Titel:
Verweisung nach Umschulung im Rahmen der Nachprüfung
Normenketten:
VVG § 172, § 174
BU § 2 (1)
Leitsatz:
Der Versicherer darf einen Versicherungsnehmer ohne ausdrückliche vertragliche Regelung nicht auf eine neue berufliche Tätigkeit verweisen, wenn dieser die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten erst durch eine Umschulung erworben hat. (Rn. 16 – 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Berufsunfähigkeitsversicherung, Nachprüfung, Verweisung, neue Kenntnisse, Umschulung, Obliegenheit
Rechtsmittelinstanzen:
OLG Nürnberg, Endurteil vom 07.11.2022 – 8 U 2115/20
BGH Karlsruhe, Urteil vom 28.06.2023 – IV ZR 397/22
Fundstelle:
BeckRS 2020, 60896
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger aus dem Versicherungsvertrag … monatlich im Voraus 767,00 EUR Berufsunfähigkeitsrente ab dem 01.10.2018 bis längstens zum Vertragsende am 31.10.2043 zu bezahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger aus dem Versicherungsvertrag … monatlich im Voraus die sich aus dem Vertrag errechnende Überschussbeteiligung ab dem 01.10.2018 bis längstens zum Vertragsende am 31.10.2043 zu bezahlen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger aus dem Versicherungsvertrag … einen rückständigen Rentenbetrag in Höhe von 12.881,60 EUR für die Zeit vom 01.06.2017 bis zum 30.09.2018 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 09.04.2018 zu bezahlen.
4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger die sich aus dem Versicherungsvertrag … für die Zeit vom 01.06.2017 bis zum 30.09.2018 zu errechnende Überschussbeteiligung zu bezahlen.
5. Die Beklagten wird verurteilt, an den Kläger die sich aus dem Versicherungsvertrag … für die Zeit vom 01.06.2017 bis zum 30.09.2018 gezahlten Beiträge in Höhe von 504,80 EUR zurückzubezahlen.
6. Es wird festgestellt, dass der Kläger ab dem 01.10.2018 von der Verpflichtung zur Beitragszahlung des Vertrags … während der Dauer der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit, längstens bis zum 31.10.2043 in voller Höhe freigeworden ist.
7. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger den nach dem RVG nicht anrechenbaren Teil der außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten des Klägers in Höhe von 923,38 EUR zu bezahlen.
8. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
9. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 46.050,88 € festgesetzt.
Tatbestand
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Die Parteien streiten um Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung.
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Mit Beginn 01.11.2001 bestand zwischen den Parteien unter der Versicherungsscheinnummer … ein Vertrag über eine selbständige Berufsunfähigkeitsversicherung, in dem eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 767,00 EUR vereinbart war. Seit dem 01.09.2008 war der Kläger nicht mehr dazu in der Lage, seine damals ausgeübte Tätigkeit als … auszuüben. Die Beklagte erkannte mit Schreiben vom 01.04.2010 rückwirkend zum 01.09.2008 die Verpflichtung zur Leistung an. Im Nachgang zu mehreren Nachprüfungen der Berufsunfähigkeit des Klägers teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 18.12.2013 und vom 14.06.2016 mit, dass im bisherigen Umfang Leistungspflicht bestehe. Nach einer erneuten Überprüfung der Leistungspflicht erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 11.04.2017, die Leistungen ab dem 01.06.2017 einzustellen. Der Kläger ist nach erfolgter Weiterbildung und Umschulung als … tätig. In ihrem Schreiben teilte die Beklagte dem Kläger u.a. Folgendes mit: „Im Rahmen der Überprüfung des aktuell vorliegenden Grades der Berufsunfähigkeit haben Sie uns darüber informiert, dass Sie, nach erfolgreicher Umschulungsmaßnahme die Tätigkeit als angestellter … an 37,5 Std. an 5 Tagen pro Woche ausüben. (…) Damit ist Ihnen die Ausübung der Teiltätigkeiten als … in vollem Umfang zuzumuten. Die Zumutbarkeit wird auch dadurch belegt, dass Sie dem Beruf des … auch faktisch nachgehen. Ein bedingungsgemäßer Grad der Berufsunfähigkeit von mindestens 50 % wird deshalb spätestens seit Aufnahme Ihrer beruflichen Tätigkeit im Januar 2017 nicht mehr erreicht. Auch bleibt aufgrund des nun höher erzielenden Einkommens Ihre Lebensstellung gewahrt. Die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit ist damit wieder entfallen.“ Auf die Anlage K8 wird Bezug genommen. Die dem Versicherungsvertrag zugrundeliegenden „Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die selbständige Berufsunfähigkeitsvorsorge: Beitragsübernahme und Berufsunfähigkeitsrente …“ enthalten u.a. folgende Klauseln: § 2 (1) Vollständige Berufsunfhähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens 3 Jahre außerstande sein wird, ihren Beruf (bei Selbständigen auch nach einer zumutbaren Umorganisation des Betriebes) auszuüben und sie auch keine andere Tätigkeit ausübt, die ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht.“ Die Klagepartei forderte die Beklagte mit Schreiben vom 22.03.2018 zur Leistung auf, was die Beklagte mit Schreiben vom 16.04.2018 ablehnte.
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Der Kläger trägt vor, dass der Beklagten aus den durchgeführten Nachprüfungsverfahren bekannt gewesen sei, dass er den Beruf … ausübe.
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Der Kläger ist der Meinung, dass die Beklagte aufgrund Anerkenntnis gem. § 174 VVG zur Leistung verpflichtet sei. Eine Verweisung des Klägers auf den aktuell ausgeübten Beruf komme nicht in Betracht, da dies der Beklagten zu einen bereits in den vorangegangenen Nachprüfungsverfahren bekannt gewesen und eine Verweisung nicht ausgesprochen worden sei und zum anderen die Versicherungsbedingungen eine Berücksichtigung neuer Fähigkeiten nicht vorsehen würden und damit eine Verweisung auf einen Beruf, der nur nach erfolgter Umschulung ausgeübt werden könne, nicht möglich sei.
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Der Kläger beantragt daher zuletzt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger aus dem Versicherungsvertrag … monatlich im Voraus 767,00 EUR Berufsunfähigkeitsrente ab dem 01.10.2018 bis längstens zum Vertragsende am 31.10.2043 zu bezahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger aus dem Versicherungsvertrag … monatlich im Voraus die sich aus dem Vertrag errechnende Überschussbeteiligung ab dem 01.10.20118 bis längstens zum Vertragsende am 31.10.2043 zu bezahlen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger aus dem Versicherungsvertrag … einen rückständigen Rentenbetrag in Höhe von 12.881,60 EUR für die Zeit vom 01.06.2017 bis zum 30.09.2018 nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 09.04.2018 zu bezahlen.
4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger die sich aus dem Versicherungsvertrag … für die Zeit vom 01.06.2017 bis zum 30.09.2018 zu errechnende Überschussbeteiligung zu bezahlen.
5. Die Beklagten wird verurteilt, an den Kläger die sich aus dem Versicherungsvertrag … für die Zeit vom 01.06.2017 bis zum 30.09.2018 gezahlten Beiträge in Höhe von 504,80 EUR zurückzubezahlen.
6. Es wird festgestellt, dass der Kläger ab dem 01.10.2018 von der Verpflichtung zur Beitragszahlung des Vertrags … während der Dauer der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit, längstens bis zum 31.10.2043 in voller Höhe freigeworden ist.
7. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger den nach dem RVG nicht anrechenbaren Teil der außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten des Klägers in Höhe von 923,38 EUR zu bezahlen.
6
Die Beklagte beantragt zuletzt
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Die Beklagte trägt vor, dass ihr die neue berufliche Tätigkeit nicht bekannt gewesen sei. Es sei lediglich einmal mitgeteilt worden, dass der Kläger eine Umschulung durchführe. In seinem ursprünglichen Beruf als … würde der Kläger nun 3.400,00 EUR verdienen, bei seiner aktuellen Tätigkeit seit Juni 2017 sogar 3.600,00 EUR.
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Die Beklagte meint, dass ihre Einstellungsmitteilung alles Notwendige in Textform enthalte, besondere Anforderungen seien nicht an diese zu stellen. Der Kläger sei in der Lage, zu mindestens 50 % seinen derzeitigen Beruf als … auszuüben und müsse sich daher auf diesen verweisen lassen. Bei Abgabe des Anerkenntnisses im Jahr 2010 habe der Kläger keinen Beruf ausgeübt und eine Verweisungsmöglichkeit habe nicht bestanden. Die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit entspreche seiner bisherigen Lebensstellung, da der Kläger nun sogar mehr verdiene. Die Versicherungsbedingungen würden nur auf die bisherige Lebensstellung und nicht auf Kenntnisse und Fähigkeiten abstellen, weshalb die Verweisung auf den jetzt vom Kläger nach Umschulung ausgeübten Beruf zulässig sei.
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Das Gericht hat am 25.05.2020 eine mündliche Verhandlung durchgeführt.
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Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und vollumfänglich begründet.
12
Die Klage ist zulässig, das Landgericht Regensburg ist gem. §§ 1, 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG sachlich und gem. § 215 VVG i.V.m. §§ 12, 13 ZPO örtlich zuständig.
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Die Klage ist auch begründet, dem Kläger stehen die Ansprüche wie tenoriert aus dem zwischen den Parteien geschlossenen Versicherungsvertrag mit der Nr. … zu.
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1. Unstreitig ist der Kläger zu mehr als 50 % nicht dazu in der Lage, den von ihm bei Eintritt der Berufsunfähigkeit im Jahr 2008 ausgeübten Beruf als … auszuüben. Die Klägerin ist daher zur Erbringung der vertraglich vereinbarten Leistungen verpflichtet. Diese Leistungspflicht der Beklagten ist auch nicht dadurch entfallen, dass die Beklagte dem Kläger mitgeteilt hat, dass dieser den Beruf des … zu mehr als 50 % ausüben könne und diese Tätigkeit seiner bisherigen Lebensstellung entspreche.
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2. Der Kläger ist unstreitig nur aufgrund einer Umschulung, also nach Eintritt der Berufsunfähigkeit erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten, dazu in der Lage, den Beruf des … auszuüben.
16
Die dem Vertrag zugrundeliegenden Versicherungsbedingungen enthalten keine explizite Regelung dazu, ob bei einer Verweisung auf eine andere Tätigkeit auch neu erworbene Fähigkeiten und Kenntnisse zu berücksichtigen sind oder nicht. Solche neu erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse sind mangels vertraglicher Regelung zwischen den Parteien mithin nach Auffassung der Kammer nicht bei der Verweisung auf einen anderen Beruf zu berücksichtigen. Der Kläger wäre nicht verpflichtet gewesen, sich einer Umschulungsmaßnahme zu unterziehen und einen neuen Beruf zu erlernen, vgl. BGH VersR 1987, 753; 1990, 885; 1997, 436; LG Hannover VersR 1992, 303. Dies muss dann aber auch bedeuten, dass diese überobligatorisch erlangten Kenntnisse und Fähigkeiten nicht eine Leistungseinstellung rechtfertigen. Anders wäre es nur, wenn sich der Versicherer dies in den vertraglichen Vereinbarungen vorbehalten hätte. Das Gericht schließt sich der in der Entscheidung des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 14.12.2017, 2 O 3404/16, r+s 2018, 209 ff, niedergelegten Rechtsauffassung an.
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Das von der Beklagten angeführte Argument, dass die Versicherungsbedingungen überhaupt keinen Bezug auf Kenntnisse und Fähigkeiten nehme, sondern bloß auf die bisherige Lebensstellung des Versicherten, verfängt nicht. Wenn die Kenntnisse und Fähigkeiten des Versicherten zum Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit ohne Belang wären und es nur auf eine Wahrung der Lebensstellung ankäme, dann wäre es dem Versicherer unbenommen, den Versicherten auf jedweden Beruf zu verweisen, der dem sozialen und finanziellen Status des bisherigen Berufs entspricht oder diesen sogar übersteigt, was einer Verpflichtung zur Umschulung oder Weiterbildung gleichkäme. Damit hätte die Beklagten den Kläger sogleich auf eine Tätigkeit als … verweisen können. Da es also zum einen zwingend auf die Kenntnisse und Fähigkeiten des Versicherten zum Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit ankommt bei der Frage nach einer Verweisungsmöglichkeit und es zum andere nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung keine Verpflichtung des Versicherten zu einer Umschulung/Weiterbildung gibt, hätte die Parteien des Versicherungsvertrags eine entsprechende Regelung für neu erworbene Fähigkeiten und Kenntnisse vereinbaren müssen, wenn diese Berücksichtigung finden sollen.
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Ob der Beklagten damit bereits vor dem zuletzt durchgeführten Nachprüfungsverfahren die aktuelle berufliche Tätigkeit bekannt war oder nicht ist damit für die Entscheidung unerheblich, ebenso ob der nun ausgeübte Beruf der bisherigen Lebensstellung entspricht und ob die Einstellungsmitteilung eine hinreichende Begründung enthielt.
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3. Damit war der Klage vollumfassend stattzugeben wie tenoriert. Der Kläger hat dabei auch gem. § 280 Abs. 1 BGB Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten, da in der unberechtigten Einstellung der Leistungen eine Verletzung der vertraglichen Verpflichtungen der Beklagten aus § 280 Abs. 1 S. 2 BGB besteht, die einen Schadensersatzanspruch auslöst.
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Der Anspruch auf Zahlung von Zinsen folgt aus §§ 286 Abs. 1 S. 2, 288 Abs. 1 BGB.
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4. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 91 ZPO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 ZPO.
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Die Streitwertfestsetzung gründet sich auf § 3 ZPO.