Inhalt

AG Aschaffenburg, Beschluss v. 28.09.2020 – 3 F 992/17
Titel:

Gutachten, Jugendamt, Kind, Kindeseltern, Eltern, Gefahr, Schule, Therapie, Verfahren, Verschlimmerung, Stellungnahme, Abwendung, Verfahrensbeistand, Schulpflicht, Einholung eines Gutachtens

Schlagworte:
Gutachten, Jugendamt, Kind, Kindeseltern, Eltern, Gefahr, Schule, Therapie, Verfahren, Verschlimmerung, Stellungnahme, Abwendung, Verfahrensbeistand, Schulpflicht, Einholung eines Gutachtens
Fundstelle:
BeckRS 2020, 62005

Tenor

1. Das Sorgerecht für das Kind … wird den Eltern nicht entzogen.
2. Den Kindeseltern werden jedoch folgende Auflagen gemacht:
2.1. Die Kindeseltern müssen an einer Helferkonferenz unter Teilnahme des Jugendamtes, der Schule sowie des Kindes … teilnehmen, im Rahmen derer die schrittweise Integration des Kindes … in die Schule erörtert wird. Die dort erörterten Maßnahmen müssen umgesetzt werden.
2.2. Die Eltern müssen eine spezielle Therapie der isolierten Rechtschreibstörung des Kindes … beantragen. Die Einzelheiten hierzu sollen im Rahmen der Helferkonferenz erörtert werden.
2.3. Sofern dies vom Helfersystem befürwortet wird – auch dies ist in der Helferkonferenz zu erörtern –, ist eine sozialpädagogische Erziehungshilfe zu installieren.
3. Dem Jugendamt wird aufgegeben, dem Gericht binnen sechs Wochen Bericht über den weiteren Verlauf zu erstatten.
4. Von einer Erhebung der Gerichtskosten wird abgesehen. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens werden nicht erstattet.
5. Der Verfahrenswert wird auf 3.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Frau … und Herr … sind die Eltern der Kinder … Unter dem 07.07.2017 machte das Jugendamt … dem Gericht Mitteilung darüber, dass das Kind … die Schule nach seiner Einschulung am 10.01.2017 lediglich rund einen Monat lang unregelmäßig besucht und seit dem 20.02.2017 kein Schulbesuch mehr stattgefunden habe. Hinsichtlich der damaligen Situation wird auf die Mitteilung des Jugendamtes vom 07.07.2017 im Verfahren … Bezug genommen und verwiesen. Das Gericht hat am 27.07.2017 mündlich zur Sache verhandelt; im Ergebnis wurde von Eilmaßnahmen abgesehen und das vorliegende Hauptsacheverfahren von Amts wegen eingeleitet.
2
In diesem Verfahren wurde mit Beschluss vom 28.08.2017 für das Kind … ein Verfahrensbeistand bestellt (Bl. 3 d.A.).
3
Mit Beschluss vom 28.08.2017 wurde zudem die Einholung eines Gutachtens angeordnet und … zur Sachverständigen bestimmt (Bl. 5 d.A.). Die Sachverständige hat unter dem 21.12.2017 ihr Gutachten vorgelegt (Bl. 17 ff d.A.). Das Gutachten wurde am 04.01.2018 an die Beteiligten herausgegeben. In der Folge geschah zunächst nichts.
4
Auf Anfrage des Gerichts teilte das Jugendamt unter dem 12.03.2019 mit, dass ein Schulbesuch weiterhin nicht stattfinde; angebotene Hilfen seien nicht angenommen worden.
5
Das Gericht hat sodann am 06.05.2019 mündlich zur Sache verhandelt und dabei auch die Sachverständige … angehört (Bl. 136 d.A.). Diese wies darauf hin, dass infolge des Zeitablaufs keine Stellungnahme zur aktuellen Situation erfolgen könne.
6
Mit Beschluss vom 01.08.2019 hat das Gericht im Hinblick auf den Zeitablauf und die Anregung der Sachverständigen … die Einholung eines weiteren Gutachtens angeordnet und dabei … zum Sachverständigen bestimmt (Bl. 143 d.A.)
7
Der Sachverständige … hat sein Gutachten vom 11.02.2020 am 13.02.2020 eingereicht (Bl. 162 ff d.A.). Das Gutachten wurde mit Beschluss vom 14.02.2020 an die Beteiligten herausgegeben. Das Jugendamt hat am 03.04.2020 zum Gutachten Stellung genommen. Die Kindeseltern haben mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 03.06.2020 eine Stellungnahme zum Gutachten vorlegen lassen, wonach das vorgelegte Gutachten nicht verwertbar sei.
8
Das Gericht hat zuletzt am 10.08.2020 mündlich zur Sache verhandelt und dabei auch den Sachverständigen … angehört (Bl. 294 d.A.).
9
Am 01.09.2020 wurde zudem das Kind … im Beisein der Verfahrensbeiständin angehört. Eine Stellungnahme zur Kindesanhörung wurde von keinem Beteiligten eingereicht. In der Ladung zur Kindesanhörung gemäß Verfügung vom 18.08.2020 hat das Gericht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht von der grundsätzlichen Unverwertbarkeit des Gutachtens des Sachverständigen … ausgeht (Bl. 301 d.A.).
10
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen und verwiesen.
II.
11
Die getroffenen Auflagen ergehen nach § 1666 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 2 sowie § 1666a BGB.
12
Danach hat das Familiengericht diejenigen Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung einer Gefahr für das geistige, seelische oder körperliche Wohl eines Kindes erforderlich sind, wenn die Eltern des Kindes nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr selbst abzuwenden. Voraussetzung für ein Eingreifen ist eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (BGH, NJW 2012, 151).
13
Vorliegend sind die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern nicht willens, das Kind … strikt und fortwährend dazu anzuhalten, die Schule zu besuchen. Es findet seit nunmehr mehr als 3,5 Jahren eine laufende Verletzung der Schulpflicht statt, die durch die Kindeseltern nicht unterbunden, sondern vielmehr gefördert wird. Das Kind … besuchte zuletzt im Februar 2017 die Schule, nachdem er lediglich rund einen Monat lang überhaupt die Schule besucht hatte. Im Rahmen seiner Anhörung hat das Kind … geschildert, dass ihm wohl bereits zur Zeiten des Kindergartenbesuchs nahegelegt wurde, dass er die Schule nicht besuchen müsse, wenn er dies nicht wolle. Weshalb hierüber bereits vor seiner Einschulung gesprochen wurde, konnte … nicht wiedergeben. Die Kindeseltern sind bereits seit Beginn der Schulabstinenz von … immer wieder mit öffentlichen Stellen konfrontiert, sei es das Jugendamt, das Schulamt oder eben das Familiengericht. All dies hat die Kindeseltern bislang nicht dazu bewegt, ihre Haltung zu überdenken, ebenso wenig wie die Einschätzung und Anregung zweier Sachverständiger. Es zeigt sich vielmehr im gesamten Verfahren eine grundsätzliche Ablehnung der Regelbeschulung durch die Kindeseltern, wobei insbesondere die Kindsmutter federführend zu sein scheint. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wie auch des Bundesverfassungsgerichts sind die Eltern jedoch nicht berechtigt, ihr Kind der allgemeinen Schulpflicht zu entziehen. Nach dem Bundesverfassungsgericht wird das aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 GG erwachsene Elternrecht, ihre Kinder entsprechend eigener religiöser und weltanschaulicher Sicht zu erziehen, durch die zur Konkretisierung des staatlichen Erziehungsauftrages (Art. 7 Abs. 1 GG) erlassene Schulpflicht in zulässiger Weise beschränkt (vgl. BVerfG NJW 2009, 3151). Der staatliche Erziehungsauftrag ist dabei nicht allein auf Wissensvermittlung gerichtet, sondern auch auf die Heranbildung verantwortlicher Persönlichkeiten mit sozialen und integrativen Kompetenzen (OLG Frankfurt a.M., BeckRS 2013, 16988 unter Verweis auf BVerwG NVwZ 2010, 525).
14
Die Nichteinhaltung der Schulpflicht stellt eine Gefährdung für das geistige und seelische Wohl des Kindes dar.
15
Dies folgt zum bereits unmittelbar aus der gesetzgeberischen Wertung in § 1666 Abs. 3 Nr. 2 BGB, in welchem die Einhaltung der Schulpflicht als eigenständiger Punkt als Regelbeispiel für familiengerichtliche Maßnahmen aufgeführt ist.
16
Die Gefahrensituation ergibt sich daneben aus den Feststellungen des Sachverständigen … in seinem Gutachten vom 11.02.2020. Der Sachverständige kommt darin zu dem Ergebnis, dass bei Fortführung der unkooperativen Verweigerungshaltung der Eltern hinsichtlich des Schulbesuchs … und daraus resultierender Persistenz des Schulabsentismus eine Entwicklungsgefährdung … zu konstatieren sei, welche eine Einschränkung des Kindeswohls bedeuten würde (Seite 40 des Gutachtens = Bl. 201 d.A.). Aus kinderpsychiatrischer Sicht sei bei der Symptomatik des Schulabsentismus davon auszugehen, dass die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins wie auch der weiteren Entwicklung von psychischen Störungen deutlich erhöht sei; aufgrund der bei … bestehenden isolierten Rechtschreibstörung … bestehe ein zusätzliches Risiko für psychische Störungen (Seite 30 des Gutachtens = Bl. 191 d.A.). Das Gutachten des Sachverständigen ist nach Überzeugung des Gerichts in sich schlüssig und nachvollziehbar. Der Sachverständige ist dem Gericht als kompetenter und erfahrener Gutachter im Bereich der kinderpsychiatrischen Fragestellungen bekannt. Das Gericht hat an der Sachkunde des Sachverständigen … keine Zweifel und schließt sich dessen Ausführungen vollumfänglich an.
17
Daneben ist vorliegend die besondere Situation von … zu beachten, nämlich dessen Hörbehinderung. Im Hinblick hierauf besteht für Finn ein besonderer Förderungsanspruch durch den Staat. Kinder mit derartigen Einschränkungen sollen durch die vom Gesetzgeber vorgesehenen und ihrem sonderpädagogischen Förderanspruch entsprechende, kontinuierliche schulische Bildung und Erziehung in die Lage versetzt werden, ihren Lebensunterhalt später nach Möglichkeit selbst zu bestreiten und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Die anfängliche Beschulung … im Jahr 2017 war unter diesem Gesichtspunkt offenkundig suboptimal; durch Installation entsprechender Hilfen (Stichwort Integrationskraft) muss hier nachgebessert werden.
18
Der Einwand der Kindeseltern, die Verweigerung des Schulbesuchs gehe allein von … aus, verfängt nicht. Dies ergibt sich für das Gericht insbesondere aus der Anhörung des Kindes vom 01.09.2020. Das Gericht hat dort das Kind in Anwesenheit der Verfahrensbeiständin angehört. … hat dabei letztlich geäußert, dass die Eltern ihm nicht vorgeben werden, dass er wieder in die Schule gehen müsse. Würden sie dies jedoch tun, würde er in die Schule gehen; die Eltern würden ja Entscheidungen für ihn treffen (vgl. Vermerk Bl. 304 d.A.). Für das Gericht ergibt sich hieraus, im Zusammenhang mit der Aussage des Kindes, ihm sei bereits im Kindergarten gesagt worden, er müsse nicht in die Schule gehen sowie auch den Modalitäten um die Einschulung von Finn (vgl. hierzu Mitteilung des Jugendamtes vom 07.07.2017), dass die ablehnende Haltung gegenüber der Schule in erster Linie von den Eltern ausgeht. Nach dem Eindruck des Gerichts anlässlich der Kindesanhörung stellt die Aussicht, wieder in die Schule gehen zu müssen, keine so dramatische Verschlimmerung seiner Lebensumstände dar, wie … dies im Rahmen der Begutachtung geschildert hat. Dabei erschien das Kind im Rahmen seiner gerichtlichen Anhörung authentisch und offen, wobei das Gericht auch davon ausgeht, dass der Wille des Kindes, die Schule wenn möglich nicht besuchen zu müssen, im Hinblick auf die starre und bereits im Kindergartenalter gegenüber … geäußerte Haltung der Kindeseltern nicht als autonom entwickelt beurteilt werden kann.
19
Nichts anderes ergibt sich auch daraus, dass … zuhause beschult wird und soziale Kontakte mit anderen Kindern unterhält. Zwar erfolgt hier durchaus eine Kompensation der Anteile der schulischen Förderung sowohl im kognitiven Bereich als auch der Persönlichkeitsentwicklung. … werden jedoch mit der Vorenthaltung der Schulsituation Entwicklungsmöglichkeiten und Lernchancen genommen. Das Kind wird keinen anderen Einflüssen als dem der Eltern ausgesetzt; gerade auch diese anderen Einflüsse führen jedoch zu Erfahrungen im sozialen Umfeld mit anderen Menschen und zur Entwicklung entsprechender Fähigkeiten. Problematisch erscheint auch, dass der Unterricht zuhause lediglich zwischen drei und vier Stunden pro Tag stattfindet und zwar für alle drei Kinder gleichzeitig. Auch wenn die Kindeseltern darauf verweisen, dass diese Zeit deutlich intensiver genutzt werde als die Zeit in der Schule, in der viel Leerlauf stattfinde, ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass der derzeit stattfindende Heimunterricht ausreichend ist, um allen drei Kindern ein dem jeweiligen Alter entsprechendes Bildungsangebot zu machen, zumal mit fortschreitendem Alter und steigender Komplexität des Unterrichtsstoffes fraglich sein dürfte, ob eine Person – der Unterricht findet fast ausschließlich durch die Mutter statt – den gesamten Lernplan wird abdecken können. Das Gericht möchte hiermit in keiner Weise den Bildungsgrad der Mutter herabwürdigen, bezieht sich jedoch darauf, dass auch studierte Lehrkräfte in der Regel nicht mehr als drei Schulfächer parallel unterrichten.
20
Letztlich erscheint auch die Nichtbefolgung der Schulpflicht vor dem Hintergrund des geäußerten Berufswunsches von … beachtenswert, nämlich Polizist zu werden. So ist es doch Aufgabe der Polizei, die Einhaltung von Recht und Gesetz zu überwachen und durchzusetzen. Dass …gerade dies als Berufswunsch angibt, aktuell aber in der Familie fortlaufend gegen die gesetzliche Schulpflicht gehandelt wird, erscheint zumindest beachtlich.
21
Nach alledem waren Anordnungen gemäß § 1666 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 2 BGB zu treffen. Das Gericht hat dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren, vgl. § 1666a BGB.
22
Den Feststellungen des Sachverständigen … folgend ist danach zunächst den Eltern die Auflage zu machen, einen ambulanten Therapieversuch der schulischen Reintegration in Angriff zu nehmen (vgl. Seite 41 des Gutachtens = Bl. 2020 d.A.). Danach muss eine Helferkonferenz stattfinden und hieraus die schrittweise Integration des Kindes in die Schule erfolgen, wobei auch eine Integrationskraft in Anspruch genommen werden sollte. Die isolierte Rechtschreibstörung muss einer Therapie zugeführt werden. Das Gericht erachtet auch die Inanspruchnahme einer sozialpädagogischen Erziehungshilfe für sinnvoll.
23
Das Gericht verkennt dabei nicht, dass eine Kooperation der Eltern mit dem Jugendamt und dem Schulamt bisher nicht stattgefunden hat. Diesbezüglich haben die Kindeseltern in ihrer Stellungnahme zum Gutachten jedoch ausdrücklich erklärt, dass eine gerichtliche Anordnung bislang nicht erfolgt sei, sondern lediglich Empfehlungen von Gutachtern vorlagen. Dies ändert sich mit dem nunmehr vorliegenden Beschluss. Das Gericht wird den weiteren Verlauf beobachten und bei Nichterfüllung der Auflagen weitere Maßnahmen prüfen.
III.
24
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG.