Inhalt

LG München I, Endurteil v. 24.08.2020 – 15 O 14566/19
Titel:

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, Fahrzeug, Software, Annahmeverzug, Auslegung, Anspruch, Form, Streitwertfestsetzung, Verletzung, betrug, Pkw, Kenntnis, ins Blaue hinein, sittenwidrige Handlung, billigend in Kauf

Schlagworte:
Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, Fahrzeug, Software, Annahmeverzug, Auslegung, Anspruch, Form, Streitwertfestsetzung, Verletzung, betrug, Pkw, Kenntnis, ins Blaue hinein, sittenwidrige Handlung, billigend in Kauf
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 19.04.2023 – 15 U 5668/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 62555

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist für die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert wird auf 39.596,35 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt Schadensersatz wegen des von der Beklagten hergestellten und in Verkehr gebrachten Pkw mit einem EA 288-Dieselmotors.
2
Der Kläger erwarb am … bei der … in … zum Preis von 36.700 € ein Fahrzeug VW, Multivan mit der … in dem ein sog. EA 288 Motor verbaut ist. Der damit verbundene Kreditvertrag löste Kosten in Höhe von 2.896,35 € aus.
3
Bei Übergabe des Fahrzeugs betrug der Kilometerstand 11.264 km.
4
Die Abgasrückführung wird bei kühleren Temperaturen zurückgefahren („Thermofenster“).
5
Das … hat Dieselfahrzeuge mit einem EA 288-Motor nicht verpflichtend zurückgerufen (vgl. Bl 62 d. Akte). Eine Prüfung seitens des … zum Vorliegen unzulässiger Abschalteinrichtungen bei EA 288-Motoren hat bislang nicht stattgefunden (vgl. Bl. 62 d. Akte).
6
Die Beklagte wurde mit Schreiben, Anlage K14, außergerichtlich aufgefordert, Zug-um-Zug gegen Hergabe und Übereignung des streitbefangenen Fahrzeugs den geltend gemachten Schadensersatz zu zahlen. Die gesetzte Frist verstrich fruchtlos (Bl. 122 d. Akte).
7
Unmittelbar nach Bekanntwerden der EA 189-Thematik gab das … Untersuchungen auch in Bezug auf die Motoren des Typs EA 288 in Auftrag. Das … wies das … an, spezifische Nachprüfungen durch unabhängige Gutachter zu veranlassen. Nach diesen Prüfungen hat das … festgestellt, dass in den Motoren des Typs EA 288 die aus den EA 189-Fällen bekannte Umschaltlogik nicht zum Einsatz kommt (vgl. Anlage B 4). Im Jahr 2016 veröffentlichte das … Felduntersuchungen. Diese haben gezeigt, dass in Fahrzeugen mit EA 288-Motoren keine unzulässige Abschalteinrichtugnen im Zusammenhang mit einer Umschaltlogik zum Einsatz kommen (vgl. Bl. 151 d. Akte).
8
In den Jahren 2016 und 2017 führte die Beklagte umfangreiche Überprüfungen der kompletten Fahrzeugflotte des VW Konzerns durch. Bei diesen Nachprüfungen betreffend den sog. Ki-Werten stellte die Beklagte fest, dass die Regeneration des Dieselpartikelfilters bei bestimmten Neufahrzeugen des Typs T6 2,0 I TDI, EU6, M1-Klassifizierung zu höheren Emissionen führt als ursprünglich bei der Genehmigung angenommen und in dem sog. Ki-Wert der Ki-Familie festgehalten. Die Beklagte informierte daraufhin das … über die vorliegende Konformitätsabweichung und schlug für die betroffenen Neufahrzeuge ein Software-Update vor. Das … genehmigte dieses Anfang 2018. Das … prüfte das im Juni 2018 und im November 2018 von der Beklagten entwickelte Software-Update und genehmigte dieses mit Freigabebescheid vom 19. November 2018. Darin wird als Ergebnis der Bewertung der Emissionsstrategien ausgeführt „Ergebnis: Es wurden keine unzulässige Abschalteinrichtungen festgestellt.“
9
Mit Schreiben vom Mai 2019 wurde der Kläger seitens der Beklagte über die Rückrufaktion … informiert (vgl. Anlage K23).
10
Am 03.12.2019 durchsuchten Ermittler Geschäftsräume der Beklagten in …. Hintergrund waren Ermittlungen gegen Einzelbeschuldigte, die sich auf Dieselfahrzeuge mit Motoren des Typs EA 288 bezogen (vgl. Bl. 188 d. Akte).
11
Mit Schreiben vom 26.02.2020 bestätigte das … gegenüber dem Landgericht … dass Grund für den Rückruf eine Konformitätsabweichung war, welche zur Überschreitung der Euro-6-Grenzwerte für Stickoxide führt. Eine unzulässige Abschalteinrichtung ist bei dem Fahrzeug VW T6 Multivan 2.9 TDI nach derzeitigem Kenntnisstand nicht vorhanden (vgl. Anlage B 3).
12
Der Kläger behauptet, er habe das Fahrzeug gekauft, weil er von seiner Umweltfreundlichkeit und Gesetzmäßigkeit ausgegangen sei.
13
Der Kläger führt weiter aus, das streitgegenständliche Fahrzeug sei vom sog. „Abgasskandal“ betroffen und mit einer von der Beklagten entwickelten Abschalteinrichtung versehen. Das Fahrzeug verfüge über multiple illegale Abschaltvorrichtungen. Die installierte Software erkenne, ob sich das Fahrzeug in der Prüfstandsanordnung befinde und steuere die Abgaskontrollanlage entsprechend. Erkenne die Software, dass das Auto länger im normalen Betrieb auf der Straße fahre, so würden Teil der Abgaskontrollanlage außer Betrieb gesetzt („Fahrzykluserkennung“).
14
Zudem finde eine Leistungsreduzierung statt, um den Verbrauch und damit die streitgegenständlichen CO2-Werte deutlich zu senken.
15
Die Beklagte habe von Beginn an beabsichtigt, die Grenzwerte für NOx im Realbetrieb deutlich zu überschreiten (vgl. Bl. 8 d. Akte). Die Software sei einzig aus dem Grund verbaut worden, um bei der Abgasuntersuchung falsche Werte vorzutäuschen und dadurch die EG-Übereinstimmungsbescheinigung zu erlangen.
16
Der Kläger ist der Auffassung, dass die Grenzwerte der … auch im normalen Fahrbetrieb eingehalten werden müssen.
17
Keine der (behaupteten) Abschalteinrichtungen erfülle einen der Ausnahmetatbestände.
18
Eine Berechtigung der Beklagten, Nutzungsersatz zu begehren, bestehe nicht (vgl. Bl. 118 d. Akte).
19
Der Rückruf … sei ein amtlicher Rückruf.
20
Die Klagepartei meint, im vorliegenden Fall sei für die außergerichtliche Interessenswahrnehmung der Ansatz einer 2,0 Gebühr gerechtfertigt.
21
Der Kläger beantragte zuletzt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerpartei EUR 39.596,35 abzüglich einer Nutzungsentschädigung in Höhe von 3.374,48 € nebst Zinsen in Höhe von 4 Prozent seit dem 14.02.2017 bis 03.07.2019 und seither fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz Zug-um-Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeuges mit der … zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte seit dem 03.07.2019 mit der Rücknahme des im Klageantrag zu 1. bezeichneten Gegenstands in Annahmeverzug befindet.
3. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von EUR 2.434,74 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 03.07.2019 zu zahlen.
22
Die Beklagte beantragte zuletzt:
Klageabweisung.
23
Die Beklagte ist der Auffassung, der Einsatz eines sog. Thermofensters stelle keine unzulässige Abschalteinrichtung dar.
24
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Parteivertretern gewechselten Schriftsätzen nebst Anlagen sowie das Protokoll der öffentlichen Sitzung vom 06.07.2020 mit Hinweisen des Gerichts.

Entscheidungsgründe

A)
25
Die zulässige Klage ist unbegründet. Dem Kläger steht gegen die Beklagte weder ein Schadensersatzanspruch aus §§ 826, 31 BGB noch aus sonstigen Schadensersatzansprüchen zu.
26
Soweit der Kläger seinen Anspruch darauf stützt, dass die im streitgegenständlichen EA 288-Motor verbaute Software eine Abschaltautomatik in Form einer Fahrzykluserkennung beinhalte (I.), handelt es sich um Behauptungen ins Blaue hinein, sodass es einer Beweiserhebung hierzu nicht bedurfte und der Kläger den Beweis mithin nicht geführt hat. Soweit der Kläger darüber hinaus seinen Anspruch auf das Vorhandensein eines Thermofensters stützt (II.) scheitert ein Anspruch jedenfalls an der Sittenwidrigkeit. Auch darüber hinaus bestehen keine Schadensersatzansprüche (III.)
I)
27
Zwar kann die Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in Form einer Fahrzykluserkennung den Tatbestand des § 826 BGB grundsätzlich erfüllen. Vorliegend konnte der Kläger aber den Beweis für seine Behauptung, die Beklagte habe eine unzulässige Abschalteinrichtung in Form einer Fahrzykluserkennung im streitgegenständlichen VW T6 Multivan 2.9 TDI verbaut, nicht führen. Das beantragte Sachverständigengutachten ist nicht zu erholen, da die Behauptung einer Abschaltautomatik in Form einer Fahrzykluserkennung lediglich ins Blaue hinein erfolgte, d.h. jegliche tatsächlichen Anhaltspunkte dafür fehlen.
28
1) Dabei legt das Gericht seiner Entscheidung die Anforderungen des BGH an die Substantiierung von Sachvortrag zugrunde. Die Erholung eines Sachverständigengutachtens ist auch nicht im Hinblick auf die jüngst zur Frage der Substantiierungsanforderungen ergangene Entscheidung des BGH erforderlich. Zur Frage des Sachmangels hat der BGH im Beschluss vom 28.01.2020 – Az. VIII ZR 57/19 folgendes ausgeführt:
29
Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind (stRspr; vgl. BGH NJW 2015, 934 Rn. 43; WuM 2012, 311 = BeckRS 2012, 6244 Rn. 6 m.w.N.; VersR 2019, 835 = BeckRS 2019, 7939 Rn. 11 m.w.N.). Das gilt insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den Vorgängen hat (BGH NJW-RR 2017, 22 Rn. 27). Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen (vgl. etwa BGH WuM 2012, 311 = BeckRS 2012, 6244 mwN; VersR 2019, 835 = BeckRS 2019, 7939). Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten (stRspr; vgl. BGH NJW 2015, 934; WuM 2012, 311 = BeckRS 2012, 6244; VersR 2019, 835 = BeckRS 2019, 7939, jew. m.w.N.).
30
Weiter ist es einer Partei grundsätzlich nicht verwehrt, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Umstände zu verlangen, über die sie selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann, die sie aber nach Lage der Verhältnisse für wahrscheinlich oder möglich hält (stRspr; vgl. BGH NJW-RR 2004, 337 unter II 1 mwN; Beschl. v. 9.11.2010 – VIII ZR 209/08, BeckRS 2010, 29314 Rn. 15). Dies gilt insbesondere dann, wenn sie sich nur auf vermutete Tatsachen stützen kann, weil sie mangels Sachkunde und Einblick in die Produktion des von der Gegenseite hergestellten und verwendeten Fahrzeugmotors einschließlich des Systems der Abgasrückführung oder -verminderung keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben kann (vgl. BGH VersR 2019, 835 = BeckRS 2019, 7939 Rn. 13). Eine Behauptung ist erst dann unbeachtlich, wenn sie ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt worden ist (stRspr; vgl. etwa BGH NJW-RR 2004, 337; NZG 2016, 658 = WM 2016, 974 Rn. 20; Beschl. v. 9.11.2010 – VIII ZR 209/08, BeckRS 2010, 29314; VersR 2019, 835 = BeckRS 2019, 7939 Rn. 13, jew. mwN). Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist Zurückhaltung geboten; in der Regel wird sie nur beim Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte gerechtfertigt werden können (BGH NJW-RR 2004, 337 m.w.N.).
31
2) Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Ausführungen des BGH nur für den Fall eines Sachmangels gelten oder auch – wie hier – bei einem Anspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung, da jedenfalls im vorliegenden Fall es an greifbaren Anhaltspunkten für das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung fehlt.
32
a) Ein amtlicher Rückruf des … wegen der vom Kläger behaupteten Abschalteinrichtung in Form einer Zykluserkennung liegt nicht vor. In dem als Anlage K23 vorgelegten Schreiben der Beklagten an den Kläger heißt es, dass Ursache für die Neuprogrammierung des Motorsteuergerätes erhöhte Stickoxidemissionen während der Regeneration des Dieselpartikelfilters ist. Es handle sich um eine Konformitätsabweichung und nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung.
33
Dies wird auch durch das Schreiben des … vom 19.11.2018 bestätigt. Hierin wird ausgeführt, dass die Softwaremaßnahme das Stickoxid-Emissionsverhalten während der Regeneration des Diesel-Partikelfilters verbessern soll. Eine unzulässige Abschalteinrichtung wurde nicht festgestellt. Unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse wurde die Umrüstung der im Verkehr befindlichen Fahrzeuge der Beklagten durch das … freigegeben.
34
Auch aus dem Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ des … haben sich keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Fahrzykluserkennung ergeben. Wie sich aus Seite 20 des Berichts ergibt, hat das dort untersuchte Fahrzeug, ein Audi A3 2,0 I Euro 6 EA 288, in allen NEFZ-Tests die gesetzlichen NOx-Grenzwerte eingehalten. Gleiches gilt für die auf Seite 60 des Berichts untersuchten weiteren Fahrzeugen mit einem EA 288 Motor. Wie sich aus der Bewertung auf Seite 119 des Berichts ergibt, konnte für den Motor EA 189 eine unzulässige Abschalteinrichtung nachvollzogen werden, nicht aber für sonstige Fahrzeuge des VW-Konzerns. Lediglich Abschalteinrichtungen gemäß der Definition in Art. 3 der Verordnung (EG) … konnte festgestellt werden. Hierbei handelt es sich aber um keine Fahrzykluserkennung.
35
b) Auch ist der Vortrag zu einem etwaigen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen des konkreten Motortyps im Hinblick auf eine Fahrzykluserkennung nicht substantiiert dargelegt. Soweit auf Bl. 188 d. Akte auf einen Bericht des Manager Magazins Bezug genommen wird, ergibt sich hieraus nicht, dass es sich um den Verdacht einer Fahrzykluserkennung handelt. Nach dem Bericht sei Gegenstand der Untersuchung vielmehr der simulierte Ausfall des Dieselpartikelfilters gewesen. Dies ist aber Gegenstand auch der freiwilligen Rückrufaktion (siehe oben). Anhaltspunkte für eine Fahrzykluserkennung ergeben sich somit aus dem zitierten Artikel ebenfalls nicht.
36
c) Auch auf den gerichtlichen Hinweis vom 06.07.2020 hat die Klagepartei keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Fahrzykluserkennung mitgeteilt. Der Verweis auf eine etwaige Überschreitung der Grenzwerte im Realbetrieb begründet keine derartigen Anhaltspunkte für eine Fahrzykluserkennung. Bei der Messung lagen Temperaturen zwischen 6,48 Grad Celsius und 16,8 Grad Celsius vor. Der Versuch kann mithin evtl. Auskunft über das Vorliegen eines Thermofensters geben, nicht aber bzgl. einer Fahrzykluserkennung.
37
Eine Beweiserhebung hatte daher zu unterbleiben. Eine Beweiserhebung über diese Behauptungen des Klägers liefe letztlich auf einen in der ZPO nicht vorgesehenen Ausforschungsbeweis hinaus.
II)
38
Darüber hinaus besteht auch kein Schadensersatzanspruch wegen des Inverkehrbringens des streitgegenständlichen Fahrzeugs mit einem sog. Thermofenster. Dies ist nicht als sittenwidrige Handlung zu bewerten, da vorliegend eine möglicherweise falsche aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe in Betracht gezogen werden muss, sodass die Ausstattung einer Motorsoftware mit einem Thermofenster nicht gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Das Gericht schließt sich der Auffassung des OLG München, Az. 3 U 7524/19 (Hinweisbeschluss vom 10.02.2020 sowie Beschluss vom 16.03.2020) an.
39
1) Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Im Allgemeinen genügt es dafür nicht, dass der Handelnde eine Pflichtverletzung und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zu Tage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. In diesem Rahmen spielen Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden, die die Bewertung eines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen, eine Rolle. Bezüglich des Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden kommt es im Wesentlichen Verhaltenserwartungen im Verkehr an (Staudinger/Oechsner, BGB, § 826, Rn. 31).
40
2) Legt man diese Maßstäbe zugrunde, ist das Verhalten der Beklagten, ein mit einem sogenannten Thermofenster ausgestattetes Fahrzeug in den Verkehr zu bringen, vorliegend nicht als sittenwidrige Handlung zu bewerten. Zwar ergibt sich bei einer sogenannten „Schummelsoftware“, wie sie in dem VW-Motor EA189 verwendet worden war, die Sittenwidrigkeit des Handelns per se aus der Verwendung einer Umschaltlogik, weil die Verwendung einer solchen Abschalteinrichtung eindeutig unzulässig und dies den Handelnden bzw. den Verantwortlichen auch bewusst ist. Bei einer anderen die Abgasreinigung (Abgasrückführung und Abgasnachbehandlung) beeinflussenden Motorsteuerungssoftware, wie hier dem Thermofenster, die vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeitet wie auf dem Prüfstand, und bei der Gesichtspunkte des Motorrespektive Bauteilschutzes als Rechtfertigung ernsthaft angeführt werden können, kann bei Fehlen jedweder konkreter Anhaltspunkte nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die Handelnden bzw. Verantwortlichen bei der Beklagten in dem Bewusstsein gehandelt hatten, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Demgegenüber muss bei dieser Sachlage, auch wenn – einmal unterstellt – hinsichtlich des Thermofensters von einer objektiv unzulässigen Abschalteinrichtung ausgegangen werden sollte, eine möglicherweise falsche aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe in Betracht gezogen werden (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 04.07.2019, Az.: 3 U 148/18, Juris, Rn. 6). Eine Sittenwidrigkeit käme daher hier nur in Betracht, wenn über die bloße Kenntnis von der Verwendung einer Software mit der in Rede stehenden Funktionsweise im streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass dies von Seiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen, und dieser Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wurde (OLG Köln, a.a.O.). Solche Anhaltspunkte werden pauschal behauptet; im Wesentlichen vermengt die klägerische Darstellung die in der beim Vorgängermotor EA 189 für die Prüfstandsmanipulation behauptete Vorgehensweise in der Entwicklungsabteilung der Beklagten mit dem „Thermofenster“ im weiterentwickelten Dieselmotor EA 288.
41
In dem Fall, dass die Beklagte die Rechtslage fahrlässig verkannt hätte, würde es ihr an dem für die Sittenwidrigkeit in subjektiver Hinsicht erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit fehlen (vgl. Palandt/Sprau, BGB, 78. Aufl. 2019, § 826, Rn. 8). Wie die kontrovers geführte Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 a VO (EG) 2007/715 zeigt, ist die Gesetzeslage an dieser Stelle nicht unzweifelhaft und eindeutig. Nach Einschätzung der vom Bundesverkehrsministerium eingesetzten Untersuchungskommission Volkswagen liegt ein Gesetzesverstoß durch die von allen Autoherstellern eingesetzten Thermofenster jedenfalls nicht eindeutig vor. So heißt es im Bericht der Kommission zur Auslegung der vorerwähnten Ausnahmevorschrift ausdrücklich (Bericht Stand April 2016, Seite 123): „Zudem verstößt eine weitere Interpretation durch die Fahrzeughersteller und die Verwendung von Abschalteinrichtungen mit der Begründung, dass eine Abschaltung erforderlich ist, um den Motor vor Beschädigung zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten, angesichts der Unschärfe der Bestimmung, die auch weite Interpretationen zulässt, möglicherweise nicht gegen die VO (EG) Nr. 715/2007. Konsequenz dieser Unschärfe der europäischen Regelung könnte sein, dass unter Berufung auf den Motorschutz die Verwendung von Abschalteinrichtungen letztlich stets dann gerechtfertigt werden könnte, wenn von Seiten des Fahrzeugherstellers nachvollziehbar dargestellt wird, dass ohne die Verwendung einer solchen Einrichtung dem Motor Schaden droht, sei dieser auch noch so klein.“ Zudem zeigt auch der in der Literatur (etwa Führ, NWVZ 2017, 265) betriebene erhebliche Begründungsaufwand, um das „Thermofenster“ als unzulässige Abschalteinrichtung einzustufen, dass keine klare und eindeutige Rechtslage gegeben war, gegen welche die Beklagte seinerzeit bewusst verstoßen hätte (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 04.07.2019, a. a. O., OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019, 10 U 134/19, Juris, Rn. 89).
42
Von daher ist eine Auslegung, wonach ein Thermofenster eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, jedenfalls nicht unvertretbar. Ein Handeln unter vertretbarer Auslegung des Gesetzes kann nicht als besonders verwerfliches Verhalten angesehen werden (vgl. OLG Stuttgart, a. a. O., Rn. 90). Letztlich bestand auch – trotz entsprechender Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Behörden für diese Materie – kein Anlass zu einem Rückruf seitens des Kraftfahrtbundesamts und zu einer Aufforderung an die Beklagte, die Abgasreinigung auf andere Weise vorzunehmen.
43
3) Zudem hat dass das KBA beim streitgegenständlichen Fahrzeugtyp bis zum heutigen Tag in Kenntnis des Thermofensters keinerlei Maßnahmen in Richtung „unzulässige Abschaltvorrichtung“ unternommen hat. Wenn aber eine zuständige kompetente Behörde sich in Kenntnis der aufgekommenen Diskussion nach Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht zu Maßnahmen veranlasst sah, kann bei den Verantwortlichen der Beklagten auch kein vorsätzlicher Gesetzesverstoß unterstellt werden.
III)
44
1) Für das Eingreifen vertraglicher oder quasivertraglicher Ansprüche fehlt es an jeglichen Anhaltspunkten, da der Kläger das Fahrzeug nicht von der Beklagten, sondern von der … erworben hat.
45
2) Die Voraussetzungen für eine Haftung der Beklagten aus § 831 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. § 826 BGB sind nicht gegeben. Es fehlt auch insoweit an den subjektiven Voraussetzungen für ein deliktisches Handeln. Wie bereits ausgeführt, war die Auslegung, dass es sich bei einem Thermofenster nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung nach Art. 5 Abs. 2, Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 handelt, jedenfalls zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des streitgegenständlichen Fahrzeugs eine zulässige – und überdies gut vertretbare – Auslegung des Gesetzes. Dies bedeutet, dass weder die Mitarbeiter noch eventuelle Repräsentanten der Beklagten in dem Bewusstsein handelten, mit dem Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs, das unstreitig mit einem sogenannten Thermofenster ausgerüstet ist, möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen und diesen Gesetzesverstoß sowie eine Schädigung des Klägers als Käufer des Fahrzeugs zumindest billigend in Kauf genommen haben (OLG Koblenz, Urteil vom 21.10.2019 – 12 U 246/19).
46
Unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer unerlaubten Handlung in Gestalt eines Verstoßes gegen ein Schutzgesetz (§ 823 Abs. 2 BGB, § 263 StGB) ergibt sich nichts anderes, denn hiernach wäre eine vorsätzliche Täuschung im Sinne eines Betruges erforderlich, die das Gericht nach den vorstehenden Ausführungen ebenfalls nicht festzustellen vermag.
47
Wie bereits ausgeführt, stellte die Annahme der Beklagten, dass es sich bei dem in dem streitgegenständlichen Fahrzeug verbauten Thermofenster nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt, in jedem Fall zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Fahrzeugs eine zulässige Auslegung des Gesetzes dar, sodass die Verantwortlichen nicht mit dem Vorsatz handelten, den Kläger über eine Eigenschaft des Fahrzeugs zu täuschen und ihm dadurch einen Vermögensschaden zuzufügen (OLG Koblenz, Urteil vom 21.10.2019 – 12 U 246/19; OLG Nürnberg, Endurteil vom 19.07.2019 – 5 U 1670/18).
48
3) Entsprechendes gilt für §§ 823 Abs. 2 i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 EG-FGV.
49
Unabhängig davon, ob die Beklagte diese Vorschrift verletzt hat, fehlt ihr der von § 823 Abs. 2 BGB vorausgesetzte Schutzgesetzcharakter. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine Norm als Schutzgesetz anzusehen, wenn sie nach Zweck und Inhalt zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zu Gunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mitgewollt hat. Bei Vorschriften, die – wie hier die §§ 6, 27 EG-FGV – Richtlinien umsetzen, kommt es nach der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung insoweit maßgeblich auf den Inhalt und Zweck der Richtlinie – hier der Richtlinie 2007/46/EG – an (vgl. BGH, EuGH-Vorlage vom 09.04.2015, VII ZR 36/14). Den Erwägungsgründen (2), (4) und (23) zufolge bezweckt diese Richtlinie die Vollendung des Binnenmarkts und dessen ordnungsgemäßes Funktionieren. Darüber hinaus sollen die technischen Anforderungen in Rechtsakten harmonisiert und spezifiziert werden, wobei die Rechtsakte vor allem auf eine hohe Verkehrssicherheit, hohen Gesundheits- und Umweltschutz, rationelle Energienutzung und wirksamen Schutz gegen unbefugte Benutzung abzielen (Erwägungsgrund (2) der Richtlinie). Weder an diesen Stellen noch unter den anderen Erwägungsgründen der Richtlinie lässt sich demgegenüber ein Hinweis dafür finden, dass der Richtliniengeber darüber hinaus den Schutz des einzelnen Fahrzeugerwerbers bzw. -besitzers gegen Vermögensbeeinträchtigungen im Blick hatte. Auch der nationale Gesetzgeber hat in der Begründung zur EG-FGV (Seite 36 der BR-Drucks. 190/09) in Übereinstimmung damit ausführt, dass die Richtlinie dem Abbau von Handelshemmnissen und der Verwirklichung des Binnenmarktes der Gemeinschaft dienen und die EG-FGV darüber hinaus zur Rechtsvereinfachung und zum Bürokratieabbau beitragen soll (so jeweils LG Braunschweig, Urteil vom 27.10.2017 – Az. 3 O 136/17; Urteil vom 10.01.2018 – Az. 3 O 622/17; Urteil vom 17.01.2018 – Az. 3 O 3447/16; Urteil vom 14.02.2018 – Az. 3 O 1915/17).
50
4) Die geltend gemachten Schadensersatzansprüche ergeben sich weiterhin nicht aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 5 Abs. 1, Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007.
51
Denn Art. 5 Abs. 2 i.V.m. Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 stellt kein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB dar (vgl. OLG München, Beschluss vom 29.08.2019 – 8 U 1449/19; OLG Braunschweig, Urteil vom 19.02.2019 – 7 U 134/17).
52
Wie sich aus der VO (EG) 715/2007 nach deren einleitender Bemerkung (1) bis (4) sowie zusammengefasst nochmals in (27) ergibt, zielt die VO (EG) 715/2007 auf die Harmonisierung des Binnenmarktes bzw. dessen Vollendung durch Einführung gemeinsamer technischer Vorschriften zur Begrenzung der Fahrzeugemissionen. Zwar werden neben der Vereinheitlichung der Rechtsregelungen ein hohes Umweltschutzniveau (1) als Ziel und die Reinhaltung der Luft als Vorgabe für Regelungen zur Senkung der Emissionen von Fahrzeugen (4) beschrieben, doch folgt aus den Ausführungen unter (7), die die Verbesserung der Luftqualität in einem Zug mit der Senkung der Gesundheitskosten (und dem Gewinn an Lebensjahren) nennen, dass es auch insoweit nicht um individuelle Interessen, sondern letztlich um umwelt- und gesundheitspolitische Ziele geht. Dass der europäische Gesetzgeber im Sinne der Definition des Schutzgesetzes dem einzelnen Verbraucher die Rechtsmacht in die Hand geben wollte, mit Mitteln des Privatrechts gegen denjenigen vorzugehen, der in dieser Verordnung zur Umsetzung dieser Ziele geregelte Verbote übertritt und sein Rechtsinteresse beeinträchtigt, geht aus den Vorbemerkungen nicht hervor. Vielmehr spricht stattdessen der Umstand, dass die Ziele in (7) in Beziehung gesetzt werden zu den Auswirkungen der Emissionsgrenzwerte auf die Märkte und die Wettbewerbsfähigkeit von Herstellern, gegen einen entsprechenden Willen des Gesetzgebers. Dies gilt umso mehr, als auch die Regelungen der VO (EG) 715/2007 selbst keinen Bezug zu Individualinteressen des einzelnen Bürgers aufweisen (vgl. OLG München, Beschluss vom 29.08.2019, 8 U 1449/19; OLG Koblenz, Urteil vom 21.10.2019 – 12 U 246/19).
B)
53
Da bereits kein Schadensersatzanspruch besteht, war die Klage auch bezüglich dem Feststellungsantrag sowie den Nebenforderungen abzuweisen.
C)
54
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
55
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 S. 1, S. 2 ZPO.
D)
56
Für die Streitwertfestsetzung war das Interesse des Klägers bei Klageerhebung maßgeblich, § 63 Abs. 2 GKG, § 3 ZPO. Die Nebenforderungen sind nicht streitwerterhöhend.