Titel:
Angelegenheiten nach dem SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende (AS)
Schlagworte:
Leistungen, Nichtzulassung, Arbeitslosengeld, Arzt, Revision, Bescheid, Beschwerde, Berufung, Gutachten, Psychotherapie, Psychiatrie, Arbeitsmarkt, Zahlung, Verweisung, ALG II, Arbeitslosengeld II, Sicherung des Lebensunterhaltes
Fundstelle:
BeckRS 2020, 59946
Tenor
Das Sozialgericht Nürnberg erklärt sich für die Klage auf Wiederaufnahme des Verfahrens S 13 AS 150/09 (Berufungsverfahren L 11 AS 315/11) für funktional (instanziell) unzuständig und verweist den Rechtsstreit an das hierfür zuständige Bayer. Landessozialgericht.
Gründe
1
Der Kläger begehrt die Wiederaufnahme des Verfahrens S 13 AS 150/09 (Berufungsverfahren L 11 AS 315/11).
2
In der Zeit vom 01.01.2005 bis 30.09.2008 bezog der Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II - Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Einen am 05.09.2008 gestellten Weiterbewilligungsantrag lehnte der Beklagte mit Bescheid 01.10.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2009 unter Hinweis auf ein Gutachten des Dr. H. (Arzt für Psychiatrie, Neurologie, Psychotherapie) vom 14.07.2008 ab, das in einem, zwischen den Beteiligten vorhergehenden Rechtsstreit (S 17 AS 20/07) zur Frage der Erwerbsfähigkeit des Klägers durch das Sozialgericht Nürnberg (SG) eingeholt worden war. Der Kläger sei aufgrund seiner psychischen Störung nicht mehr als erwerbsfähig iSd § 8 Abs. 1 SGB II anzusehen.
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Auf die hiergegen zum SG erhobenen Klage (S 13 AS 150/09) ist ein weiteres (ärztliches) Gutachten (vom 23.06.2010; Dr. D., Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen) eingeholt worden, das die Einschätzung des Dr. H. im Ergebnis bestätigt hat. Auch sei eine wesentliche Besserung in den gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers nicht festzustellen gewesen. Hierauf hat das SG die Klage mit Urteil vom 16.03.2011 abgewiesen. Es bestehe für die Zeit ab dem 01.10.2008 kein Anspruch des Klägers auf Zahlung von Alg II.
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Die dagegen eingelegte Berufung (L 11 AS 315/11) hat das Bayer. Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 28.11.2012 zurückgewiesen. Hierbei hat das LSG - mangels Wirkung des Klägers, den Sachverhalt weiter aufzuklären - allein gestützt auf die Gutachten der Dres. H. und D. seiner Entscheidung zugrunde gelegt, dass der Kläger an einer psychischen Störung leide, nämlich einer paranoiden Persönlichkeitsstörung (differentialdiagnostisch an einer anhaltenden wahnhaften Störung bzw. einer schizotypen Störung), die es ihm unmöglich mache, irgendeine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben. Es bestehe daher mangels Erwerbsfähigkeit kein Anspruch auf Zahlung von Alg II. Die Revision hat das LSG nicht zugelassen. Die wegen der Nichtzulassung der Revision eingelegte Beschwerde (B 4 AS 22/13 B) hat das Bundesozialgericht (BSG) als unzulässig verworfen (Beschluss vom 20.02.2013).
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Am 14.04.2020 hat der Kläger beim SG die Wiederaufnahme des Verfahrens S 13 AS 150/09 (Berufungsverfahren L 11 AS 315/11) beantragt. Auf gerichtlichen Hinweis (Schreiben vom 22.06.2020), das SG sei für die Klage auf Wiederaufnahme instanziell nicht zu ständig, hat der Kläger mitgeteilt, er werde die Klage zwar nicht zurücknehmen. Soweit das LSG für die Klage zuständig sei, beantrage er eine Verweisung des Rechtsstreites (Schriftsatz vom 05.07.2020). Bereits mit Schriftsatz vom 04.06.2020 hatte der Beklagte darauf hingewiesen, dass für eine Wiederaufnahmeklage eine funktionale Zuständigkeit des SG nicht gegeben sei.
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Mit gerichtlichem Schreiben vom 21.07.2020 sind die Beteiligten zu einer beabsichtigten Verweisung des Rechtsstreites an das LSG gehört worden.
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Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakten Bezug genommen.
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Die Wiederaufnahmeklage ist an das LSG zu verweisen. Die Beteiligten sind vor der Verweisung angehört worden; weder der Umstand, dass sich die Beteiligten nicht geäußert haben, noch, dass der Zeitraum zwischen der Anhörung und der Entscheidung lediglich eine Woche beträgt, steht einer Verweisung entgegen, denn der Kläger hat diese selbst beantragt und der Beklagte hatte bereits auf die funktionale Unzuständigkeit des SG hingewiesen.
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Gemäß § 98 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 17a Abs. 2 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) ist bei sachlicher Unzuständigkeit der Rechtsstreit nach Anhörung an das zuständige Gericht zu verweisen. Diese Vorschriften sind jedenfalls entsprechend auch bei nicht gegebener funktionaler (instanzieller) Zuständigkeit anzuwenden, denn ansonsten würde in Fällen wie dem vorliegenden den Beteiligten der gemäß Art. 101 Grundgesetz (GG) garantierte gesetzliche Richter entzogen (vgl. BayLSG, Beschluss vom 12.01.2016 - L 11 AS 851/15 WA - juris mwN).
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Das SG ist für die vorliegende Klage funktional nicht zuständig, auch wenn regelhaft für eine Wiederaufnahmeklage zunächst eine Zuständigkeit des Gerichtes gegeben ist, das im ersten Rechtszug erkannt hat (§ 584 Abs. 1 Halbsatz 1 Zivilprozessordnung - ZPO iVm § 202 SGG). In Ausnahme hiervon ist jedoch das Rechtsmittelgericht zuständig, wenn es das angegriffene Urteil oder auch nur eines von mehreren angefochtenen Urteilen erlassen und dabei sachlich entschieden hat (§ 584 Abs. 1 Halbsatz 2 ZPO), insbesondere eine Berufung zurückgewiesen hat. Lediglich wenn das Berufungsgericht eine Berufung als unzulässig verwirft und deshalb nicht in der Sache entscheidet, verbleibt es bei der (grundsätzlichen) Zuständigkeit des SG (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer/ Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 179 Rn. 8).
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Vorliegend hat das LSG die Berufung mit Urteil vom 28.11.2012 (L 11 AS 315/11) als unbegründet zurückgewiesen, weil dem Kläger Leistungen nach dem SGB II mangels Erwerbsfähigkeit nicht zustünden. Damit liegt aber eine Entscheidung in der Sache vor, die eine instanzielle Zuständigkeit des LSG für die Wiederaufnahmeklage begründet, mit der Folge, dass der Rechtsstreit dorthin zu verweisen war, denn auch eine Zuständigkeit des BSG ist nicht gegeben, nachdem die Beschwerde wegen der Nichtzulassung der Revision als unzulässig verworfen worden ist.
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Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem LSG vorbehalten (§ 98 Satz 1 SGG iVm § 17b Abs. 2 Satz 1 GVG).
13
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 98 Satz 2 SGG iVm § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG).