Titel:
Bescheid, Behinderung, Merkzeichen, Krankheit, GdB, Berufung, Widerspruchsbescheid, Kindergeld, Gerichtsbescheid, Widerspruch, Feststellung, Vergabe, Gutachten, Attest, psychiatrische Behandlung, Grad der Behinderung, depressive Episode
Schlagworte:
Bescheid, Behinderung, Merkzeichen, Krankheit, GdB, Berufung, Widerspruchsbescheid, Kindergeld, Gerichtsbescheid, Widerspruch, Feststellung, Vergabe, Gutachten, Attest, psychiatrische Behandlung, Grad der Behinderung, depressive Episode
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Urteil vom 13.10.2021 – L 3 SB 65/20
BSG Kassel, Beschluss vom 25.08.2022 – B 9 SB 4/22 B
Fundstelle:
BeckRS 2020, 60863
Tenor
I. Die Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 14.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2017 und gegen den Bescheid vom 12.04.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.08.2018 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt zum einen die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 für den Zeitraum vor dem 28.10.1991 (Vollendung des 27. Lebensjahres). Zum anderen begehrt er die Vergabe der Merkzeichen „RF“ und „aG“.
2
Der 1964 geborene Kläger stellte erstmals mit Formular vom 23.02.2005 einen Antrag auf Feststellung eines GdB, sowie auf Vergabe des Merkzeichen „RF“. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 08.08.2005 wurde vom Beklagten ein Gesamt-GdB von 30 zuerkannt wegen folgender Behinderung: „Seelische Krankheit“ (Einzel-GdB 30). Die Voraussetzungen für das Merkzeichen „RF“ wurden nicht als gegeben erachtet. Im Rahmen des nachfolgenden Widerspruchsverfahrens wurde ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Dr. L. eingeholt. Dieser bestätigte im Gutachten vom 16.11.2005, dass der Gesamt-GdB mit 30 (für die seelische Störung) zureichend bewertet sei und die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen nicht gegeben seien.
3
Dr. L. wies darauf hin, dass der Kläger im Rahmen der ambulanten Untersuchung bei ihm ein antriebsreduziertes, mäßig depressives Zustandsbild gezeigt habe und für rund 15 Stunden pro Woche einer beruflichen Tätigkeit als Betreuer in einem Jugendzentrum nachgehe.
4
Im Widerspruchsbescheid vom 12.01.2006 wurde der Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 08.08.2005 zurückgewiesen. Klage wurde hiergegen nicht erhoben.
5
Mit Formular vom 24.01.2008 stellte der Kläger einen Neufeststellungsantrag. Erneut wurde das Merkzeichen „RF“ beantragt. Der Neufeststellungsantrag wurde im bestandskräftigen Bescheid vom 15.04.2008 abgelehnt, weil eine wesentliche Änderung der Verhältnisse nicht eingetreten sei.
6
Im Schreiben vom 23.10.2011, eingegangen beim Beklagten am 26.10.2011, beantragte der Kläger einen höheren GdB (mindestens 80 v.H.) sowie die Merkzeichen „G“ und „RF“. Der behandelnde Neurologe und Nervenarzt Dr. E. bescheinigte dem Kläger im Bericht vom 01.11.2012 eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit selbstunsicheren, ängstlichen und vermeidenden Anteilen, die zu wiederholten depressiven Einbrüchen und einer teils ausgeprägten Antriebsstörung führen würden. Aufgrund der bestehenden psychischen Erkrankung falle es dem Kläger sehr schwer, Tätigkeiten und Aufgaben, die er sich vornehme, zu Ende zu führen. Es handle sich um eine schwerwiegende neurotische Störung mit mindestens mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Entsprechend der versorgungsärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 07.02.2012 wurde im Änderungsbescheid vom 16.02.2012 der Gesamt-GdB wegen der seelischen Erkrankung auf 50 angehoben. Merkzeichen wurden nicht zuerkannt. Der dagegen erhobene Widerspruch vom 19.02.2012 wurde im Widerspruchsbescheid vom 21.06.2012 zurückgewiesen. Hiergegen wurde eine Klage beim Sozialgericht Landshut (Az: S 2 SB 383/12) erhoben. In diesem Verfahren hat das Sozialgericht den Beklagten im Gerichtsbescheid vom 17.03.2014 dazu verpflichtet, ab 10.10.2013 einen Gesamt-GdB von 60 anzuerkennen wegen folgender Gesundheitsstörungen:
1. Seelische Krankheit (Einzel-GdB 50);
2. Migräne (Einzel-GdB 20);
3. Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule, Rundrücken, muskuläre Verspannungen (Einzel-GdB 20),
4. Bluthochdruck (Einzel-GdB 10).
7
Gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 17.03.2014 hat der Kläger Berufung eingelegt. Vor dem Berufungsgericht wurde am 10.02.2015 ein Vergleich geschlossen, der im Bescheid vom 24.02.2015 ausgeführt wurde. Danach wurde ab 26.10.2011 ein Gesamt-GdB von 70 festgestellt bei folgenden Behinderungen:
1. Seelische Krankheit (Persönlichkeitsstörung)
2. Migräne (Einzel-GdB 20);
3. Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule, Rundrücken, muskuläre Verspannungen (Einzel-GdB 20),
4. Bluthochdruck (Einzel-GdB 10).
8
Am 28.12.2016 ließ der Kläger den Antrag stellen, bei ihm bereits vor Vollendung seines 27. Lebensjahres (also vor 28.10.1991) einen Gesamt-GdB von mindestens 50 anzuerkennen. Dazu führte die Versorgungsärztin Dr. A. in ihrer Stellungnahme vom 01.06.2017 aus, dass der Kläger erst im Januar 2000 eine psychiatrische Behandlung aufgenommen habe mit entsprechender medikamentöser Behandlung. Davor habe sich der Kläger zwar in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung befunden, es gebe aber keine Berichte dazu, erst recht nicht für die Jahre bis 1991. Mangels entsprechender Nachweise könne somit für die Jahre bis 1991 kein GdB von mindestens 50 festgestellt werden.
9
Entsprechend ihrer Einschätzung hat der Beklagte im streitigen Bescheid vom 14.09.2017 die rückwirkende Feststellung eines Grades der Behinderung von mindestens 50 ab 27.10.1991 abgelehnt.
10
Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde im Widerspruchsbescheid vom 05.12.2017 zurückgewiesen.
11
Mit Formular vom 30.09.2017, eingegangen beim Beklagten am 05.10.2017, stellte der Kläger einen Antrag auf Feststellung eines GdB von mindestens 100, sowie die Anerkennung der Merkzeichen „G“ „B“ und „RF“.
12
In der Versorgungsärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage von Dr. F. wurde der Gesamt-GdB zunächst mit 80 bewertet, nach Vorlage weiterer Befunde wurde der Gesamt-GdB in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 05.04.2018 (von Dr. S.) mit 100 bewertet.
13
Entsprechend dieser Einschätzung hat der Beklagte im streitigen Bescheid vom 12.04.2018 einen Gesamt-GdB von 100 zuerkannt und die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ festgestellt. Dieser Feststellung wurden folgende Behinderungen zugrunde gelegt:
1. Herzleistungsminderung, Durchblutungsstörung des Herzens, abgelaufener Herzinfarkt, Herzwandaneurysma, Herzrhythmusstörungen, Kardioverter-Defibrillator, Bluthochdruck (Einzel-GdB 70)
2. Seelische Krankheit (Persönlichkeitsstörung)
3. Fehlen der Niere rechts (Einzel-GdB 30)
4. Migräne (Einzel-GdB 20)
5. Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule, Rundrücken, muskuläre Verspannungen (Einzel-GdB 20)
6. Refluxkrankheit der Speiseröhre, chronische Magenschleimhautentzündung (Einzel-GdB 10)
14
Das Merkzeichen „RF“ wurde abgelehnt, weil der Kläger noch eine gewisse Anzahl von öffentlichen Veranstaltungen besuchen könne.
15
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger mit Schreiben vom 22.04.2018 Widerspruch. Er könne nur noch 300 Meter gehen, sowie maximal ein Stockwerk höher gelangen (über die Treppe), deshalb sei das Merkzeichen „aG“ erforderlich. Öffentliche Veranstaltungen könne er nicht mehr besuchen, dazu sei er weder körperlich noch seelisch in der Lage. Ohne Begleitung gehe dies überhaupt nicht, deshalb seien auch die Merkzeichen „B“ und „H“ zu vergeben.
16
Im Widerspruchsbescheid vom 10.08.2018 wurde dem Widerspruch insoweit abgeholfen, als neben dem bereits zuerkannten Gesamt-GdB von 100, sowie dem Merkzeichen „G“ auch noch die Merkzeichen „B“ und „H“ vergeben wurden. Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen.
17
Gegen die Widerspruchsbescheide vom 05.12.2017 (ursprüngliches Verfahren S 15 SB 12/18) und vom 10.08.2018 (Verfahren S 15 SB 411/18) wurde Klage vor dem Sozialgericht Landshut erhoben. Die Klagen S 15 SB 12/18 und S 15 SB 411/18 wurden verbunden und unter dem Aktenzeichen S 15 SB 411/18 fortgeführt.
18
Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers, Dr. F. und Dr. I. in F-Stadt, Dr. B. in H-Stadt und der Dipl.-Psych. J. in J-Stadt beigezogen. Es liegen Behandlungs- und Entlassungsberichte des Klinikums St., E-Stadt und der B.-Klinik M. vor. Der Neurologe und Psychiater Dr. M. (M-Stadt) wurde mit der Durchführung einer ambulanten Untersuchung und Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Der Kläger erklärte im Schreiben vom 03.05.2019 gegenüber dem Gericht, dass er aufgrund einer schweren depressiven Episode nicht in der Lage sei, sich einer Exploration durch den Gutachter zu unterziehen. Er legte ein ärztliches Attest von Dr. B. vom 03.05.2019 vor. Die Psychiaterin bescheinigte ihm darin eine schwere depressive Episode, kombinierte Persönlichkeitsstörung sowie eine Angst- und depressive Störung. Es liege ein hochgradiges Antriebsdefizit, eine psychomotorische Hemmung und Angstsymptomatik vor. Eine auswärtige Begutachtung mit mehrstündiger Exploration sei daher dem Kläger aus derzeitiger Sicht nicht zumutbar. Schon die lange Anreise zum Gutachter sei vom Kläger nicht zu bewältigen.
19
Aufgrund dieser Nachweise änderte das Gericht die Beweisanordnung und beauftragte nunmehr den Gutachter Dr. M. mit einem Gutachten nach Aktenlage.
20
Im Gutachten vom 04.11.2019 führte Dr. M. auf der Basis der umfangreichen Befundlage aus, dass der Gesamt-GdB mit 100 zureichend bewertet sei und die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen „RF“ und „aG“ nicht vorlägen. Auch sei es nicht hinreichend nachweisbar, dass der GdB rückwirkend seit 1991 oder früher zumindest mit 50 einzuschätzen wäre.
21
Auf Antrag des Klägers wurde ein Gutachten vom Neurologen und Psychiater D. eingeholt (gemäß § 109 SGG). Dieser kam im Gutachten vom 28.02.2020 zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen „RF“ aus seiner Sicht vorlägen. Wegen der schwerwiegenden Herzinsuffizienz „könnten“ auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ vorliegen, für die letztendliche Beurteilung sei jedoch ein internistisch- bzw. lungenfachärztliches Gutachten erforderlich. Es sei zudem nicht hinreichend nachweisbar, dass der Kläger bereits im 27. Lebensjahr (oder vorher schon) schwerbehindert (im Sinne eines GdB von 50) gewesen sei. Ausreichende Nachweise hierfür lägen nicht vor.
den Beklagten zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 14.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2017 festzustellen, dass mindestens ab dem 27.10.1991 (vor Vollendung des 27. Lebensjahres) ein GdB von 50 vorgelegen habe.
23
Des Weiteren beantragt er,
den Beklagten zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 12.04.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.08.2018 die Voraussetzungen für die Merkzeichen „RF“ und „aG“ festzustellen.
24
Der Beklagte beantragt,
die vorgenannten Klageanträge abzuweisen.
25
Im Hinblick auf die weiteren Einzelheiten wird verwiesen auf die Akten des Beklagten, die beigezogene Akte des Sozialgerichtsverfahrens S 2 SB 383/12 und die vorliegende Streitakte mit den darin enthaltenen Gutachten von Dr. M. vom 04.11.2019 und von Dr. D. vom 28.02.2020.
Entscheidungsgründe
26
Was das Begehren betrifft, die Schwerbehinderteneigenschaft bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres festzustellen, ist die Klage zwar nach der Rechtsauffassung des Gerichts zulässig. Insbesondere konnte sich der Kläger in diesem Verfahren gemäß § 73 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von seinem Bruder A. vertreten lassen. Für ein Rechtsschutzbedürfnis reicht es aus, dass ihm die begehrte rechtliche Feststellung Vorteile bringen kann, etwa auf Erlass eines etwaigen noch nicht getilgten BAföG-Rückzahlungsanspruches des Staates oder auf Weitergewährung von Kindergeld über die Vollendung des 27. Lebensjahres hinaus.
27
Im Hinblick auf dieses Begehren ist die Klage aber nicht begründet, weil sich das Gericht nicht in hinreichender Weise davon überzeugen konnte, dass der Kläger bereits vor Vollendung seines 27. Lebensjahres am 28.10.1991 schwerbehindert war, d.h. ein Gesamt-GdB von 50 vorlag. Keiner der beauftragten Gutachter, weder Dr. M. im Gutachten vom 04.11.2019, noch Dr. D. im Gutachten vom 28.02.2020 konnte eine derartige Feststellung treffen, weil es hierfür an entsprechenden Befunden und Nachweisen mangelt. Es lässt sich auch nach medizinisch-wissenschaftlicher Erfahrung keine entsprechende zwangsläufige Kausalkette über so viele Jahrzehnte zurückverfolgen, ohne über entsprechende Befunde zu verfügen. Die Angabe im Attest von Dr. J. vom 19.03.2013, dass beim Kläger bereits seit der Kindheit eine schwerwiegende seelische Alteration vorliege, kann nur auf anamnestischen Angaben des Klägers beruhen, weil diese Ärztin den Kläger auch nicht vor 1991 behandelt hatte. Subjektive Einschätzungen des Klägers genügen nicht den Anforderungen des Vollbeweises, wobei gar nicht unterstellt wird, dass der Kläger vor Dr. J. aggraviert oder simuliert hat. Solche subjektiven Einschätzungen können auch vor dem Hintergrund eines Erklärungs- und Rechtfertigungsbedürfnisses entstanden sein. Allein die Legasthenie könnte im Übrigen auch nicht zur Annahme eines GdB von 50 führen, wenn jemand, wie der Kläger, trotz dieser Einschränkung in der Lage war, das Abitur zu erlangen. Die übrigen Defizite (Unzuverlässigkeit, Unpünktlichkeit, Messietum, etc.), die der Klägervertreter im Schriftsatz vom 13.04.2020 beschreibt, sind im Übrigen nicht zwangsläufig angeboren, sondern können sich durchaus nach allgemeiner Lebenserfahrung auch erst im Laufe eines Lebens entwickeln. Sie sind auch unspezifisch und lassen keine Rückschlüsse auf eine bereits seit der Kindheit bestehende konkrete psychische Erkrankung zu.
28
Aus diesem Grund hat der Beklagte im Bescheid vom 14.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2017 dieses Begehren zu Recht abgelehnt. Die Klage dagegen war somit abzuweisen.
29
Auch im Hinblick auf das Begehren, die Voraussetzungen für die Merkzeichen „RF“ und „aG“ zu vergeben, ist die Klage zulässig, aber nicht begründet.
30
Nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 bis Rundfunkbeitragsstaatsvertrag wird der Rundfunkbeitrag aus gesundheitlichen Gründen (Merkzeichen „RF“) auf Antrag bei folgenden Personen auf 1/3 ermäßigt:
- Blinde oder nicht nur vorübergehen wesentlich Sehbehinderte mit einem Grad der Behinderung (GdB) von wenigstens 60 allein wegen der Sehbehinderung (Nr.1),
- Hörgeschädigte, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist (Nr. 2); der GdB allein wegen der Hörbehinderung muss wenigstens 50 betragen;
- Personen, die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen grundsätzlich nicht teilnehmen können; außerdem muss der GdB mindestens 80 betragen.
31
Voraussetzung ist zusätzlich, dass auch mit Hilfe von Begleitpersonen und technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl, Inkontinenzartikel) eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht möglich ist (Nr. 3).
32
Beim Kläger liegt weder eine gravierende Sehbehinderung noch eine gravierende Höreinschränkung vor. Laut dem Gutachten von Dr. M. vom 04.11.2019 sind auch keine ausreichenden Nachweise dafür vorhanden, dass es dem Kläger faktisch unmöglich sei, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Er ist ohne Hilfsmittel geh- und stehfähig. Auch leidet er zwar unter einer schwerwiegenden psychiatrischen Komplexerkrankung, welche ihn aber grundsätzlich nicht daran hindert, ohne störend auf seine Umgebung zu wirken, an länger dauernden Gesprächen teilzunehmen, was nicht zuletzt das bei Dr. D. am 15.02.2020 erfolgte ausführliche Gespräch beweist. Auch nach den Maßstäben, die die Rechtsprechung für die Vergabe des Merkzeichens „RF“ entwickelt hat, kann im vorliegenden Fall kein Merkzeichen „RF“ vergeben werden. So ist zwar in besonderen Einzelfällen wegen psychischer Leiden die Vergabe des Merkzeichen „RF“ möglich; dies setzt aber voraus, dass die Anwesenheit fremder Menschen zur psychischen Dekompensation führt dergestalt, dass der Betreffende dann für seine Umgebung nicht zumutbare Verhaltensweisen (etwa im Form von Schreien oder Aggressivität) zeigt (vgl. BSG im Urteil vom 16.02.2012, Az. B 9 SB 2/11 R). Derartige psychische Ausfälle oder unzumutbare Verhaltensweisen für Dritte sind im Falle des Klägers nicht bekannt. Die Tatsache, dass er lieber alleine ist und seine Zeit im Wesentlichen alleine verbringt, zwingt noch nicht zu der Annahme, dass er überhaupt nicht mehr in der Lage wäre, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen, ohne psychisch zu dekompensieren.
33
Außergewöhnlich gehbehindert sind nach § 229 Abs. 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) Personen mit einer mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem GdB von mindestens 80 entspricht. Diese liegt vor, wenn sich schwerbehinderte Menschen wegen der Schwere der Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen insbesondere Menschen, die aufgrund der Beeinträchtigung der Geh- und Fortbewegungsfähigkeit - dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen - aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind. Verschiedenste Gesundheitsstörungen, u.a. auch eine schwerwiegende Herzinsuffizienz (Ruheinsuffizienz) können eine außergewöhnliche Gehbehinderung bedingen, wenn deren Auswirkung oder deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der oben genannten Beeinträchtigung gleichkommt. Bei einer Herzerkrankung ist dies nur dann der Fall, wenn bereits eine Ruheinsuffizienz vorliegt.
34
Nach dem schlüssigen und überzeugenden Gutachten von Dr. M. vom 04.11.2019 liegen diese Voraussetzungen derzeit beim Kläger nicht vor. Aus den vorliegenden Befund- und Entlassungsberichten lässt sich keine Ruheinsuffizienz des Herzens entnehmen. Nach den Ausführungen des Klägervertreters im Schreiben vom 16.02.2019 kann der Kläger noch Wegstrecken von 250 Meter zurücklegen, wenn er zwischendurch zwei- bis dreimal eine Ruhepause einlegt. Diese Situation ist keineswegs gleichzusetzen mit der Situation einer kardialen oder pulmonalen Ruheinsuffizienz oder eines Doppeloberschenkelamputierten mit Rollstuhlpflichtigkeit. Ein kardiologisch-internistisches Zusatzgutachten, wie von Dr. D. angeregt, wird vom Gericht nicht für erforderlich gehalten, weil ein aktueller Befundbericht des behandelnden Kardiologen Dr. G. vom 21.01.2020 vorliegt. Danach besteht zwar eine koronare Herzerkrankung mit belastungsabhängiger Dyspnoe, von einer Ruheinsuffizienz ist jedoch nicht die Rede.
35
Aus den genannten Gründen hat der Beklagte im streitigen Bescheid vom 12.04.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.10.2018 zu Recht die Vergabe der Merkzeichen „aG“ und „RF“ abgelehnt. Die Klage dagegen war somit abzuweisen.
36
Das Gericht konnte über die Klage im Wege eines Gerichtsbescheides nach § 105 SGG entscheiden, weil die Streitsache keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art aufweist und der Sachverhalt nach den eingeholten Befunden und Gutachten geklärt ist.
37
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183, 193 SGG.