Titel:
Beschwerde, Telekommunikation, Kostenfestsetzungsbeschluss, Widerspruch, Kostenfestsetzungsverfahren, Reisekosten, Streitwert, Rechtsmittel, Erstattung, Bundesgebiet, Bank, Einspruch, Zuziehung, RVG, sofortige Beschwerde, Kosten des Rechtsstreits, verfassungsrechtliche Bedenken
Schlagworte:
Beschwerde, Telekommunikation, Kostenfestsetzungsbeschluss, Widerspruch, Kostenfestsetzungsverfahren, Reisekosten, Streitwert, Rechtsmittel, Erstattung, Bundesgebiet, Bank, Einspruch, Zuziehung, RVG, sofortige Beschwerde, Kosten des Rechtsstreits, verfassungsrechtliche Bedenken
Vorinstanz:
LG München I, Kostenfestsetzungsbeschluss vom 16.06.2020 – 26 O 1671/19
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 30.08.2022 – VIII ZB 87/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 61067
Tenor
1. Die sofortige Beschwerde der Klägerin wird zurückgewiesen.
2. Die sofortige Beschwerde der Beklagten wird verworfen.
3. Von den Kosten der Beschwerdeverfahren tragen die Klägerin 13% und die Beklagte 87%.
4. Der Wert der Beschwerden beträgt (für beide zusammen) € 2.661,25.
5. Die Rechtsbeschwerde wird, beschränkt auf die sofortige Beschwerde der Klägerin, zugelassen.
Gründe
1
Die Klägerin verfolgte Ansprüche aus einem beendeten, gewerblichen Leasingvertrag gegenüber der Beklagten als Leasingnehmerin.
2
Die Klägerin ist eine mit einem bayerischen Automobilkonzern mit Hauptsitz in M. in Verbindung stehende und bundesweit tätige Bank mit Geschäftssitz in München. Mit der Prozessführung hat die Klägerin eine in K. ansässige Kanzlei beauftragt, die sie auch in anderen Fällen mandatiert. Die Beklagte, handelnd unter der Firma „W. e.K.“, hatte bei Abschluss des Leasingvertrages ihren Geschäftssitz in Mittelfranken, verlegte diesen jedoch im Laufe der Vertragsbeziehung nach Ungarn.
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Die Regelung in Ziffer XVIII. „Allgemeine Bestimmungen“ Nr. 2 des Leasingvertrages lautet:„Ist der Leasingnehmer Kaufmann, ist ausschließlicher Gerichtsstand für sämtliche Ansprüche im Zusammenhang mit diesem Leasingvertrag nach Wahl des Leasinggebers M. oder K.. Verlegt der Leasingnehmer nach Vertragsschluss seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort aus dem Inland oder ist sein Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der Klageerhebung nicht bekannt, ist ausschließlicher Gerichtsstand für sämtliche Ansprüche im Zusammenhang mit diesem Leasingvertrag nach Wahl des Leasinggebers M. oder K..“
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Den Verhandlungstermin am 05.11.2019 vor dem Landgericht München I nahm für die Klägerin in Untervollmacht ein Rechtsanwalt aus F. wahr. Für die Beklagte war niemand erschienen. Den gegen das Versäumnisurteil eingelegten Einspruch der Beklagten verwarf das Landgericht München I mit Urteil vom 23.12.2019 und erlegte der Beklagten auch die weiteren Kosten des Rechtsstreits auf. Den Streitwert setzte das Gericht auf € 9.702,92 fest.
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Mit Schriftsatz vom 12.11. 2019 (vgl. Bl. 109/110 d.A.) beantragte die Klägerin Kostenfestsetzung. In dem geltend gemachten Gesamtbetrag waren konkret für die Terminsvertretung folgende Positionen eingestellt:
- 0,65 Verfahrensgebühr, Terminsvertretung, Verfahrensgebühr § 13 RVG, Nrn. 3401, 3100 VV RVG 362,70 €
- 1,2 Terminsgebühr § 13 RVG, Nr. 3104 VV RVG 669,60 €
- Post und Telekommunikation Nr. 7001 VV RVG 40,00 €.
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Die (an die Beklagte selbst adressierte) Kostenrechnung des Unterbevollmächtigten vom 06.11.2019 (Bl. 126) umfasst folgende Positionen:
- Verfahrensgebühr, Terminsvertretung, Verfahrensgebühr
§ 13 RVG, Nrn. 3401, 3100 VV RVG 0,65.362,70 € Reduzierte Terminsgebühr, Nrn. 3105, 3104 VV RVG 0,5.279,00 €
- Pauschale für Post und Telekommunikation
Nr. 7002 VV RVG 20,00 € Zwischensumme netto 661,70 €
19% Mehrwertsteuer Nr. 7008 VV RVG 125,72 €
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Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 16.06.2020 (vgl. Bl. 128/130 d.A.) setzte das Landgericht München I die von der Beklagten an die Klägerin zu erstattenden Kosten fest, wobei es an Anwaltskosten nur insgesamt € 1.097,10 (statt beantragter € 1.435,00) berücksichtigte. Die Fahrtkosten der Anwälte aus Köln reduzierte die Rechtspflegerin unter Verweis auf den Senatsbeschluss vom 04.02.2020 - 11 W 1542/19 (JurBüro 20,134) - anstelle der geltend gemachten Kosten für den Unterbevollmächtigten seien nur fiktive Reisekosten des Hauptbevollmächtigten, und zwar Reisekosten bis zur höchstmöglichen Entfernung innerhalb des Gerichtsbezirks, erstattungsfähig (hier: Aying, einfach 33 km). Bei Berücksichtigung der Abwesenheitspauschale von € 25,- und fiktiven Reisekosten von € 19,80 seien daher pro Termin lediglich € 44,80 zu berücksichtigen.
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Beide Parteien legten den Kostenfestsetzungsbeschluss Rechtsmittel ein:
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Die Klägerin erhob am 13.08.2020 sofortige Beschwerde und rügte ferner die Verletzung rechtlichen Gehörs gemäß § 321a ZPO:
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Die seitens der Klägerin geltend gemachten Kosten des Terminsvertreters in Höhe von € 382,70 seien gegen die Beklagte festzusetzen.
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Nach den von der Rechtsprechung erarbeiteten Grundsätzen zum sog. „Hausanwalt“ seien auch die höheren Reisekosten des „Rechtsanwalts am dritten Ort“ zur Terminswahrnehmung erstattungsfähig: Zwar mögen am Geschäftssitz der Klägerin weitere Kanzleien mit Spezialisierung auf das Bank- und Kapitalmarktrecht ansässig sein; die Kanzlei in Köln werde jedoch nicht nur aufgrund ihrer speziellen Ausrichtung auf das Leasingrecht (einer Untergruppe des Bank- und Kapitalmarktrechts, die auch nicht von allen Fachanwälten für Bank- und Kapitalmarktrecht abgedeckt werde) beauftragt, sondern auch weil sie über die Zertifizierung „ISO/IEC 27001:2013“ verfüge; sie sei mit der Klägerin und umgekehrt bezüglich des Daten- und Informationsaustausches systemmäßig vernetzt und hier müssten „extrem hohe“ Anforderungen an die Datensicherheit erfüllt sein. Es könne daher dahinstehen, dass auch in München weitere Kanzleien mit Spezialisierung auf den Bereich des Banken- und Kapitalmarktrechts niedergelassen seien; es komme auf die Gleichwertigkeit an. Es werde zudem gerügt, dass vor dem Erlass des Kostenfestsetzungsbeschlusses nicht zunächst ein gerichtlicher Hinweis erfolgt sei. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens, insbesondere zu der digitalen Vernetzung zwischen Anwalt und Mandant, wird auf den Inhalt des Schriftsatzes vom 13.08.2020 (vgl. Bl. 137/142 d.A.) Bezug genommen.
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Auf die Anregung der Rechtspflegerin zur Beschwerderücknahme bringt die Beklagte in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 21.09.2020 (vgl. Bl. 144/152 d.A.) überdies auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Nichtberücksichtigung der Reisekosten vor: Durch die Begrenzung von deren Erstattung werde die Postulationsfähigkeit ihrer Prozessbevollmächtigten eingeschränkt, was im Widerspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13.12.2000 - 1 BvR 335/97 stehe; dieses habe die in § 25 BRAO a.F. angeordnete Singularzulassung als mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt. Aufgrund der Neuordnung des Berufsrechts der Rechts- und Patentanwälte vom 17.12.1999 könnten Rechtsanwälte an jedem Amts- und Landgericht und mittlerweile auch an jedem Oberlandesgericht in Deutschland auftreten. Der Änderung des Lokalisationsprinzips und der fortschreitenden Technisierung trage ferner der 2013 neu geschaffene § 128a ZPO Rechnung. Die freie Berufsausübung der Rechtsanwälte würde eingeschränkt, wenn diese Mandate - allein aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten - abgelehnt werden müssten, weil die Reisekosten nicht, womöglich auch nicht gegen die eigene Partei gemäß § 11 RVG, festgesetzt würden. Im Hinblick auf die freie Mandatswahl würde somit auch die in Art. 2 Abs. 1 GG gewährte Privatautonomie in unzulässig eingeschränkt.
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Am 12.07.2020 ging bei Gericht ein nicht unterschriebenes Fax der Beklagten vom 12.07.2020 ein (vgl. Bl. 133 d.A.), mit folgendem Wortlaut:
„Gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 16.06.2020 lege ich Widerspruch ein“.
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Der Beschluss sowie der Kostenfestsetzungsantrag der Klägerin waren der Beklagten ausweislich Rückscheins am 30.06.2020 zugestellt worden.
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Im Beschluss vom 02.10.2020 (vgl. Bl. 154/155 d.A.) hat die Rechtspflegerin den Beschwerden nicht abgeholfen, die Gehörsrüge der Klägerin als unzulässig verworfen und die Vorlage an das Beschwerdegericht verfügt:
- Die Anhörungsrüge sei nicht statthaft, weil mit der Beschwerde ein anderer Rechtsbehelf gegeben sei.
- Die sofortige Beschwerde der Beklagten sei unzulässig, da sie bereits nicht formgerecht eingelegt worden sei.
- Der sofortigen Beschwerde der Kläger werde aus dem im Beschluss genannten Gründen nicht abgeholfen. Der Kostenfestsetzungsbeschluss bzw. eine Beschwerdeentscheidung stünden einer Festsetzung nach § 11 RVG nicht entgegen.
A. Beschwerde der Klägerin
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Die sofortige Beschwerde der Klägerin ist zulässig (§§ 104 Abs. 3, 567, 569 ZPO). Der Kostenfestsetzungsbeschluss war der Klägerin erst am 12.08.2020 zugegangen.
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Das Rechtsmittel der Klägerin bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg.
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Zu Recht hat das Landgericht die geltend gemachten Terminsvertreterkosten lediglich in Höhe fiktiver Reisekosten eines Anwaltes an dem am weitesten vom Gerichtsort entfernt gelegenen Ort innerhalb des Gerichtsbezirks zuerkannt.
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1. Zum Erstattungsumfang von Terminsvertreterkosten gilt grundsätzlich zunächst Folgendes:
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Nach § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO hat die unterliegende Partei die dem Gegner erwachsenen Kosten zu erstatten, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig waren. Das sind nur diejenigen für solche Handlungen, die zum Zeitpunkt ihrer Vornahme objektiv erforderlich und geeignet erscheinen, das im Streit stehende Recht zu verfolgen oder zu verteidigen. Maßstab ist, ob eine verständige und wirtschaftlich vernünftige Partei die die Kosten auslösende Maßnahme im damaligen Zeitpunkt (“ex ante“) als sachdienlich ansehen durfte. Dabei darf sie ihr berechtigtes Interesse verfolgen und die zur vollen Wahrnehmung ihrer Belange erforderlichen Schritte ergreifen. Hierbei gilt der Grundsatz sparsamer Prozessführung.
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2. Eine Vergleichsrechnung (“110% - Grenze“ im Sinne der BGH-Rechtsprechung, vgl. zuletzt etwa Beschluss vom 06.11.2014 - I ZB 38/14; Beschluss vom 26.02.2014 - XII ZB 499/11; Hansens, RVGreport 14,373 ff.) ist hier nicht anzustellen, weil auch bei Wahrnehmung des Verhandlungstermins in München durch die in Köln ansässigen Prozessbevollmächtigten der Klägerin selbst deren Reisekosten nur in Höhe fiktiver Reisekosten eines Anwaltes an dem am weitesten vom Gerichtsort entfernt gelegenen Ort innerhalb des Gerichtsbezirks zuerkannt würden (vgl. BGH, Beschluss vom 09.05.2018 - I ZB 62/17); dies aus folgenden Gründen:
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2.1. Die Auslagen und Reisekosten eines im Gerichtsbezirk ansässigen Prozessbevollmächtigten sind gemäß § 91 Abs. 2, S.1, 1. Hs ZPO stets und ohne weitere Prüfung in vollem Umfang erstattungsfähig.
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2.2. Nach § 91 Abs. 2, S.1, 2. Hs ZPO hat die unterliegende Partei auch die dem Gegner erwachsenen Reisekosten für einen nicht im Gerichtsbezirk des Prozessgerichts niedergelassenen Rechtsanwaltes zu erstatten, soweit die Zuziehung zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig war. Nach ständiger Rechtsprechung sind dabei, wie bereits ausgeführt, grundsätzlich auch die Fahrtkosten eines Rechtsanwaltes am Wohn- oder Geschäftssitz der Partei als notwendig und damit erstattungsfähig anzusehen (Ausnahme: Ein eingehendes Mandantengespräch ist für die Prozessführung nicht erforderlich), vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 27.02.2018 - II ZB 23/16 Tz 11 m.w.N.).
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2.3. Hier hat die Beklagte eine weder am Gerichts- noch an ihrem Geschäftssitz ansässige Anwaltskanzlei gewählt, mithin einen „Rechtsanwalt am dritten Ort“.
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Die damit verbundenen Mehraufwendungen sind nur in Ausnahmefällen erstattungsfähig, siehe z.B. BGH, Beschluss vom 27.02.2018 - II ZB 23/16 Tz 11 ff.; Beschluss vom 12.12.2012 - IV ZB 18/12 Tz 20; Beschluss vom 08.03.2012 - IX ZB 174/10 Tz 12; Beschluss vom 21.12.2011 - I ZB 47/09 Tz 9; Beschluss vom 20.12.2011 - XI ZB 13/11; zum Ganzen auch Gerold/Schmidt, RVG, 24. Aufl., Müller-Rabe zu VV Nr. 7003 - 7006 Rn. 137 ff., 139 ff.; Schneider/Wolf, RVG, 8. Aufl., VV 7003-7006 Rn. 102 ff.).
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a) Ein derartiger Ausnahmefall kann vorliegen, wenn eine Partei einen Spezialanwalt benötigt, an ihrem Sitz ein solcher jedoch nicht vorhanden ist, wenn die unternehmensinterne Bearbeitung an einem anderen Ort als dem Geschäftssitz erfolgt (BGH, Beschluss vom 07.06.2011 - VIII ZB 102/08) oder wenn - tatsächlich einmal - die Kriterien für die Annahme eines sog. „Hausanwaltes“ vorliegen sollten - vgl. die hierzu häufig bemühte Ausgangsentscheidung des BGH, Beschluss vom 28.06.2006 - IV ZB 44/05 und dazu Senat, Beschluss vom 04.02.2020 - 11 W 1542/20, JurBüro 20,134. Es kommt dabei im Rahmen der Kostenerstattung auf die tatsächliche Organisation des Unternehmens der Partei und nicht darauf an, welche Organisation als zweckmäßiger anzusehen sein könnte; überlässt etwa ein bundesweit tätiger Versicherer nach endgültiger Leistungsablehnung seine Akten einem Rechtsanwalt, der aufgrund ständiger Geschäftsbeziehungen derartige Verfahren weiter bearbeitet, hat der unterliegende Prozessgegner diese Betriebsorganisation hinzunehmen.
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Hingegen rechtfertigt eine - hier zweifellos erfolgte - Vorbefassung, d.h. die Tatsache, dass der auswärtige Anwalt bereits vorprozessual in derselben Angelegenheit tätig war, eine Erstattungsfähigkeit der Mehrkosten nicht (BGH, Beschluss vom 12. 12. 2002 - I ZB 29/02; v. 20.12.2011 - XI ZB 13/11), ebenso wenig ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant (BGH, Beschluss vom 21.12.2011 - I ZB 47/09 Tz 9; Beschluss vom 20.12.2011 - XI ZB 13/11 Tz 14).
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b) Der Gesichtspunkt einer Spezialisierung trägt die Annahme eines Ausnahmefalles hier nicht: Die Beauftragung von Prozeßbevollmächtigten in Köln wäre notwendig, wenn ein vergleichbarer ortsansässiger Rechtsanwalt nicht vorhanden ist (BGH, Beschluss vom 20.12.2011 - XI ZB 13/11). Davon kann hier nicht ausgegangen werden: Gerichtsbekannt und von den Parteien auch unbestritten finden sich in München auf Bankenrecht spezialisierte Kanzleien. Nach seiner Kenntnis der Rechtsanwaltschaft im Raum München ist der Senat davon überzeugt, dass es hier auf das Bankenrecht spezialisierte und ausreichend qualifizierte Kanzleien gibt, die bei entsprechender Beauftragung durch eine häufiger mit Rechtsstreitigkeiten befasste Bank auch die erforderliche technische Infrastruktur, einschließlich der beschriebenen ISO-Zertifizierung, vorzuhalten in der Lage sind, entweder weil eine solche bereits vorhanden ist oder im Rahmen der Mandatsbeziehung entsprechend den Wünschen der Mandantin aufgebaut werden kann.
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c) Ein Ausnahmefall im genannten Sinne kann ferner dann gegeben sein, wenn eine Partei, die eine Vielzahl von gleichgelagerten Prozessen im gesamten Bundesgebiet führt, die Wahrnehmung ihrer Belange in die Hände eines ganz bestimmten Rechtsanwaltes gibt (BGH, Beschluss vom 27.02.2018 - II ZB 23/16; Senat, Beschluss vom 10.12. 2015 - 11 W 2293/15; v. 07.08.2014 - 11 W 1308/14; so schon zutreffend KG Berlin, Beschluss vom 24.10.2007 - 2 W 114/07 Tz 9).
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Davon ist hier auszugehen:
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Die Klägerin ist in bei vorliegende Konstellation nicht gehalten, für die Vielzahl von im Bundesgebiet zu führenden ähnlich gelagerten Prozessen jeweils erneut einen Prozessbevollmächtigten am Prozessort zu suchen und diesen neu zu instruieren. Damit liegt ein Ausnahmefall vor, d.h. kostenrechtlich wird die Hinzuziehung eines weder am Gerichts- noch am Geschäftssitz ansässigen Anwaltes im Sinne einer Erstattungsfähigkeit dem Grunde nach akzeptiert. Die Beklagte mag sich - ohne Verstoß gegen das Gebot der Kostengeringhaltung - eines Prozeßbevollmächtigten bedienen, der über einen Gesamtüberblick über sämtliche Verfahren bei unterschiedlichen Gerichten verfügt und beispielsweise auf neue Entwicklungen tatsächlicher oder rechtlicher Art reagieren kann (siehe BGH, Beschl.v. 27.02.2018 - II ZB 23/16 Tz 11 ff.; Müller-Rabe, aaO, VV Nr. 7003 - 7006 Rn. 143). Dies indes bedeutet nicht, dass jeder beliebige Ort einer solchen Kanzlei akzeptiert wird - dazu sogleich unter 2.4.).
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2.4. Soweit nach diesen Grundsätzen die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes am dritten Ort als notwendig und damit verbundene Mehrkosten als grundsätzlich erstattungsfähig anzusehen sind, stellt sich die Frage, ob die hierdurch ausgelösten Mehrkosten stets automatisch in voller Höhe erstattungsfähig sind (so z. B. Müller-Rabe, aaO, VV Nr. 7003 - 7006 Rn. 139).
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a) Nach Ansicht des Senates geht dies zu weit:
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Wenn am Geschäftssitz der Partei ebenfalls Rechtsanwälte vorhanden sind, die in der Lage wären, die Funktion als „Hausanwalt“ zu übernehmen, so sind erstattungsfähig nur die Reisekosten eines (fiktiven) Anwaltes, dessen - wiederum fiktiver - Kanzleisitz an dem vom Gerichtsgebäude am weitesten entfernten Ort innerhalb des Gerichtsbezirkes liegt.
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Der BGH hat diese Frage offengelassen bzw. musste sie nicht beantworten (vgl. Beschluss vom 28.06.2006 - IV ZB 44/05 Tz 14; Beschluss vom 27.02.2018 - II ZB 23/16 Tz 14); in Rechtsprechung und Schrifttum wird sie, soweit ersichtlich, kaum behandelt.
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b) Der Senat folgt hier dem OLG Düsseldorf in dessen Beschluss vom 15.03.2007 - 10 W 145/06 (s. auch den bereits zitierten Senatsbeschluss vom 04.02.2020 - 11 W 1542/19, JurBüro 20, 134 ff.). Danach führt das Vorliegen der Voraussetzungen für die Annahme eines „Hausanwaltes“ nicht dazu, dass Mehrkosten, die daraus resultieren, dass dieser nicht am Ort des Geschäftssitzes der Partei ansässig ist, stets automatisch zu erstatten sind, sofern auch am Geschäftssitz der Partei ein gleichwertiger „Hausanwalt“ auffindbar ist.
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So liegt der Fall hier - diesbezüglich wird auf die obigen Ausführungen zu 2.3. b) Bezug genommen: Der Gedanke, wonach eine kostenorientierte Partei schon vorprozessual einen in ihrer Nähe befindlichen Rechtsanwalt einzuschalten hat, greift auch in vorliegender Konstellation (siehe BGH, Beschluss vom 20.12.2011 - XI ZB 13/11 Tz 11). Selbstverständlich besteht insoweit keinerlei „Zwang“; eine Partei ist bei der Anwaltswahl völlig frei - es geht lediglich darum, ob ein erstattungspflichtiger Prozeßgegner aus der Wahl eines bestimmten Anwaltes resultierende Mehrkosten zu tragen (oder die Partei hierfür selbst aufzukommen) hat.
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Im Übrigen ist hier auch nicht ersichtlich, warum die Beklagte nicht Köln als Gerichtsstand gewählt hat, wenn ihre Hausanwälte dort ansässig sind und es eines Mandantengesprächs nicht bedarf, weil diese mit den rechtlichen und tatsächlichen Einzelheiten des Rechtsstreits vertraut sind.
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3. Die von der Rechtspflegerin im Kostenfestsetzungsbeschluss statt der konkreten Terminsvertreterkosten in Ansatz gebrachten fiktiven Reisekosten in Höhe von € 44,80 für die Fahrtstrecke von Aying nach München (einfach 33 km) einschließlich einer Abwesenheitspauschale von € 25,00 sind demnach nicht zu beanstanden:
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Nach BGH, Beschluss vom 09.05.2018 - I ZB 62/17, dessen Bewertung sich der Senat angeschlossen hat, sind die tatsächlich angefallenen Reisekosten des auswärtigen Rechtsanwalts dann, wenn die Hinzuziehung eines auswärtigen Rechtsanwalts zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht notwendig im Sinne von § 91 Abs. 2, S. 1, 2. Hs ZPO war, zumindest insoweit erstattungsfähig, als sie entstanden wären, wenn die obsiegende Partei einen Rechtsanwalt mit Niederlassung am vom Gericht am weitest entfernten Ort innerhalb des Gerichtsbezirks beauftragt hätte. Dieser Grundsatz muss auch in hiesiger Konstellation gelten.
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4. Die von der Beschwerde aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine nur beschränkte Erstattungspflicht der Reisekosten greifen vorliegend nicht durch: Es ist bereits unzutreffend, dass der mandatierte Rechtsanwalt selbst finanzielle Nachteile durch die nur beschränkte Erstattungspflicht erleide. Zu trennen ist nämlich zwischen dem Anfall der Kosten bzw. Auslagen im Verhältnis Anwalt/ Mandant (Frage des RVG) und der Erstattungsfähigkeit dieser Kosten gegenüber dem Prozessgegner im Kostenfestsetzungsverfahren gemäß §§ 91 ff. ZPO. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin können die Reisekosten des Prozessbevollmächtigten, ordnungsgemäße Beauftragung vorausgesetzt, dem Mandanten nach dem RVG unbeschränkt in Rechnung gestellt und gegebenenfalls auch gemäß § 11 RVG gegen diesen festgesetzt werden. Letztlich ist es eine Entscheidung der Partei selbst, ob sie das Risiko eingehen will, durch die Beauftragung eines Rechtsanwaltes am dritten Ort dessen höhere Reisekosten tragen zu müssen. Gerade hier mag die Beklagte hierdurch auch Vorteile haben, etwa wenn sie einen Prozess in Hamburg führt. Die Reisekosten der Anwälte in Köln sind dann niedriger, als solche aus München es wären (was etwa zum Tragen kommt, wenn die Beklagte erstattungspflichtig ist).
42
Die Postulationsfähigkeit oder gar Berufsfreiheit des beauftragten Rechtsanwaltes sieht der Senat hierdurch nicht beeinträchtigt (vgl. bereits BGH, Beschluss vom 22.02.2007 - VII ZB 93/06 Tz 12). Es bleibt einer Partei völlig unbenommen, jeden Rechtsanwalt im Bundesgebiet zu beauftragen; davon zu trennen ist indes die Frage, inwiefern die erstattungspflichtige Partei die entsprechenden Mehrkosten tragen sollte.
B. Sofortige Beschwerde der Beklagten
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Die an sich gemäß § 104 Abs. 3 ZPO statthafte sofortige Beschwerde der Beklagten ist im Hinblick auf die Anforderungen nach §§ 567 ff. ZPO bereits unzulässig.
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Sie ist daher nach § 572 Abs. 2 S. 2 ZPO zu verwerfen.
45
Nach § 572 Abs. 2 S. 1 ZPO hat das Beschwerdegericht von Amts wegen zu prüfen, ob die Beschwerde an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt ist.
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Ein Anwaltszwang besteht wegen § 13 RPflG für das Kostenfestsetzungsverfahren einschließlich des Beschwerdeverfahrens zwar nicht. Der per Fax am 12.07.2020 eingelegte „Widerspruch“ genügt aber nicht den Formvorschriften des §§ 569 Abs. 1 S. 1, 129 ZPO, da das Schreiben - wie bereits zuvor der „Widerspruch“ gegen das Versäumnisurteil - nicht unterschrieben ist.
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Im Übrigen wäre die Beschwerde auch unbegründet: Der angegriffene Kostenfestsetzungsbeschluss vom 16.06.2020 ist insbesondere mit Verweis auf die Ausführungen zur Beschwerde der Klägerin weder kosten- noch gebührenrechtlich zu beanstanden.
48
1. Die Entscheidung über die Kosten der Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 91,92, 97 Abs. 1 ZPO.
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2. Der Wert der Beschwerde der Klägerin ergibt sich aus der Differenz der geltend gemachten Anwaltskosten in Höhe von € 1.435,00 und dem zuerkannten Betrag von € 1.097,10. Der Wert der Beschwerde der Beklagten ergibt sich aus dem festgesetzten Gesamtbetrag.
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3. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des genauen Umfangs der Pflicht, die Reisekosten eines sog. „Rechtsanwaltes am dritten Ort“ zu erstatten, insbesondere bei Bejahung der Voraussetzungen etwa eines „Hausanwaltes“, war die Rechtsbeschwerde beschränkt auf die sofortige Beschwerde der Klägerin nach § 574 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 ZPO antragsgemäß zuzulassen.
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Der Fall liegt besonders, weil hier einerseits die Voraussetzungen eines Ausnahmefalles vorliegen, in dem grundsätzlich ohne kostenrechtlichen Obliegenheitsverstoß ein Rechtsanwalt am dritten Ort beauftragt werden durfte; nachdem sich andererseits der Geschäftssitz der Beklagten in München befindet, ist nicht einzusehen, warum der Kläger die Reisekosten erstatten soll, die daraus resultieren, dass die Beklagte ihren „Hausanwalt“ nicht ebenfalls an ihrem Sitz hat. Es liegt auch kein Widerspruch insofern vor, als hier ein „Hausanwalt“ erstattungsrechtlich dem Grunde nach zugebilligt wird, dessen Mehrkosten im konkreten Fall aber doch nicht festsetzungsfähig sind: Die Beurteilung fiele nämlich wohl anders aus, wenn die Beklagte etwa in Landshut, Stuttgart, Dresden oder Bremen prozessieren würde: Im letzteren Fall etwa würde sich eine erstattungspflichtige Partei dort bereits nicht dagegen wenden, dass die Prozeßbevollmächtigten der Beklagten aus Köln anreisen und nicht aus München.
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Demnach führt eine auf den Einzelfall bezogene Erwägung (vgl. BGH, Beschluss vom 27.02.2018 - II ZB 23/16 Tz 11 a.E.) hier zu einer Zurückweisung des Rechtsmittels.
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Die damit zusammenhängende Frage, ob - falls die Beauftragung eines Anwaltes am dritten Ort deshalb statthaft ist, weil am Sitz der Partei kein spezialisierter Rechtsanwalt vorhanden ist - jeder noch so weit entfernte im Bundesgebiet gewählt werden kann oder eine gewisse (womöglich nicht einfach zu definierende) Nähe zu berücksichtigen ist, stellt sich hier nicht.