Inhalt

OLG München, Beschluss v. 07.10.2020 – 2 Ws 1073/20
Titel:

Beiordnung, Freiheitsstrafe, Beschwerde, Hauptverhandlung, Pflichtverteidiger, Angeklagte, Verteidiger, Pass, Bundesgebiet, Generalstaatsanwaltschaft, Angeklagter, Passersatzpapier, Rechtsmittel, Passbeschaffung, sofortige Beschwerde, Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Schlagworte:
Beiordnung, Freiheitsstrafe, Beschwerde, Hauptverhandlung, Pflichtverteidiger, Angeklagte, Verteidiger, Pass, Bundesgebiet, Generalstaatsanwaltschaft, Angeklagter, Passersatzpapier, Rechtsmittel, Passbeschaffung, sofortige Beschwerde, Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Vorinstanz:
LG München II, Verfügung vom 20.08.2020 – 6 Ns 26 Js 11019/19
Fundstelle:
BeckRS 2020, 61016

Tenor

I. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten P. F. wird die Verfügung des Landgerichts München II vom 20.08.2020, Az.: 6 Ns 26 Js 11019/19, aufgehoben.
II. Dem Angeklagten P. F. wird Rechtsanwalt B. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
III. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten hieraus erwachsenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe

I.
1
Der Angeklagte wurde in anderer Sache mit Strafbefehl des Amtsgerichts Ebersberg vom 25.10.2018, rechtskräftig seit 27.11.2018 (Az.: 1 Cs 26 Js 29122/18), wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 10,- € verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Angeklagte als senegalesischer Staatsangehöriger seit 07.06.2016 vollziehbar ausreisepflichtig war und sich trotz mündlicher Belehrung über die Pflicht zur Passbeschaffung am 21.06.2016 und Fristsetzung bis zum 06.03.2017 seit dem 07.03.2017 weiterhin im Bundesgebiet aufhielt, ohne am Passbeschaffungsverfahren mitzuwirken bzw. die für eine Passbeschaffung erforderlichen Identitätsnachweise vorzulegen, obwohl ihm das möglich und zumutbar gewesen wäre.
2
In dieser Sache wurde der Angeklagte mit Urteil des Amtsgerichts Ebersberg vom 17.03.2020, Az.: 1 Ds 26 Js 11019/19, wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 7 Monaten verurteilt, da er sich trotz erneuter Belehrung über die Pflicht zur Passbeschaffung am 10.12.2018 unter Fristsetzung bis 28.02.2019 sowie am 03.09.2019 unter Fristsetzung bis 04.11.2019 auch weiterhin im Bundesgebiet aufgehalten hatte, ohne die erforderlichen Identitätsnachweise vorzulegen bzw. sich bei der Botschaft mittels der vorhandenen ID-Nummer ein Passersatzpapier zu beschaffen, obwohl ihm dies möglich und zumutbar gewesen wäre.
3
Gegen dieses Urteil legte der Angeklagte mit Schriftsatz seiner damaligen Wahlverteidigerin Rechtsanwältin S. vom 18.03.2020 Berufung ein.
4
Mit Telefax vom 14.08.2020 beantragte der Angeklagte, ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen. Rechtsanwältin S. legte mit Schriftsatz vom 17.08.2020 das Wahlmandat nieder.
5
In der Berufungshauptverhandlung vom 20.08.2020 vor dem Landgericht München II erschien der Angeklagte mit Verteidiger Rechtsanwalt B., der die Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragte.
6
Der Vorsitzende der Berufungskammer lehnte den Antrag des Angeklagten auf Beiordnung von Rechtsanwalt B. als Pflichtverteidiger in der Hauptverhandlung vom 20.08.2020 ab.
7
Nachdem Rechtsanwalt B. mitgeteilt hatte, dass er beabsichtige, sieben Anträge zu stellen, wobei er für deren Begründung noch mehr Zeit benötige, setzte das Landgericht München II mit Beschluss vom 20.08.2020 die Hauptverhandlung aus. Anschließend verfügte der Vorsitzende die Beiziehung der Ausländerakte und die Gewährung von Akteneinsicht - auch in die noch beizuziehende Ausländerakte - an Verteidiger Rechtsanwalt B..
8
Mit Verteidigerschriftsatz vom 20.08.2020, eingegangen beim Landgericht München II am 21.08.2020, beantragte der Angeklagte „erneut“ die Beiordnung von Rechtsanwalt B. als Pflichtverteidiger, nahm darin auf das in der Akte befindliche Schreiben vom „17.08.2020“ Bezug und begründete den Antrag ergänzend.
9
Das Landgericht München II deutete mit Vermerk vom 11.09.2020 den nochmaligen Antrag vom 20.08.2020 als sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags auf Beiordnung von Rechtsanwalt B. als Pflichtverteidiger des Angeklagten, leitete den Vermerk mit Telefax vom 14.09.2020 dem Verteidiger Rechtsanwalt B. zu und veranlasste die Vorlage der sofortigen Beschwerde über die Staatsanwaltschaft M.II.
10
Die Generalstaatsanwaltschaft M. beantragte mit Schreiben vom 30.09.2020, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II.
11
1. Zutreffend hat das Landgericht München II den „nochmaligen“ Antrag vom 20.08.2020 auf Beiordnung von Rechtsanwalt B. zum Pflichtverteidiger als sofortige Beschwerde gegen die ablehnende Verfügung vom selben Tag behandelt (§ 300 StPO). Verteidiger Rechtsanwalt B. hat gegen den ihm am 14.09.2020 zugefaxten Vermerk vom 11.09.2020 keine Einwände erhoben.
12
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung ist gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig (§§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO).
13
2. Das Rechtsmittel ist auch begründet. Die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage liegen vor, § 140 Abs. 2 StPO.
14
Die Rechtslage ist schwierig, wenn es bei Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird, es auf die Auslegung von Begriffen aus dem Nebenstrafrecht ankommt (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 24.02.2010 - 5 Ws 37/10, BeckRS 2010, 23632 - zum AufenthG) oder die Strafbarkeit von der Klärung zivil- oder verwaltungsrechtlicher Vorfragen abhängt, die ihrerseits schwierig zu bewerten sind (BeckOK StPO/Krawczyk, 37. Ed. 1.7.2020, § 140 StPO Rn. 32, 33). Um den Schwierigkeitsgrad zu beurteilen, ist eine Gesamtwürdigung von Sach- und Rechtslage vorzunehmen (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019, § 140 StPO Rn. 23).
15
Der Angeklagte wurde erstinstanzlich wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 7 Monaten verurteilt, da er sich nach dem rechtskräftigen Strafbefehl des Amtsgerichts Ebersberg vom 25.10.2018 trotz erneuter Belehrung über die Pflicht zur Passbeschaffung und entsprechender Fristsetzung auch weiterhin im Bundesgebiet aufgehalten hatte, ohne die erforderlichen Identitätsnachweise vorzulegen bzw. sich bei der Botschaft mittels der vorhandenen ID-Nummer ein Passersatzpapier zu beschaffen.
16
Bei der Strafnorm des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG handelt es sich um ein echtes Unterlassungsdelikt in Form eines Dauerdelikts. Demgemäß ist eine Strafbarkeit - auch im Hinblick auf den Schuldgrundsatz und das Übermaßverbot - jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn dem Ausländer die Erfüllung seiner Pass- und Ausweispflicht unzumutbar ist. Das Merkmal der Unzumutbarkeit der Passerlangung ist auch in § 48 Abs. 2 AufenthG enthalten, auf den § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG Bezug nimmt. Generell kann ein Ausländer einen Pass nur dann nicht in zumutbarer Weise erlangen, wenn ihm von seinen Heimatbehörden ein Pass verweigert wird, wenn er einen solchen nicht in angemessener Zeit oder nur unter schwierigen Umständen erhalten kann oder wenn die Passerteilung von sachfremden Gesichtspunkten abhängig gemacht wird (BeckOK AuslR/Hohoff, 26. Ed. 1.7.2020, § 95 AufenthG Rn. 4-6).
17
Im vorliegenden Fall weist die Rechtslage nicht unerhebliche Schwierigkeiten auf, da der Auslegung von Begriffen aus dem AufenthG als Nebenstrafrecht - insbesondere der Zumutbarkeit der Erfüllung der Pflicht zur Passbeschaffung - zentrale Bedeutung zukommt und die Strafbarkeit auch von der Klärung ausländerrechtlicher Vorfragen abhängt. Das Berufungsgericht hat insoweit nach Aussetzung der Hauptverhandlung ergänzend die Ausländerakte beigezogen.
18
Hinzu kommt, dass der Angeklagte bereits mit Strafbefehl des Amtsgerichts Ebersberg vom 25.10.2018 wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen sich die Gerichte bei Unterlassungsdauerdelikten nach einer ersten Verurteilung mit der Frage auseinandersetzen, ob durch das weitere Unterlassen überhaupt erneut schuldhaft Unrecht verwirklicht wird. Sie müssen prüfen, ob ein Angeklagter angesichts der Einmaligkeit einer von ihm geforderten Leistung durch die bloße Fortsetzung seines Nichthandelns ein erneutes rechtlich verbotenes Verhalten gezeigt hat, das eigenständiger Sanktionierung zugänglich ist. Darüber hinaus haben die Gerichte den Schuldumfang der von ihnen angenommenen zweiten Tat im Verhältnis zur ersten Tat zu erörtern. Dass der Staat durch einen bloßen, nicht näher begründeten Verweis auf die dogmatische Figur der „Zäsurwirkung“ einer vorausgegangenen Verurteilung selbst die Voraussetzungen für die Verurteilung wegen einer vermeintlich neuen Tat schafft, stellt einen offensichtlichen Verstoß gegen das Schuldprinzip dar, denn nicht die individuelle Schuld ist in einem solchen Fall Grund der Bestrafung und Grundlage der Strafzumessung, sondern die von Zufälligkeiten abhängige Geschwindigkeit der Strafverfolgung. Dies bedeutet aber nicht, dass der ersten Verurteilung keinerlei Abgrenzungsfunktion zukäme. Sie markiert die zeitliche Grenze für den möglichen Beginn der Verwirklichung neuen schuldhaften Unrechts durch die Fortsetzung des Nichthandelns entgegen der durch die jeweilige Strafnorm begründeten rechtlichen Verpflichtung. Fasst der Verurteilte einen neuen, von dem ersten qualitativ verschiedenen, weil die erste Verurteilung außer Acht lassenden Tatentschluss, bleibt eine zweite Verurteilung ohne Verstoß gegen das Schuldprinzip möglich. Unter dieser Voraussetzung kann auch der gesteigerte Ungehorsam, der in der neuerlichen Missachtung der Rechtsordnung zum Ausdruck kommt, auf der Ebene der Strafzumessung berücksichtigt werden, ohne dass der zweiten Verurteilung allein deswegen eine mit dem Schuldprinzip nicht zu vereinbarende Beugewirkung zukäme (BVerfG, Beschluss vom 23.09.2014 - 2 BvR 2545/12, BeckRS 2014, 57454 Rn. 11-13).
19
Das Berufungsgericht wird daher zu klären haben, ob ein neuer Tatentschluss bereits dann vorliegt, wenn ein Angeklagter nach der ersten Verurteilung trotz erneuter ausdrücklicher (schriftlicher) Aufforderung durch die Ausländerbehörde, sich um die für die Erlangung von Ausweispapieren erforderliche Vorlage von Identitätsnachweisen zu kümmern, untätig bleibt bzw. die Aufforderung schlicht ignoriert (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 25.07.2008 - 1 Ss 407/07, BeckRS 2009, 8550), oder ob hierfür ggf. weitere Umstände erforderlich sind, wie sie etwa der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23.09.2014 (a.a.O., Rn. 5, 17) zugrunde lagen.
20
Unter Würdigung aller Umstände erscheint die Rechtslage schwierig. Dem Angeklagten ist daher ein Pflichtverteidiger beizuordnen. Der Senat berücksichtigt in diesem Zusammenhang auch den Umstand, dass der Angeklagte der deutschen Sprache nicht (hinreichend) mächtig ist. Die ohnehin notwendige Zuziehung eines Dolmetschers vermag zwar die Sprachbarriere, nicht aber die aus der komplexen Rechtslage erwachsenden Verständnisschwierigkeiten zu beseitigen (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage, 2020, § 140 StPO Rn. 30b). Bei einem der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtigen ausländischen Angeklagten ist ein Verteidiger beizuordnen, wenn seine auf sprachlichen Defiziten beruhende Behinderung der Verteidigungsmöglichkeit auch durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers nicht völlig ausgeglichen werden kann (BeckOK StPO/Krawczyk, 37. Ed. 1.7.2020, § 140 StPO Rn. 30).
21
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §467 StPO.