Inhalt

SG Landshut, Beschluss v. 12.05.2020 – S 7 AS 655/18 ER
Titel:

Leistungen, Beschwerde, Erinnerung, Verwirkung, Kostenfestsetzungsbeschluss, Schriftsatz, Berechnung, Zustellung, Rechtsschutzverfahren, RVG, Streitgegenstand, Bedeutung, Antragsteller, Erinnerungsgegner, Bedeutung der Rechtssache, aufschiebende Wirkung, wirtschaftliches Interesse

Schlagworte:
Leistungen, Beschwerde, Erinnerung, Verwirkung, Kostenfestsetzungsbeschluss, Schriftsatz, Berechnung, Zustellung, Rechtsschutzverfahren, RVG, Streitgegenstand, Bedeutung, Antragsteller, Erinnerungsgegner, Bedeutung der Rechtssache, aufschiebende Wirkung, wirtschaftliches Interesse
Fundstelle:
BeckRS 2020, 60939

Tatbestand

1
I. Die von dem Erinnerungsgegner an die Erinnerungsführerin zu erstattende Vergütung wird auf 380,80 € festgesetzt.
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II. Die Erinnerung der Erinnerungsführerin vom 09.01.2020 gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 07.02.2019 wird zurückgewiesen.
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III. Die Beschwerde wird zugelassen.

Gründe

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I. Streitgegenstand ist die Höhe der zu erstattenden Vergütung durch den Erinnerungsgegner, insbesondere im Hinblick auf die Höhe der Verfahrensgebühr.
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1. a. In dem der Kostenstreitigkeit zugrundeliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren des vormaligen Antragstellers gegen den vormaligen Antragsgegner (S 7 AS 655/18 ER) war im Streit die aufschiebende Wirkung der Widersprüche gegen die Sanktionsbescheide vom 06.08.2018, 07.09.2018 und 10.10.2018.
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b. Die Prozessbevollmächtigte des vormaligen Antragstellers hat mit Schriftsatz vom 26.10.2018 Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt, begründet und Prozesskostenhilfe beantragt.
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Es folgten weitere Schriftsätze vom 12.11.2018, 04.12.2018, 10.12.2018 sowie vom 27.12.2018. Mit Beschluss vom 02.01.2019 wurde der Antrag abgelehnt.
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c. Mit Beschluss vom 03.12.2018 hat der Vorsitzende der zuständigen Kammer des Sozialgerichts Landshut dem vormaligen Antragsteller Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Sozialgericht Landshut ab Antragstellung bewilligt und die Erinnerungsführerin beigeordnet.
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2. Mit Schriftsatz vom 11.01.2019, Eingang beim Sozialgericht Landshut am 15.01.2019, wurde die Vergütungsfestsetzung für die anwaltliche Tätigkeit in Höhe von insgesamt 470,05 € beantragt. Insbesondere wurden eine Verfahrensgebühr in Höhe von 375,00 € angesetzt.
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Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit beziehe sich im Wesentlichen auf den tatsächlichen Zeitaufwand des Anwalts bei der Bearbeitung des Mandats, wobei nur Tätigkeiten berücksichtigt würden, die mangels entsprechender Gebührenvorschriften nicht durch eine besondere Gebühr vergütet werden. Es werde die Auffassung vertreten, dass ein zeitlicher Aufwand von etwa drei Stunden durchschnittlich sei. Die nachstehende Auflistung solle verdeutlichen, welche Tätigkeit allein hinsichtlich der schriftlichen Korrespondenz innerhalb von zwei Monaten erfolgt sei. Des Weiteren sei eine umfassende Besprechung vor Antragseinreichung und in der Folgezeit seien diverse Email-Korrespondenz zum Verfahren mit dem Antragsteller erfolgt.
- Antragsschrift vom 26.10 2018
- Schriftsatz vom 12. 11. 2018 in Reaktion auf Antragsgegner-Schriftsatz vom 31.10.2018
- Schriftsatz vom 26.11.2018
- Schriftsatz vom 04.12.2018 in Reaktion auf Antragsgegner-Schriftsatz vom 21.11.2018
- Schriftsatz vom 27.12.2018 in Reaktion auf Antragsgegner-Schriftsatz vom 13.12.2018.
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Der Zeitaufwand von drei Stunden sei daher bei weitem überschritten worden. Ferner führe das RVG zur Bestimmung der Gebührenhöhe beispielshaft als Kriterium die „Bedeutung der Angelegenheit“ an. Bei der Bedeutung der Angelegenheit seien die Auswirkungen der Angelegenheit für den Auftraggeber, d. h. sein persönliches, ideelles oder wirtschaftliches Interesse an einem möglichst erfolgreichen Abschluss der anwaltlichen Tätigkeit im Hinblick auf den von ihm erhofften bzw. erzielten Erfolg, zu berücksichtigen. Maßgeblich sei hierbei grundsätzlich die Sicht des Mandanten. Zum Zeitpunkt der Antragseinreichung sei der Antragsteller aufgrund von drei Bescheiden zu 100% sanktioniert worden, was eine Nichtauszahlung der Leistungen bis zum 31.01.2019 zur Folge gehabt habe. Auch wenn der Antragsgegner während des Verfahrens die Sanktionen auf 60% reduziert habe, sei der Antragsteller faktisch nicht leistungs-/überlebensfähig gewesen. Dem entsprechend sei die Bedeutung der Angelegenheit für den Antragsteller hoch gewesen.
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3. Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 07.02.2019 hat der Urkundsbeamte des Sozialgerichts Landshut die von dem Erinnerungsgegner zu erstattenden Vergütung auf 380,80 € festgesetzt.
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Dem lag folgende Berechnung zugrunde:
Verfahrensgebühr
§§ 3, 14 iVm der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG - Nr. 3102 VV RVG 300,00 €
Auslagenpauschale nach Nr. 7002 VV RVG 20,00 €
Summe 320,00 €
19% Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV RVG 60,80 €
Summe mit Umsatzsteuer 380,80 €.
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Zur Begründung führte der Urkundsbeamte zur Verfahrensgebühr aus, dass der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit, also der zeitliche Aufwand, den der Erinnerungsführer auf die Sache habe verwenden müssen, sowie auch die Schwierigkeit der Sache würden insgesamt als durchschnittlich eingestuft. Es sei weder ein umfangreicher Schriftverkehr ersichtlich, noch eine erhöhte Schwierigkeit erkennbar. Zu Gunsten sei zu berücksichtigen, dass die Angelegenheit für den Antragsteller in Anbetracht des vollständigen Wegfalls der Arbeitslosengeld II-Leistungen für den Zeitraum September 2018 bis Januar 2019 von hoher finanzieller Bedeutung war. Demgegenüber seien allerdings die Vermögens- und Einkommensverhältnisse als unterdurchschnittlich zu beurteilen. Dem Antragsteller sei Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt worden. Ein besonderes Haftungsrisiko sei nicht erkennbar. Nach Gesamtabwägung und Kompensierung der Kriterien des § 14 RVG liege ein durchschnittlicher Fall vor, sodass die Verfahrensgebühr gem. Nr. 3102 VV RVG in Höhe der Mittelgebühr von 300,00 € als angemessen und ausreichend erscheine. Die von der Erinnerungsführerin beantragten Gebühren würden sich nicht innerhalb der Toleranzgrenze von 20% befinden und seien daher unbillig.
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4. Hiergegen legte die Erinnerungsführerin mit Schreiben vom 09.01.2020 Erinnerung ein und begründete diese.
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Die angesetzte Verfahrensgebühr in Höhe von € 375,00 entspreche billigem Ermessen. lm streitgegenständlichen Beschluss werde ausgeführt, dass kein umfangreicher Schriftverkehr erkennbar gewesen wäre, weshalb der Umfang als durchschnittlich einzustufen sei. Außen vorgelassen werde, dass fünf Schriftsätze innerhalb eines Zeitraums von rund zwei Monaten verfasst worden seien. Die Verfassung von fünf Schriftsätzen, vier davon als Reaktion auf die Schriftsätze der Gegenseite, seien das Ergebnis einer ausführlichen Bearbeitung. Hierzu gehöre die umfassende Durchsicht der Erwiderungen des Antragsgegners, die Problemanalyse, Weiterleitung an den Mandanten und der Austausch diesbezüglich. Die Besprechung und Mandatierung sei am 24.10.2018 erfolgt. Im Kostenfestsetzungsantrag sei wiedergegeben worden, dass eine umfassende Email-Korrespondenz mit dem Antragsteller erfolgt sei, die wie folgt wiedergegeben werde:
- Email des Mandanten am 25.10.2018 um 06:05 Uhr, 07:09 Uhr, 8:23 Uhr
- Email an Mandanten am 25.10.2018 um 09:09 Uhr
- Email des Mandanten am 25.10.2018 um 09:23 Uhr, 9:25 Uhr, 09:26 Uhr, 9:28 Uhr, 9:53 Uhr
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Diese seien mit Informationen für die Verfassung der Antragsschrift und den PKH-Antrag gefüllt gewesen.
- Email an Mandanten um 14:24 Uhr
- Abschrift Schriftsatz Antrag Einstweiligen RS per Mail an Mandant am 26.10.2018
- Rückantwort Mandant am 26.10.2018 um 18:56 Uhr
- Email des Mandanten vom 5.11.2018 um 10:40 Uhr, bei welcher ich in „cc“ gesetzt wurde
- Email an Mandanten vom 08.11.2018 um 13:14 Uhr
- Antwort um 14:01 Uhr vom Mandanten, beantwortet um 14:51 Uhr, wiederum Antwort von Mandant um 14:56 Uhr
- 09.11.2018 um 10:12 Uhr Unterlagen per Fax erhalten
- Erwiderung vom 12.11.2018, Weiterleitung an Mandant am selben Tag per Email
- Schriftsatz des Antragsgegners vom 21.11.2018, eingegangen am 04.12.2018 sowie Erwiderung hierauf vom 04.12.2018 dem Mandanten weitergeleitet am selben Tag
- Email an Mandant am 21. 12. 2018, Rückmeldung Mandant per Email am 21.12.2018.
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Der Ansatz, dass das Kriterium des Umfangs daher nur durchschnittlich ausgeprägt sei, lasse sich nicht aufrechterhalten. Erkennbar sei dieses Kriterium besonders stark ausgeprägt gewesen. Zur Bedeutung der Sache sei bereits vorgetragen worden und als überdurchschnittlich befunden worden. Auch wenn man die Vermögens- und Einkommensverhältnisse als unterdurchschnittlich ansehe und das besondere Haftungsrisiko wertneutral beurteile, ergebe sich in der Gesamtschau, auch bei Annahme durchschnittlicher Schwierigkeit, dass lediglich der Ansatz der Mittelgebühr aufgrund des enormen Umfangs nicht billigem Ermessen entsprechen würde. Die in Ansatz gebrachte Verfahrensgebühr sei damit nicht unbillig.
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Nachdem eine Abhilfe nicht erfolgt ist, wurde der Vorgang mit Schreiben vom 20.01.2020 der zuständigen 4. Kammer des Sozialgerichts Landshut zur Entscheidung vorgelegt.
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Mit Schreiben vom 30.01.2020 nahm der Erinnerungsgegner Stellung.
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Der Erinnerungsgegner weise darauf hin, dass nach anliegendem Gerold/Schmidt, 24.Auflage, Rn 45/§ 55 RVG, bei einer Erinnerung vom 09.01.2020 gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss vom 07.02.2019, Az. S 7 AS 655/18 ER, Verwirkung eingetreten sei, die z.B. laut anliegendem Münchener Kommentar, Rn. 388/§ 242 BGB, als Einwendung von Amts wegen zu berücksichtigen sei. Gegen den Beschluss vom 02.01.2019, Az.: S 7 AS 655/18 ER, mit dem die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ohne Anspruch auf Erstattung von außergerichtlichen Kosten abgelehnt worden sei, sei kein Rechtsmittel eingelegt worden. Nach der Kostenfestsetzung mit dem erst jetzt angefochtenen Beschluss vom 07.02.2019 sei die Akte am 08.04.2019 weggelegt worden, wobei die Bestätigung der Erledigung der von Amts wegen vorzunehmenden Tätigkeiten, zum Beispiel der kostenrechtliche Abschluss der Angelegenheit im Sinne auch von § 3 Abs. 5 KostVfg, regelmäßig Gegenstand des Weglegevermerks sei, § 10 Akt0-SG. Wenn dem Erinnerungsgegner in einschlägigen Fällen stereotyp die Verwirkung seines Erinnerungsrechts nach Ablauf von einem Jahr vorgehalten werde, entspreche es nur Recht und Billigkeit sowie dem Gleichbehandlungsgrundsatz, wenn Anspruchsinhaber nach Ablauf von drei Monaten laut Gerold/Schmidt auf die Verwirkung ihres Erinnerungsrechts hinzuweisen seien. Die Erinnerung vom 09.01.2020 sei daher zurückzuweisen.
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Hierauf erwiderte die Erinnerungsführerin mit Schriftsatz vom 03.02.2020.
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Es sei richtig, dass die Erinnerung gegen den Festsetzungsbeschluss wegen Rechtsanwaltsvergütung vom 07.02.2019 zum Verfahren S 7 AS 655/18 ER erst am 09.01.2020 eingelegt worden sei. Hintergrund hierfür sei gewesen, dass Parallel-Verfahren bzw. entsprechende Klageverfahren noch nicht vollständig abgeschlossen seien bzw. gewesen seien. In dem Parallel-Verfahren Az. S 7 AS 656/18 ER sei gegen den Festsetzungsbeschluss wegen Rechtsanwaltsvergütung vom 07.02.2019 mit Schriftsatz vom 19.03.2019 Erinnerung eingelegt worden (AZ: S 4 SF 28/19 E). Über diese Erinnerung sei bis zum heutigen Tag keine Entscheidung ergangen. Mit Schriftsatz vom 18.11.2019 sei die Festsetzung der PKH-Vergütung für die zweite Instanz in diesem Parallel-Verfahren vor dem LSG (AZ. L 15 AS 115/19 B ER) beantragt worden. Die Festsetzung sei, jedoch nicht wie beantragt, am 03.12.2019 erfolgt. Der Zahlungseingang habe auf dem u. g. Konto am 11.12.2019 verbucht werden können. Erinnerung sei hier bislang nicht eingelegt worden. Das LSG habe dem Beschwerdeführer die Prozesskostenhilfe wegen der Komplexität der Sach- und Rechtslage gewährt, was aber seitens der Urkundsbeamtin unberücksichtigt geblieben sei. Entsprechend den vorgenannten Einstweiligen Rechtsschutzverfahren sei auch jeweils Klage eingereicht worden. Der Kostenfestsetzungsantrag für beide Verfahren AZ. S 16 AS 287/19 (betrifft S 7 AS 655/18 ER) sowie AZ. S 16 AS 288/19 (betrifft S 7 AS 656/18 ER) sei am 19.12.2019 erfolgt. Die Kosten seien, wie beantragt, am 09.01.2020 überwiesen worden. Nachdem keinem der Anträge auf Kostenfestsetzung im Einstweiligen Rechtsschutz gefolgt worden sei, war unklar, ob und mit ggf. welcher Begründung die Kosten in den Klageverfahren zu- bzw. abgesprochen wären. Die Entscheidung hierüber sollte abgewartet werden. Nach dem festgestellten Zahlungseingang sei sodann unmittelbar die streitgegenständliche Erinnerung eingelegt worden. Gleichfalls sei angedacht gewesen, auch die Entscheidung über die Erinnerung im Parallel-Verfahren (S 4 SF 28/19 E) abzuwarten. Die Erinnerungsführerin habe ihr weiteres Vorgehen von der gerichtlichen Entscheidung abhängig machen wollen. Aufgrund der langen Verfahrensdauer und nachdem die Erinnerungsführerin nach Sachstandsanfrage mit Schriftsatz des Gerichts vom 03.07.2019 darauf hingewiesen worden sie, dass die Vorgänge nach Eingang bearbeitet werden, sei von einer weiteren Anfrage abgesehen und Erinnerung eingereicht worden. Bei Berücksichtigung dessen, dass in der Verwirkung neben dem Zeitmoment auch ein Umstandsmoment enthalten sein müsse, sehe die Erinnerungsführerin aufgrund der vorgenannten Ausführungen keine einschlägigen Gründe wonach die Verwirkung greifen könne. Wie dargelegt, habe sich von Seite der Erinnerungsführerin her, die Kostenfrage noch nicht erledigt gehabt.
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Mit Schreiben vom 05.02.2020 nahm der Erinnerungsgegner nochmals Stellung.
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Dem Erinnerungsgegner erschließe sich nicht, welche Bedeutung Entscheidungen in einem Erinnerungsverfahren nach § 56 RVG (anhängig unter dem AZ. S 4 SF 28/19 E) oder Aussagen in der Rechtsmittelinstanz, beides angelegentlich einer ER-Streitsache über Darlehen für Mietschulden (S 7 AS 656/18 ER), in der die Erinnerungsführerin selbst erstinstanzlich eine Verfahrensgebühr von 420,-EUR beantragt hat, für die Frage haben könnten, ob man gegen eine Kostenfestsetzung der zuständigen Urkundsbeamtin in einer ER-Streitsache über die aufschiebende Wirkung von Sanktionsbescheiden, für die die Erinnerungsführerin selbst („nur“) eine Verfahrensgebühr von 375,- EUR beantragt hat, rechtzeitig innerhalb von 3 Monaten Erinnerung nach § 56 RVG einlegt oder nicht. Es handele sich um völlig verschiedene Streitgegenstände. Auch Kostenrichter würden in der Regel nur Streitgegenständliches entscheiden und würden sich nur selten zu einem obiter dictum hinreißen lassen. Dass eine im Juli 2019 beantwortete Sachstandsanfrage bei S 4 SF 28/19 E dazu geführt haben soll, dass am 09.01.2020 bei S 7 AS 655/18 ER nun auch Erinnerung nach § 56 RVG eingelegt wurde, entbehre nicht nur des Kausalnexus. Die Klageverfahren, insbesondere das zu den Sanktionsbescheiden, würden überhaupt keine Rolle spielen. Der Kostensenat des BayLSG habe mit Beschluss vom 21.06.2016, Az.: L 15 SF 39/14 E, entschieden, dass ER-Verfahren noch nicht einmal denselben Gegenstand im Sinne der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV-RVG darstellen wie die dazugehörige Klagen, weil ihr Gegenstand mit einem abweichenden Prüfprogramm nicht die inhaltliche Prüfung eines VA, sondern dessen Durchsetzbarkeit im weiteren Sinn bzw. die rechtliche Wirkung des Widerspruchs ist. Letztlich sei dem Erinnerungsgegner nicht erinnerlich, dass ihm vom Kostensenat des BayLSG schon jemals ein „Umstandsmoment“ zugesprochen wurde - bis dato reiche es, dass schon ein Jahr vergangen ist, damit er vergebens eine völlig unstreitige Unrichtigkeit auch haushaltswirksam zu korrigieren versucht. In entsprechender Anwendung der übersandten Fundstelle aus einem nicht ganz unbedeutendem Kommentar wäre es also nur recht und billig, dass schlicht und einfach der Ablauf von 3 Monaten zur Verwirkung des Erinnerungsrechts nach § 56 RVG geführt habe.
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Hierauf nahm die Erinnerungsführerin mit Schriftsatz vom 12.02.2020 letztmals Stellung.
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Es werde daran festgehalten, dass keine Verwirkung vorliege. Auf die auszugsweise Entscheidung des BGH vom 23.01.2014, AZ: VII ZR 177/13 werde verwiesen. lm Beschluss des LSG Jena vom 24.07.2019, AZ: L 1 SF 389/18 B sei zur Verwirkung des Erinnerungsrechts der Staatskasse beispielsweise auch ausgeführt worden, dass eine Gesamtschau von Zeit- und Umstandsmoment vorzunehmen sei. Zum Zeitmoment sei vorgebracht worden, dass dieses deshalb nicht gegeben sei, „weil die Staatskasse als Beschwerdegegner nach der Kostenfestsetzung durch die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle am 22. Januar 2015 am 26. Februar 2016 Erinnerung eingelegt hat. Damit war noch nicht einmal die im Sozialrecht allgemein geltende Verjährungsfrist von 4 Jahren (vgl. 5 45 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch < SGB I>) abgelaufen.“ Hinsichtlich des Umstandsmoments sei auch zu Gunsten der Staatskasse ausgeführt worden. Auch nach dem 3. Leitsatz des Beschlusses des OLG Düsseldorf vom 14.03.20147, Az. 10 W 36-37/17 müsse für eine Verwirkung des Erinnerungsrechts nach § 56 RVG neben dem Zeitmoment das sogenannte Umstandsmoment vorliegen. Das OLG Koblenz, Beschluss vom 08.03.2016 - 14 W 102/16 habe zur Verwirkung bei einem Kostenfestsetzungsanspruch ebenfalls entschieden, dass neben dem Zeitmoment auch das Umstandsmoment Voraussetzung für eine Verwirkung sei. Demgemäß könne für die Prüfung der Verwirkung das Umstandsmoment nicht außen vor bleiben. Und dieses liege, wie im letzten Schriftsatz dargestellt, nicht vor. Gehe man mit der Entscheidung des LSG Jena, wäre bereits das Zeitmoment nicht erfüllt.
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II. Die Erinnerung ist unzulässig.
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Strittig ist die Höhe der zu erstattenden Vergütung durch den Erinnerungsgegner, insbesondere im Hinblick auf die Höhe der Verfahrensgebühr.
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1. Die Erinnerung der Erinnerungsführerin war nicht verfristet.
31
Die Einlegung der Erinnerung gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss gemäß § 56 Abs. 2 RVG ist an keine Frist gebunden (vgl. OLG Naumburg RPfl. 2012, 156; Riedel/ Sußbauer/Schmahl RVG 9. Aufl. § 56 Rz. 5; Gerold/Schmidt/Müller-Raabe RVG, 21. Aufl. § 56 Rz. 7). Dies folgt schon daraus, dass § 56 Abs. 2 RVG für das Erinnerungsverfahren im Gegensatz zum Beschwerdeverfahren nicht auf § 33 Abs. 3 RVG, sondern lediglich auf § 33 Abs. 7 RVG verweist. Damit hat der Gesetzgeber mit dem Justizkommunikationsgesetz vom 22.03.2005 klargestellt, dass eine Erinnerung nicht an eine Frist gebunden ist (vgl. OLG Brandenburg JurBüro 2010, 308, vgl. Hartmann KostG 43. Aufl. § 56 RVG Rz. 6). Vielmehr ist die Erinnerung selbst dann noch zulässig, wenn wie hier, die festgesetzte Vergütung bereits ausgezahlt ist (vgl. OLG Thüringen JurBüro 2006 366; Landesarbeitsgericht München vom 23.12.2013 - 1 Ta 246/12).
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2. Die Erinnerung der Erinnerungsführerin war verwirkt.
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a. Das BayLSG hat in seinem Grundsatzbeschluss vom 04.10.2012 -Az.: L 15 SF 131/11 B E und im Beschluss vom 29.11.2016 - Az.: L 15 SF 97/16 E entschieden, dass spätes-tens nach einem Jahr nach dem Wirksamwerden der Kostenfestsetzungsentscheidung das Erinnerungsrecht der Staatskasse verwirkt ist, sofern nicht besonders missbilligenswerte Umstände in der Sphäre des Anwalts vorliegen.
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b. Ein Rechtsanwalt kann gegen die Kostenfestsetzungsentscheidung der Vergütung nach §§ 45 ff. RVG nach Ablauf von drei Monaten nach Zustellung des Beschlusses in der Regel keine Erinnerung mehr einlegen.
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Die Kammer kommt zu diesem Ergebnis unter Beachtung der allgemeinen Ausführungen des BayLSG (vgl. unten c.) und der konkreten Überlegungen zur zeitlichen Schwelle der Verwirkung des Erinnerungsrechts des Rechtsanwalts (vgl. unten d).
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c. Das BayLSG hat in seinem Grundsatzbeschluss vom 04.10.2012 -Az.: L 15 SF 131/11 B E zur Rechtsnatur der Erinnerung, zum verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzprinzip und zum Rechtsinstitut der Verwirkung unter den Randnummern 19 ff folgendes ausgeführt:
„Die Erinnerung verkörpert kein Rechtsmittel im eigentlichen Sinn, da sie keine Devolutivwirkung entfaltet; denn sie „transportiert“ eine Streitsache nicht in eine höhere Instanz (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 70. Auflage 2012, § 573 Rn. 1). Jedoch ähnelt sie einem Rechtsmittel frappierend. Denn sie hat im Wesentlichen die gleichen Sachurteilsvoraussetzungen wie Rechtsmittel und über sie wird mit gleichen Tenorierungen entschieden. Ihr kommt auch eine dem Devolutiveffekt immerhin vergleichbare Wirkung zu, indem sie Entscheidungen in Nebenverfahren von der Ebene des Urkundsbeamten auf die Ebene des Richters „befördert“ (vgl. die Legaldefinition in § 573 Abs. 1 Satz 1 ZPO: Antrag auf Entscheidung des Gerichts). Zumeist räumt das Gesetz Erinnerungsrechte nur fristgebunden ein, wobei die Erinnerungsfristen zumeist sehr kurz sind. Die hier streitige Erinnerung gegen eine Kostenfestsetzungsentscheidung des Urkundsbeamten, deren Statthaftigkeit auf § 56 Abs. 1 Satz 1 RVG beruht, ist ausnahmsweise keiner gesetzlichen Frist unterworfen… Gleichwohl darf zumindest das Erinnerungsrecht der Staatskasse nicht „bis in alle Ewigkeit“ bestehen. Das gebietet das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip. Wie der Senat jüngst im Beschluss vom 12.09.2012 - L 15 SF 327/10 B E ausgeführt hat, verlangt der Vertrauensschutzgrundsatz, dass Entscheidungen von Behörden und Gerichten innerhalb angemessener Zeit bestandskräftig bzw. rechtskräftig werden können, und dass diejenigen Entscheidungen, die bestandskräftig bzw. rechtskräftig geworden sind, grundsätzlich nicht mehr abgeändert werden; dabei hat letztlich eine Abwägung gegen das Prinzip der materiellen Richtigkeit zu erfolgen. Der Vertrauensschutzgrundsatz greift in vollem Umfang auch im vorliegenden Fall. Der Beschwerdeführer als beigeordneter Rechtsanwalt befindet sich nicht in einer Rechtsstellung im Verhältnis zum Freistaat Bayern, für die verfassungsrechtliche Gewährleistungen von vornherein zum Teil außer Kraft gesetzt oder gelockert wären.
Es liegt kein „Innenverhältnis“ vor, das in die Nähe eines so genannten besonderen Gewaltverhältnisses rücken könnte. Unabhängig davon ist für besondere Gewaltverhältnisse inzwischen nahezu einhellig anerkannt, dass die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen nicht suspendiert sind, sondern allenfalls Grundrechtseinschränkungen eher gerechtfertigt sein können. Der Senat hegt vor diesem Hintergrund keine Zweifel, dass die Erinnerung durch die Staatskasse nicht zeitlich unbeschränkt möglich ist. Die Frage ist nur, wann man eine zeitliche Zäsur setzen will… Die verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten lassen sich durch das Rechtsinstitut der Verwirkung realisieren. Die Verwirkung verkörpert einen Tatbestand, der ein einmal entstandenes Recht nachträglich entfallen lässt, also eine rechtsvernichtende Einwendung. Sie basiert auf dem Grundsatz von Treu und Glauben, der auch außerhalb des Zivilrechts und auch im Prozessrecht Anwendung findet (vgl. BGHZ 43, 289 <292>). Die Verwirkung eines Rechts trägt ein Umstands- und ein Zeitmoment in sich (vgl. BGH, a.a.O.). Diese beiden Komponenten stehen sich nicht im Sinn autarker, kumulativer Tatbestandsvoraussetzungen gegenüber. Sie weisen vielmehr zahlreiche Interdependenzen auf und beeinflussen sich gegenseitig. Das führt dazu, dass die Frage der Verwirkung letztlich im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu beantworten ist. Im Ergebnis kann eine Verwirkung nur dann eintreten, wenn aus Sicht des vernünftigen, „billig und gerecht“ denkenden Menschen die Rechtsausübung unangemessen erscheint. Das führt nach Ansicht des Senats dazu, dass gesetzlich normierte Rechtsbehelfsfristen nicht ohne weiteres übertragen und mehr oder weniger automatisch als Schwelle der Verwirkung behandelt werden dürfen. Da im Fall der Verwirkung die Rechtsausübung dem allgemeinen Gerechtigkeitsgefühl zuwiderlaufen muss, muss in Bezug auf einen Rechtsbehelf die „Verwirkungsfrist“ prinzipiell - wobei es aber immer auf den Einzelfall ankommt - länger sein als vergleichbare, ausdrücklich normierte Rechtsbehelfsfristen. Im vorliegenden Fall werden die materiellen Voraussetzungen für eine Verwirkung, wie man sie aus dem Privatrecht kennt, durch den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz maßgeblich determiniert und modifiziert. Denn das verfassungsrechtliche Gebot, staatliche Entscheidungen relativ rasch in Bestandskraft bzw. Rechtskraft erwachsen zu lassen, lässt die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Rechtsausübung - hier die Einlegung der Erinnerung - unzulässig ist, in anderem Licht erscheinen.“
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Die Kammer schließt sich diesen allgemeinen Ausführungen des BayLSG zur Rechtsnatur der Erinnerung, zum verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzprinzip und zum Rechtsinstitut der Verwirkung in vollem Umfang an.
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d. Die zeitlichen Schwellen der Verwirkung des Erinnerungsrechts des Rechtsanwalts ist drei Monate nach dem Wirksamwerden der Kostenfestsetzungsentscheidung erreicht. Die Kammer kommt zu diesem Ergebnis aufgrund folgender Erwägungen:
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aa. Die wichtigsten Erinnerungsrechte, welche die deutsche Rechtsordnung kennt, sind befristet, wobei die Fristen zum Teil außerordentlich kurz sind. Insbesondere ist gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss über die zu erstattenden außergerichtlichen Kosten nach § 197 Abs. 1 SGG für die Anrufung des Gerichts nach § 197 Abs. 2 SGG die kurze Monatsfrist vorgesehen.
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Es erschiene widersprüchlich, möglicherweise - aufgrund einer Quotelung der außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach - in derselben zugrundeliegenden Hauptsachestreitigkeit für die Anrufung des Gerichts nach 197 Abs. 2 SGG gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss über die zu erstattenden außergerichtlichen Kosten nach § 197 Abs. 1 SGG äußerste Strenge walten zu lassen, aber für die Anrufung des Gerichts nach § 56 RVG gegen die Festsetzung der zu erstattenden Vergütung nach § 55 RVG äußerste Großzügigkeit an den Tag zu legen.
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bb. Für ein nur vergleichsweise kurzes Erinnerungsrecht spricht der Umstand, dass die Beschwerde als Rechtsmittel gegen die Entscheidung über die Erinnerung ihrerseits sehr kurz befristet ist; beide Seiten müssen eine Zweiwochenfrist einhalten (vgl. § 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 3 RVG).
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Es erschiene widersprüchlich, für letztlich ein und dieselbe Angelegenheit auf der ersten Anfechtungsstufe äußerste Großzügigkeit, auf der zweiten dagegen äußerste Strenge walten zu lassen.
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cc. Die Kammer schließt sich den Beschlüssen des OLG Koblenz vom 24.09.1998 - Az.: 11 WF 1034/98 und vom 30.7.1998 - Az.: 11 WF 735/98 an, dass einer Erinnerung gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss nach einem Ablauf von 3 Monaten in der Regel der Einwand der Rechtssicherheit entgegensteht. Insoweit wird die analoge Anwendung von
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§ 20 GKG befürwortet, der das Nachforderungsrecht der Landeskasse regelt.
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e. Die Festsetzung der Prozesskostenhilfe durch die Urkundsbeamte der Geschäftsstelle erfolgte am 07.02.2019, wobei der Beschluss ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 11.02.2019 durch die Erinnerungsführerin im Empfang genommen wurde.
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Die Erinnerung der Erinnerungsführerin vom 07.01.2020, ging ausweislich des Transfervermerken am 09.01.2020 bei dem Sozialgericht Landshut ist.
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Damit ist vorliegend Verwirkung hinsichtlich des in Rede stehenden Zeitlaufs eingetreten.
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f. Die Kammer weist im Hinblick auf die zeitliche Schwelle der Verwirkung des Erinnerungsrechts des Staates nach § 56 RVG folgendes hin:
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Das BayLSG hat in seinem Grundsatzbeschluss vom 04.10.2012 -Az.: L 15 SF 131/11 B E und im Beschluss vom 29.11.2016 - Az.: L 15 SF 97/16 E zwar entschieden, dass spätestens nach einem Jahr nach dem Wirksamwerden der Kostenfestsetzungsentscheidung das Erinnerungsrecht der Staatskasse verwirkt ist, aber in den oben genannten Entscheidungen hat das BayLSG es bisher offen gelassen, ob und unter welchen Voraussetzungen die zeitliche Schwelle der Verwirkung möglicherweise schon wesentlich früher erreicht sein kann.
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Als Grund für die Unterscheidung zwischen den Zeiträumen der Verwirkung des Erinnerungsrechts der Staatskasse und des Rechtsanwalts sowie der Gewährung einer längeren Frist für die Einlegung Staatskasse wird angeführt, dass dem Bezirksrevisor die Akten oft erst längere Zeit nach Abschluss des Verfahrens zugeleitet würden. Dem beigeordneten Rechtsanwalt werde dagegen der Kostenfestsetzungsbeschluss unmittelbar zugestellt.
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Die Kammer hält diese Argumentation für nicht nachvollziehbar insbesondere entspricht sie nicht mehr dem Stand der Technik. In der Folge könnte die Differenzierung zwischen den Zeiträumen der Verwirkung des Erinnerungsrechts nicht aufrechterhalten bleiben und es wäre zu überlegen, ob es sowohl der Staatskasse als auch dem Rechtsanwalt zumutbar ist, innerhalb einer Frist von 3 Monaten zu überlegen, ob Erinnerung nach § 56 RVG einlegt wird.
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3. Die Kammer hat die Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 2 RVG zugelassen, da die Verwirkung des Erinnerungsrechts des Rechtsanwaltes nach § 56 Abs. 1 RVG bisher nicht obergerichtlich durch das BayLSG geklärt ist.