm unterworfenen Arbeitgeber nach Abschluss einer Tarifrunde soweit wie möglich sicher sein müssen, vor weiteren tarifvertraglichen finanziellen Belastungen geschützt zu sein. Die Friedenspflicht schützt sie u.a. vor einer Änderung der sich aus dem Tarifergebnis ergebenden Kalkulationsgrundlagen für die Personalkosten. Gewerkschaften ihrerseits haben lediglich nach Ablauf der Friedenspflicht die Möglichkeit, durch entsprechende Forderungen höhere finanzielle Leistungen zugunsten ihrer Mitglieder durch entsprechend geänderte Tarifnormen zu erreichen. Engte man den Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien dadurch ein, dass man einen großzügigen Prüfungsmaßstab befürwortet, ermöglicht dies den Gewerkschaften, mit Hilfe der Rechtsprechung deutlicher Einkommenssteigerungen zugunsten ihrer Mitglieder während der Friedenspflicht und damit außerhalb von Tarifrunden zu erreichen. Kleinebrink bezeichnet dies plakativ als „Mitgliederwerbung durch Urteil“, obwohl die Gewerkschaften den Tarifvertrag unterzeichnet und dessen Regelungen damit mitgetragen hätten (Kleinebrink, a.a.O. NZA 2019, 1458, 1461).
101
2. Das erkennende Gericht hegt die Befürchtung, dass der Schutzbereich der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie verletzt wird, wenn Gerichte Tarifnormen aufgrund eines angenommenen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG für unwirksam erklären, den sie aufgrund einer zu niedrigen Prüfdichte angenommen haben.
102
a) Aufgrund der ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Tarifautonomie so wie ihrer größeren Sachnähe steht den Tarifvertragsparteien als selbstständigen Grundrechtsträgern ein weiter Gestaltungsspielraum bei der tariflichen Normsetzung zu. Ihnen kommt eine umfassende Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu. Darüber hinaus verfügen sie über eine Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung (ErfK/Schmidt, a.a.O., Art. 3 GG, Rn. 26 mit vielen Hinweisen auf Rechtsprechung und Literatur). Als Ergebnis der Verhandlungen gleich starker Vertragspartner haben Tarifverträge die Vermutung der Angemessenheit für sich; sie bieten eine „materielle Richtigkeitsgewähr“ (beispielsweise: BAG vom 26.10.2016 – 7 AZR 140/15).
103
Eine umfassende Überprüfung so zustande gekommener tarifvertraglicher Regelungen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit würde zu einer – verbotenen – „Tarifzensur“ durch die Arbeitsgerichte führen (Eylert/Creutzfeldt, a.a.O., S. 27 mit Hinweis auf ErfK/Schmidt, a.a.O., GG Einl. Rn. 47).
104
b) Vor diesem Hintergrund kann eine Verfassungswidrigkeit der konkreten Ausgestaltung eines Tarifvertrages wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG allenfalls dann angenommen werden, wenn ein „innerer Regelungsplan“ der Tarifvertragsparteien in gröbster Weise zulasten einer Arbeitnehmergruppe missachtet wird. „Tarifvertragliche Arbeitszeit- und Entgeltregelungen … sind nur in Ausnahmefällen zu beanstanden, etwa wenn sie auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten der vom jeweiligen Tarifvertrag erfassten Beschäftigungsbetriebe und der dort zu verrichtenden Tätigkeiten gegen elementare Gerechtigkeitsanforderungen aus dem Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz verstoßen“ (so zutreffend Eylert/Creutzfeldt, a.a.O., S. 35 unter Hinweis auf BAG vom 20.07.2006 – 6 AZR 144/08 –).
105
c) Das erkennende Gericht hegt Zweifel, ob die vom Kläger herangezogene Entscheidung des BAG vom 21.03.2018 den dargestellten hohen Anforderungen an eine ausnahmsweise Verwerfung von Tarifnormen wegen Verstoßes gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz entspricht, indem sie im Wesentlichen auf die absolute Höhe des Unterschiedes der betroffenen Zulagen abstellt.
VI.
106
Selbst wenn eine Prüfung der Regelungen des MTV für regelmäßige und für unregelmäßige Nachtarbeit am Gleichheitsgrundsatz vorzunehmen wäre und als Ergebnis einen (groben) Verstoß gegen elementare Gerechtigkeitsanforderungen ergeben würde, hat das erkennende Gericht erhebliche Zweifel, ob der MTV entsprechend dem Urteil des BAG vom 21.03.2018 „nach oben“ zu korrigieren und dem Kläger somit die restlichen 25 % bis zur vollen Zulage für unregelmäßige Nachtarbeit zuzusprechen wäre.
107
1. Zwar mag bei unbewussten Regelungslücken oder nachträglich lückenhaft gewordenen Regelungen eines Tarifvertrages eine ergänzende Auslegung durch die Gerichte zulässig sein, wenn nur eine einzige Regelung möglich ist, die dem Gleichheitssatz entspricht (Kleinebrink, NZA 2019, 1458, 1462 mit Hinweis auf BAG, NZA 1997, 101).
108
Demgegenüber darf eine bewusste Tariflücke, also ein gezielter Ausschluss des Regelungsbereiches von der Einigung der Tarifvertragsparteien, von den Gerichten für Arbeitssachen grundsätzlich nicht geschlossen werden, weil dies ein aktiver Eingriff in die Tarifautonomie wäre (Eylert/Creutzfeldt, S. 40 mit Hinweis auf BAG vom 25.02.2009 – 4 AZR 964/07 –).
109
2. Die vom BAG in der Entscheidung vom 21.03.2018 vorgenommene Korrektur einer – wegen grundrechtswidrig ungleicher Höhe – entfallenden Zulagenregelung „nach oben“ ist verfassungsrechtlich äußerst bedenklich. Der Normsetzungsvorrang der Tarifvertragsparteien wäre gefährdet. Eine Anpassung nach oben würde das Ergebnis tarifautonomer Betätigung der Gewerkschaft und der Arbeitgebervereinigung verdrängen und verhindern, dass die in dem getroffenen Tarifvertrag vereinbarten Rechtsnormen auf deren Mitglieder Anwendung fänden. An die Stelle des von den Tarifvertragsparteien für richtig empfundenen Verhandlungsergebnisses würde die Rechtsprechung damit die von ihr für richtig erachtete Lösung setzen (so zutreffend Kleinebrink, a.a.O., NZA 2019, 1458, 1462).
110
3. Selbst wenn man eine (unbewusste) Regelungslücke annähme, gäbe es weder aus dem Zweck der Regelung noch aus der Anzahl der jeweils betroffenen Arbeitsverhältnisse einen Anhaltspunkt dafür, dass die Tarifvertragsparteien diese Lücke durch eine Anwendung der deutlich höheren und nur eine extreme Minderheit betreffenden Zuschlagsregelung auf jede einzelne Nachtarbeitsstunde, auch von Nachtschichtarbeitern, angewandt hätten. Zutreffend weisen Eylert/Creutzfeldt darauf hin, dass eine bei Annahme der Gleichheitswidrigkeit einer tariflichen Zuschlagsregelung entstehende Tariflücke nicht gerichtlich geschlossen werden könne. Eine Neuregelung müsse den Tarifvertragsparteien vorbehalten bleiben (Eylert/Creutzfeldt, a.a.O., S. 42).
111
Nach alledem bleibt festzuhalten, dass der Klageanspruch – unbeschadet weiterer Bedenken des Gerichtes – bereits deshalb scheitert, weil eine verfassungswidrige Ungleichheit der Zuschlagsregelung in § 5 Nr. 1 lit. c und d MTV von vorneherein aus dem Grund ausgeschlossen ist, weil der Unterschied von 25 % (Zulage für regelmäßige Nachtarbeit) zu 50 % (Zulage für unregelmäßige Nachtarbeit) für sich allein eine Überschreitung des Gestaltungsspielraumes der Tarifvertragsparteien nicht zu begründen vermag.
112
Der Klage konnte daher kein Erfolg beschieden sein.
C.
I.
113
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 91 ZPO.
II.
114
Der Streitwert bemisst sich gemäß § 3 ZPO in Höhe der bezifferten Klageforderung.
D.
115
Gemäß § 64 Abs. 3 Nr. 2 lit. b ArbGG war die Berufung zuzulassen, weil vorliegend ein Rechtsstreit für die Auslegung eines Tarifvertrages betroffen ist, dessen Geltungsbereich sich über den Bezirk des angerufenen Arbeitsgerichtes hinaus erstreckt.