Titel:
Bescheid, Widerspruchsbescheid, Behinderung, Gerichtsbescheid, Attest, Widerspruch, Blindengeld, Ruhen, Aufhebung, Zugunstenverfahren, Vergleich, Blindheit, GdB, Gutachten, Ruhen des Verfahrens, Grad der Behinderung, von Amts wegen
Schlagworte:
Bescheid, Widerspruchsbescheid, Behinderung, Gerichtsbescheid, Attest, Widerspruch, Blindengeld, Ruhen, Aufhebung, Zugunstenverfahren, Vergleich, Blindheit, GdB, Gutachten, Ruhen des Verfahrens, Grad der Behinderung, von Amts wegen
Rechtsmittelinstanz:
LSG München, Urteil vom 17.05.2022 – L 15 BL 6/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 58869
Tenor
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 7. Juli 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 2017 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1
Der 2009 geborene Kläger begehrt die Zahlung von Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) im Wege des Zugunstenverfahrens.
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Am 10.07.2011 erlitt der Kläger einen Unfall.
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Der Antrag des Klägers auf Blindengeld ging beim Beklagten am 04.02.2012 ein. Der Beklagte veranlasste die Begutachtung bei der Augenärztin L.. Diese führt am 14.09.2012 aus, dass beim Kläger ein Aspirationsereignis zu einer schweren hypoxischen Hirnschädigung geführt hätte. Seine Reaktionsfähigkeit auf taktile Reize zum Untersuchungszeitpunkt sei hochgradig eingeschränkt. Es bestünde keine schlechtere visuelle Reaktionsfähigkeit im Vergleich zur Reaktionsfähigkeit auf andere Reizqualitäten.
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Nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. K. vom 12.11.2012 liege eine schwere Herabsetzung aller Wahrnehmungsqualitäten vor. Beim Kläger sei keine Rindenblindheit festzustellen.
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Daraufhin wurde der Antrag mit dem Bescheid des Beklagten vom 19.11.2012 abgelehnt. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 08.04.2013 zurückgewiesen.
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Mit Schreiben vom 22.02.2016, beim Beklagten eingegangen am 25.02.2016, stellte der Kläger einen Antrag nach § 44 SGB X und einen auf Taubblindengeld. Der Antrag auf Taubblindengeld ist Gegenstand des Verfahrens S 4 BL 4/17, über das mit Gerichtsbescheid vom gleichen Tag entschieden wird.
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Zur Begründung des Antrags nach § 44 SGB X verweist der Kläger auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 11.08.2015. Daraus ergäbe sich, dass die Gesetzesauslegung des Beklagten unzutreffend sei.
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Die leitende Medizinaldirektorin Dr. M. erstellte die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 24.05.2016. In der Hirnstammaudiometrie (BERA) hätten keine nachweisbaren Potentiale festgestellt werden können. Beim Kläger läge eine generelle Bewusstseinsstörung bei apallischen Syndrom vor. Es bestehe eine generelle Reaktionslosigkeit vor. Eine neurophysiologische Begutachtung sei nicht weiterführend.
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Mit Bescheid vom 07.07.2016 wurde der Antrag im Zugunstenverfahren abgelehnt. Im Widerspruchsverfahren wurde das Attest von Dr. A., Universitätsklinik E., vom 19.07.2016 vorgelegt. Ein Blitz-VEP sei beim Kläger negativ gewesen. Von Blindheit sei daher auszugehen.
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Nach versorgungsärztlicher Stellungnahme nach Aktenlage von Dr. P. wurde der Widerspruch im Widerspruchsbescheid vom 25.01.2017 zurückgewiesen.
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Mit diesem Ergebnis des Verwaltungsverfahrens zeigt sich der Kläger nicht einverstanden und erhebt am 23.02.2017 Klage zum Sozialgericht Bayreuth.
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Nach der Klagebegründung vom 24.03.2017 werde die Diagnose Wachkoma bestätigt.
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Dr. A. (Universitätsklinikum E.) habe am 19.07.2016 einem Befund erhoben, der Blindheit nachweise. Dazu wird die Stellungnahme der Ärztin vom 26.05.2017 vorgelegt.
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Auf richterlichen Hinweis tragen die Bevollmächtigten am 04.07.2019 vor: Kommuniziert werde mit dem Kläger insofern, als er Bedürfnisse durch Schmatzen mit der Zunge und erhöhten Puls äußere. Den Willen zum Absaugen äußere er durch Husten. Die Einrichtung der Wohnung habe einen erheblichen Mehraufwand nach sich gezogen. Es werde die Begutachtung durch einen Spezialisten angeregt. Der Vater des Klägers habe seine christliche Überzeugung in einem YouTube Video mit dem Kläger ausgedrückt.
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Dazu wird die Stellungnahme des Vaters des Klägers vom 09.07.2019 vorgelegt. Er meint, dass für den Kläger eine Kommunikation aus eigener Kraft bei alledem nicht mehr möglich sei.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 07.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.01.2017 zu verpflichten, den Bescheid vom 09.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2013 zurückzunehmen und dem Kläger Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt,
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Der Beklagte legt am 07.05.2019 die versorgungsärztliche Stellungnahme nach Aktenlage von Dr. P. vom 13.04.2019 vor. Es stehe außer Frage, dass Patienten, die ihre kognitiven Fähigkeiten verloren hätten, im Ergebnis nicht sehen könnten. Es bestehe aber keine medizinische Blindheit. Zu beobachten sei eine erheblich eingeschränkte Kommunikation. Es bestehe auch keine Taubheit.
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Mit Beschluss vom 24.04.2017 wurde das Ruhen des Verfahrens angeordnet.
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Nach Fortsetzung auf Antrag des Klägers teilte dessen Mutter im Erörterungstermin am 22.10.2019 mit, dass sie früher dem Kläger fast täglich eine Scheibe Zitrone in den Mund gelegt habe. Nach dieser Stimulierung habe sie das Gefühl gehabt, dass der Kläger wacher werde. Er stemme sich auch gegen kaltes Wasser. Er habe auch in der Hundetherapie auf den Hund reagiert. Sie habe auch das Gefühl, dass sie bei dem Kläger angekommen sei, wenn dieser seufzte. Es sei auch zu beobachten, dass der Kläger den Kopf wegziehen, wenn ihm etwas missfallen. Die Beteiligten nahmen das Video „Wie mein behindertes Kind mein Leben veränderte“ (https://www.youtube.com/watch?v=kzmi3wNTeJk) in Augenschein.
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Im Erörterungstermin erklärte sich der Bevollmächtigte des Beklagten mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden. Der Kläger erklärte sein Einverständnis im Schreiben vom 04.11.2019.
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Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Prozessakten sowie die beigezogenen Akten des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Nach § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (Satz 1). Die Beteiligten sind vorher zu hören (Satz 2).
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Eine derartige Konstellation ist gegeben. Der Sachverhalt konnte durch Anhörung der Betreuungspersonen und durch Augenschein des im Erörterungstermin vorgeführten Videos umfassend geklärt werden. Insbesondere haben die Beteiligten einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid zugestimmt.
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Die Klage ist zulässig, insbesondere statthaft und fristgerecht erhoben. Sie bleibt aber erfolglos, da sie unbegründet ist.
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Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales - Region Oberfranken - im Zugunstenverfahren vom 07.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Zentrums Bayern Familie und Soziales - Landesversorgungsamt - vom 25.01.2017, mit dem die Zurücknahme des Bescheids vom 19.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2013 und die Gewährung von Landesblindengeld zutreffend abgelehnt wurden.
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Das Bayerische Landessozialgericht hat im Urteil vom 18.03.2013 (L 15 VK 11/11, m. Nachw.) zum Prüfungsrahmen bei Überprüfungsanträgen ausgeführt:
„Ausgangspunkt ist die gesetzliche Regelung des § 77 SGG, wonach ein Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend wird, wenn ein Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt wird. Diese Bestandskraft (Unanfechtbarkeit) ist ein wesentliches Prinzip der Rechtsordnung. Mit der Bestandskraft wird Rechtssicherheit geschaffen, weil die Beteiligten wissen, woran sie sind, nämlich, dass die Regelung des Verwaltungsakts sie bindet, und Rechtsfrieden garantiert, weil weiterer Streit über den Verwaltungsakt ausgeschlossen ist. Für den Adressaten des Verwaltungsakts ist damit keine unangemessene Benachteiligung verbunden, hat er doch die Möglichkeit, sich … [mit den] zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln gegen einen Bescheid zu wehren und dessen Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen. Schöpft er diese Mittel nicht aus oder akzeptiert er den Verwaltungsakt, weil er selbst keinen überzeugenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit hat, müssen die Beteiligten die getroffene Regelung in der Zukunft für und gegen sich gelten lassen.
Die Regelung des § 44 SGB X ermöglicht unter bestimmten Voraussetzungen eine ausnahmsweise Abweichung von der Bindungswirkung (Bestandskraft) unanfechtbarer und damit für die Beteiligten bindend gewordener sozialrechtlicher Verwaltungsakte, um damit materielle Rechtmäßigkeit herzustellen. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X eröffnet dazu zwei Alternativen. Entweder muss bei der bestandskräftig gewordenen Entscheidung das Recht unrichtig angewandt worden (erste Alternative) oder die Behörde muss beim Erlass des bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakts von einem Sachverhalt ausgegangen sein, der sich nachträglich aufgrund des Bekanntwerdens neuer Tatsachen als unrichtig erwiesen hat (zweite Alternative).
Nicht Sinn und Zweck des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist es, Fristenregelungen im Zusammenhang mit der Frage der Bestandskraft von Entscheidungen der Verwaltung oder auch der Gerichte auszuhebeln und die mit der Bestandskraft bezweckte Rechtssicherheit und den Rechtsfrieden in das Belieben der Beteiligten zu stellen. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X kann kein Mittel sein, um durch wiederholte Anträge bei der Behörde diese immer wieder zu Sachentscheidungen (deren Ergebnis wegen der bereits getroffenen Entscheidung absehbar ist) zu zwingen, die dann wiederum gerichtlich in der Sache überprüfbar wären. Würde man dies zulassen, hätte eine Behörde keinerlei Möglichkeit, sich vor wiederholenden Anträgen mit dem sich daraus ergebenden möglicherweise massiven Verwaltungsaufwand, der nicht nur Personal bindet, sondern auch Kosten verursacht, zu schützen.
Bei der oben genannten ersten Alternative handelt es sich um eine rein rechtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der bestandskräftig gewordenen Entscheidung, bei der es auf den Vortrag neuer Tatsachen nicht ankommt und die von Amts wegen zu erfolgen hat … Eine derartige Überprüfung bedeutet jedoch nicht, dass eine vollständige Überprüfung des Sachverhalts mittels neuer Ermittlung des Sachverhalts und neu einzuholender Gutachten durchzuführen wäre. Vielmehr ist lediglich aus rein rechtlicher Sicht zu würdigen, ob der der bestandskräftig gewordenen Entscheidung zu Grunde liegende Sachverhalt rechtlich zutreffend beurteilt und rechtlich in nicht zu beanstandender Weise bewertet worden ist.
Weitergehende Sachermittlungen sind im Rahmen der ersten Alternative nicht geboten. Dies ergibt sich eindeutig aus der Systematik der gesetzlichen Regelung in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Denn mit der Differenzierung zwischen den aufgezeigten zwei Alternativen (unrichtige Rechtsanwendung einerseits und ursprünglich unrichtig zu Grunde gelegter Sachverhalt andererseits) hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass nicht in jedem Fall eine völlige Überprüfung unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten zu erfolgen hat. Dem liegt die Überlegung zu Grunde, dass die Verwaltung nicht durch aussichtslose Überprüfungsanträge, die beliebig oft wiederholt werden können, immer wieder zu einer neuen Sachprüfung gezwungen werden soll … Würde hingegen bereits im Rahmen der ersten Alternative eine umfassende Sachprüfung, d. h. mit einer umfassenden Neuermittlung des zugrunde liegenden Sachverhalts, vorausgesetzt, so stünde dies im Widerspruch zu den gesetzlichen Anforderungen für die zweite Alternative, für die die Benennung neuer Tatsachen und Beweismittel vorausgesetzt wird. Im Rahmen der ersten Alternative sind daher die tatsächlichen Feststellungen, wie sie dem bestandskräftigen Bescheid zu Grunde gelegen haben, auch im Überprüfungsverfahren zu beachten und lediglich zu prüfen, ob auf diesen Tatsachen aufbauend, unabhängig von ihrer Richtigkeit, die rechtlichen Schlussfolgerungen zutreffend sind. In dem Verfahren erfolgt eine rein rechtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit, zu der von Seiten des Klägers zwar Gesichtspunkte beigesteuert werden können, die aber letztlich umfassend von Amts wegen erfolgen muss.“
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Der Kläger rügt eine fehlerhafte Rechtsanwendung. Er macht im Antrag vom 22.02.2016 geltend, dass der Beklagte das Urteil des Bundessozialgerichts vom 11.08.2015 nicht beachtet hätte. Weitere Tatsachenfeststellungen sind damit vom Gericht nicht durchzuführen.
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Gemäß Art. 1 Abs. 1 Bayerisches Blindengeldgesetz (BayBlindG) erhalten Blinde, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 166 S. 1, ber. ABl L 200 S. 1, 2007 ABl L 204 S. 30) in der jeweils geltenden Fassung dies vorsieht, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld. Dabei beinhaltet nach der Rechtsprechung des BSG die Formulierung „zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen“ keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung (BayLSG Urteil vom 16.09.2015 - L 15 BL 2/13 - Rn. 47 mit Nachweisen).
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Blind im Sinne des BayBlindG ist der behinderte Mensch, dem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind ist auch der behinderte Mensch anzusehen, dessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht bei beidäugiger Prüfung mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder wenn andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie dieser Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzuachten sind (Art. 1 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 BayBlindG).
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Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 (1/50) oder weniger gleichzusetzende Sehbehinderung liegt nach den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (vgl. Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes - VersorgungsmedizinVerordnung vom 10. Dezember 2008 Anlageband zum Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 57, geändert durch Verordnung vom 11.10.2012, BGBl. I S. 2122 - VersMedV, Anlage zu § 2, Versorgungsmedizinischen Grundsätze, Teil A 6) bei folgenden Fallgruppen vor:
- Bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 30 Grad vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50 Grad unberücksichtigt bleiben,
- bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15 Grad vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50 Grad unberücksichtigt bleiben,
- bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 7,5 Grad vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50 Grad unberücksichtigt bleiben,
- bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5 Grad vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50 Grad unberücksichtigt bleiben,
- bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50-Grad-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,
- bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30 Grad Durchmesser besitzt,
- bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.
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Hochgradig sehbehindert ist gemäß Art. 1 Abs. 3 BayBlindG, wer nicht blind in diesem Sinne (Art. 1 Abs. 2 BayBlindG) ist und
1. wessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 0,05 (1/20) beträgt oder
2. wer so schwere Störungen des Sehvermögens hat, dass sie einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) bedingen.
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Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.
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Das Bundessozialgericht hat den Blindheitsbegriff im Urteil vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/14 R) erweitert. Danach setzt der Anspruch auf Landesblindengeld bei schwersten zerebral geschädigten Personen keine spezifische Sehstörung voraus:
„Entscheidend für den Anspruch auf Blindengeld ist allein, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung ‚Sehen‘ (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch „blind“ ist. Damit wird die Frage hinfällig, ob die zugrunde liegende Annahme, der Wahrnehmungsvorgang stelle einen in strikter zeitlicher Abfolge stattfindenden Prozess mit mehreren voneinander klar abgrenzbaren Phasen (perzeptiv, semantisch und lexikalisch) dar, mit der aktuellen wissenschaftlichen Evidenzlage vereinbar ist“ (BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 BL 1/14 R - Rn. 21 mit Nachweis).
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Im Urteil vom 14.07.2018 hat das Gericht eine derartige Sehstörung auch dann als gegeben angenommen, wenn es insgesamt einer Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen“ fehlt. Gleichzeitig wurde dem Beklagten der Einwand der Zweckverfehlung zugestanden:
„Der Zweck des Blindengelds wird aber auch dann verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst entbeziehungsweise bestehen kann. Hieran anknüpfend führt der Senat seine Rechtsprechung fort und räumt der Versorgungsverwaltung den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung ein, wenn bestimmte Krankheitsbilder blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschließen, weil der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgeglichen werden kann. Dies wird am ehesten auf generalisierte Leiden zutreffen können (zum Beispiel dauernde Bewusstlosigkeit oder Koma).“ (BSG, Urteil vom 14. Juni 2018 - B 9 BL 1/17 R - Rn. 19)
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Zur Zweckverfehlung führt das Bayerische Landessozialgericht aus:
„. . . der Senat [geht] davon aus, dass der Begriff der blindheitsbedingten Mehraufwendungen grundsätzlich weit auszulegen ist. Dies ergibt sich bereits unmittelbar aus den Darlegungen des BSG . . . sowie aus den vom BSG ebenfalls genannten Motiven des Landesgesetzgebers . . . Zu berücksichtigen sind alle objektiv möglichen Mehraufwendungen, die aufgrund der ‚Unfähigkeit, selbst etwas in gleicher Weise zu tun, wie bei vorhandenem Sehvermögen‘, entstehen können, ‚so dass entweder die Tätigkeiten von anderen ausgeführt werden müssen oder die Unterstützung durch andere notwendig ist bzw. spezielle Hilfsmittel eingesetzt werden müssen‘“ (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 12. November 2019 - L 15 BL 1/12 -, Rn. 65 mit Nachweis)
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Gemessen an diesen Grundsätzen liegt zwar Blindheit bei dem Kläger vor, der Beklagte kann aber den Einwand der Zweckverfehlung erheben.
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Nach Auffassung des Gerichts steht fest, dass der Kläger an einem schweren hypoxischen Hirnschaden leidet, der zu einer Störung der Reizverarbeitung führt. Dies folgt zuletzt auch aus der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. P. vom 13.04.2019. Danach steht es außer Frage, dass Patienten wie der Kläger seine kognitiven Fähigkeiten verloren hat und im Ergebnis nicht sehen könnten.
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Allerdings steht ebenfalls fest, dass der Kläger mit seiner Umwelt nicht kommunizieren kann (vgl. Bayerisches Landessozialgericht aaO., Rn. 72). Dies ergibt sich aus der Stellungnahme der Betreuungspersonen. Der Vater des Klägers hat in der Stellungnahme vom 09.07.2019 formuliert, dass Kommunikation aus eigener Kraft nicht mehr möglich sei. Diese Einschätzung ergibt sich auch aus dem Video über den Kläger „Wie mein behindertes Kind mein Leben veränderte“. Dabei wird in der Videominute 2:19 erläutert, dass sich der Kläger nicht ausdrücken kann und bei 5:08, dass man nicht wisse, was bei seiner Seele ankomme.
40
Auch im Erörterungstermin vom 22.10.2019 konnte die Mutter des Klägers keine auf Bedürfnisbefriedigung zielende Kommunikation schildern.
41
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.