Inhalt

OLG München, Beschluss v. 25.11.2020 – 2 Ws 1227/20, 2 Ws 1228/20
Titel:

Beschwerde, Strafaussetzung, Strafvollstreckungskammer, Widerruf, Straftat, Zustellung, Rechtsmittel, Berufungshauptverhandlung, Auflagen, Geldstrafe, Verurteilung, Wirkung, Zeitpunkt, Ablauf, sofortige Beschwerde, Widerruf der Strafaussetzung, Beschwerde einlegen

Schlagworte:
Beschwerde, Strafaussetzung, Strafvollstreckungskammer, Widerruf, Straftat, Zustellung, Rechtsmittel, Berufungshauptverhandlung, Auflagen, Geldstrafe, Verurteilung, Wirkung, Zeitpunkt, Ablauf, sofortige Beschwerde, Widerruf der Strafaussetzung, Beschwerde einlegen
Fundstelle:
BeckRS 2020, 61019

Tenor

I. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten S. T. wird der Beschluss der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen vom 08.09.2020 aufgehoben.
II. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zu Last.

Gründe

I.
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1. Der Beschwerdeführer wurde durch seit 08.06.2010 rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Gemünden a.M. vom selben Tage (Az.: 1 Ds 911 Js 340/10) wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls und unter Einbeziehung einer Geldstrafe aus einer weiteren Verurteilung (Strafbefehl) zur Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Strafe war zur Bewährung ausgesetzt, die Bewährungszeit auf drei Jahre festgesetzt worden.
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Diese Bewährung wurde durch seit 23.06.2011 rechtskräftigen Beschluss des Amtsgerichts Würzburg vom 10.06.2011 widerrufen.
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2. Darüber hinaus wurde der Beschwerdeführer durch seit 10.10.2011 rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Würzburg vom selben Tage (Az.: 6 KLs 5824/11) wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen sowie unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in sechs Fällen unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus einer weiteren Vorverurteilung zur Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt.
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3. Mit seit 20.09.2013 rechtskräftigem Beschluss der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen vom 18.09.2013 wurden die Reststrafen beider Verurteilungen mit Wirkung zum 29.09.2013 zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit wurde auf vier Jahre festgesetzt.
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4. Mit Beschluss vom 08.04.2017 verlängerte die Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen die Bewährungszeit um ein Jahr, nachdem der Beschwerdeführer wegen einer am 22.07.2016 begangenen Sachbeschädigung und Beleidigung durch seit 01.12.2016 rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts München vom 23.11.2016 (Az.: 854 Ds 265 Js 2112121/17) zur Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt worden war.
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5. Mit Beschluss vom 14.04.2019 verlängerte die Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen die Bewährungszeit mit Wirkung ab Zustellung der Entscheidung um ein weiteres Jahr, nachdem das Amtsgericht Schweinfurt den Beschwerdeführer wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln am 13.07.2018 durch Urteil vom 11.02.2019 (Az.: 2 Ds 12 Js 9303/18), rechtskräftig seit diesem Tage, zur Geldstrafe von 100 Tagessätzen verurteilt hatte.
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6. Mit Urteil des Amtsgerichts Schweinfurt vom 28.10.2019 (Az.: 2 Ds 12 Js 6665/19) wurde der Beschwerdeführer wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln am 04.04.2019 zur Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Dieses Strafmaß wurde vom Landgericht Würzburg durch Urteil vom 14.10.2020 (Az.: 3 Ns 12 Js 6665/19), rechtskräftig geworden am selben Tage, auf 60 Tagessätze reduziert.
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7. Im Hinblick auf den unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln am 04.04.2019 und die deshalb erfolgte Verurteilung des Beschwerdeführers widerrief die Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen mit Beschluss vom 08.09.2020 die Bewährung beider Reststrafen. Dieser Beschluss wurde dem Beschwerdeführer in der o.g. Berufungshauptverhandlung am 14.10.2020 übergeben. Mit Verteidigerschriftsatz vom 15.10.2020, eingegangen bei Gericht am 19.10.2020, ließ der Beschwerdeführer hiergegen sofortige Beschwerde einlegen, die mit weiterem Schriftsatz vom 30.10.2020 begründet wurde.
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8. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragte mit Schreiben vom 19.11.2020, den angefochtenen Beschluss der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer aufzuheben.
II.
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1. Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen vom 08.09.2020 ist zulässig.
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a) Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Widerrufsbeschluss ist nach § 453 Abs. 2 Satz 3 StPO statthaft.
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b) Sie ist auch fristgerecht binnen einer Woche ab Bekanntmachung des Beschlusses (§ 311 Abs. 2 StPO) eingelegt worden. Denn der Beschluss wurde dem Beschwerdeführer in der Berufungshauptverhandlung vor dem Landgericht Würzburg am 14.10.2020 ausgehängt und damit bekannt gemacht. Am 19.10.2020 und damit rechtzeitig ging der Beschwerdeschriftsatz vom 15.10.2020 bei der Strafvollstreckungskammer ein.
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c) Das Rechtsmittel ist auch im übrigen in zulässiger Weise (§ 306 Abs. 1 StPO) eingelegt.
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2. Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung der Widerrufsentscheidung.
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Das Gericht widerruft nach §§ 57 Abs. 5 S.1, 56 f Abs. 1 S.1 Nr. 1 StGB die Strafaussetzung, wenn die verurteilte Person in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass sich die der Strafaussetzung zugrunde liegende Erwartung nicht erfüllt hat.
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Letzteres trifft auf den Beschwerdeführer zweifelsohne zu, da er nach Aussetzung seiner Reststrafen zur Bewährung bereits wiederholt einschlägig straffällig geworden ist.
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Jedoch hat der Beschwerdeführer die Straftat, die Anlass für den Widerruf der Strafaussetzung durch den angefochtenen Beschluss gewesen ist, nicht „in der Bewährungszeit“ begangen.
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Durch die Aussetzungsentscheidung vom 18.09.2013 mit Wirkung zum 29.09.2013, rechtskräftig seit 20.09.2013, wurde die Dauer der Bewährung auf vier Jahre festgesetzt und hätte somit mit Anlauf des 19.09.2017 gemäß §§ 57 Abs. 5 S.1, 56a Abs. 2 StGB geendet. Die erste Verlängerung der Bewährungszeit um ein Jahr erfolgte mit Beschluss vom 08.04.2017; die Bewährungszeit endete daher nun am 19.09.2018. Die zweite Verlängerungsentscheidung erfolgte jedoch erst durch Beschluss vom 14.04.2019 mit Wirkung ab dessen Zustellung.
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Die Straftat vom 04.04.2019 wurde daher in dem Zeitraum zwischen Ablauf der (bereits einmal verlängerten) ursprünglichen Bewährung und dem Wirksamwerden der (zweiten) Verlängerung der Bewährungszeit begangen.
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a) Nach der ständigen Rechtsprechung aller Senate des Oberlandesgerichts München (so zuletzt ausführlich 2 Ws 130/20, 2 Ws 195/20 vom 14.02.2020) tritt die Wirkung einer nach Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit beschlossenen Verlängerung der Bewährung erst mit deren Ausspruch, also „ex nunc“ ein; sie wirkt nicht auf den Zeitpunkt des Ablaufs der ursprünglichen Bewährungszeit zurück, entfaltet also keine Wirkung „ex tunc“. An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch trotz zwischenzeitlich veröffentlichter anders lautender Entscheidungen des Kammergerichts vom 18.07.2018 (StV 2020/517) und des OLG Bremen vom 20.09.2019 (StV 2020/518) aus den Gründen in seinem o.g. Beschluss fest.
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b) Aus diesem Wirksamwerden der Verlängerungsentscheidung erst ab dem Zeitpunkt ihres Erlasses folgt, dass der Zeitraum zwischen dem Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und dem Beginn der verlängerten Bewährungszeit gleichsam „bewährungsfrei“ ist. Der Verurteilte unterliegt in diesem Zeitraum mithin weder Weisungen noch Auflagen, noch ist eine in dieser Zeit verübte Straftat „in der Bewährungszeit“ begangen worden. Eine Widerrufsentscheidung nach §§ 57 Abs. 5 S.1, 56 f Abs. 1 S.1 Nr. 1 StGB kann deshalb nicht auf eine in diesem bewährungsfreien Zeitfenster begangene Straftat gestützt werden.
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Auf die Frage, ob ein Bewährungswiderruf wegen einer solchen Straftat dann in Betracht gezogen werden kann, wenn der Verurteilte bei Begehung der Straftat bereits mit einer Verlängerung der Bewährungszeit rechnen musste - wie dies bei den Befürwortern einer „ex-tunc“-Wirkung zum Teil vertreten wird (siehe etwa Kammergericht und OLG Bremen aaO.) - kommt es aufgrund der Wirkung der Verlängerungsentscheidung „ex nunc“ nicht an.
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Nach alledem konnte die Straftat des Beschwerdeführers vom 04.04.2019 keine Anlasstat für einen Widerruf der Strafaussetzung nach § 56 f Abs. 1 S.1 Nr. 1 StGB darstellen.
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Die Widerrufsentscheidung war daher auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers hin aufzuheben.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus der allgemeinen Kostentragungspflicht der Staatskasse bei Fehlen eines anderen Kostenpflichtigen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, Rn. 2 zu § 473 und Rn. 2 zu § 464).