Titel:
Wirksamkeit einer außerordentlicher Kündigung
Normenketten:
BetrVG § 102 Abs. 1 S. 2, § 103, § 83, § 28 Abs. 1, § 27 Abs. 3 S. 4
BGB § 626 Abs. 1
KSchG § 15 Abs. 1
Leitsatz:
Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann ein Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund und ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist außerordentlich gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. In diesem Fall ist gemäß § 15 Abs. 1 KSchG auch die außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds zulässig. (Rn. 82) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
außerordentliche Kündigung, Betriebsratsanhörung, Betriebsratsarbeit, Betriebsratsbüro, Betriebsratsmitglied, Betriebsratssitzung, Betriebsratstätigkeit, Betriebsratswahl, Compliance, freigestelltes Betriebsratsmitglied, Meinungsfreiheit, Mitbestimmung, Schwerbehindertenvertretung, Zustimmung
Rechtsmittelinstanz:
LArbG München, Urteil vom 29.07.2020 – 11 Sa 332/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 57756
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Der Streitwert wird auf € 18.450,00 festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit dreier außerordentlicher Kündigungen.
2
Der Kläger wurde 1972 geboren, ist verheiratet und hat drei Kinder. Er ist von Behinderung mit einem GdB von 30 betroffen und wurde durch Bescheid der Bundeagentur für Arbeit vom 29.11.2005 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.
3
Der Kläger war seit 24.03.1994 bei der Beklagten - einem Automobilhersteller mit Sitz in Stadt M - beschäftigt und wurde mit Wirkung ab 01.09.1994 zunächst als Mechaniker in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen. Seit 01.11.2005 arbeitete er im Bereich TM-421 als Logistiker und bezog zuletzt ein Gehalt von etwa 3.690,00 € brutto pro Monat. Im Mai 2010 wurde er in den bei der Beklagten am Standort Stadt M gebildeten 63-köpfigen Betriebsrat gewählt und gehörte seitdem dem Betriebsrat an, seit 01.05.2014 als freigestelltes Betriebsratsmitglied.
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Am 06.04.2016 und am 06.10.2016 erteilte die Beklagte dem Kläger Abmahnungen, am 15.07.202016 eine Ermahnung (Anlagen B3, B6 und B5 = Bl. 81f., 85ff. d.A.).
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Im Frühjahr 2019 standen bei der Beklagten die Wahlen zum Aufsichtsrat an, und der Kläger war Kandidat für den Aufsichtsrat.
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Im Zusammenhang damit gab es im Zeitraum November und Dezember 2018 Gespräche zwischen zwei der drei kleineren im Betriebsrat der Beklagten am Standort Stadt M neben der Gewerkschaft I noch vertretenen Gruppen, nämlich der Vereinigung „S.P.“, für die der Kläger maßgeblich tätig war, und der Vereinigung „D.“, für die unter anderem das Betriebsratsmitglied Herr N an den Gesprächen teilnahm. Bei den Gesprächen ging es unter anderem um die angedachte Bildung einer gemeinsamen Liste für die Aufsichtsratswahl, um auf diese Weise ein Mitglied des Aufsichtsrats bestimmen zu können.
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Am 14. Februar 2019 versandte der Kläger im Vorfeld der Delegiertenwahl für die Aufsichtsratswahl am Standort Stadt M der Beklagten die als Anlage B20 vorgelegte E-Mail (Bl. 134f. d.A.) an über 20.000 Empfänger überwiegend innerhalb des Konzerns der Beklagen. Diese Nachricht lautet auszugsweise wie folgt:
„(…) ich, Y., bin Betriebsrat von S.P. in Stadt M und kämpfe gegen die korrupten Betriebsräte der Gewerkschaft I, die mit immer neuen Methoden ihre Macht sichern wollen. Natürlich sind nicht alle Gewerkschaft I Betriebsräte korrupt.
Ich habe 2016 die Gewerkschaft S.P. gegründet, damit wir für alle Mitarbeiter stärker und entschlossener auftreten können.
Zum ersten Mal wird nun am Firma B. Standort Stadt M eine Delegiertenwahl abgehalten. Dazu kommt es, weil wir von S.P. uns nicht kaufen haben lassen, uns seit fünf Jahren darauf vorbereiten und auf dubiose Angebote selbstverständlich auch dieses Mal nicht eingegangen sind.
Was ist der aktuelle Skandal? Aber wir haben uns nicht beirren lassen und nicht bestehen lassen und unser Ziel der demokratischen Mitbestimmung erreicht. Ich hatte das in Vergangenheit in mehreren Betriebsversammlungen den Kollegen versprochen.
Und jetzt der aktuelle Skandal:
Ein Sprecher der D. kam, vor der Frist der Listeneinreichung, zu mir ins Büro und wollte pro Kopf 30.000 € haben, als seine Bedingung, damit Sie uns in den Aufsichtsrat wählen. Er sagte unter Zeugen, dass sie das Geld für die nächste BR Wahl benötigen würden. Ich war absolut schockiert. Auf meine definitiv nicht ernst gemeinte Frage, ob ich für diese Summe einen Kredit aufnehmen sollte, antwortete der D.-Sprecher mir, ich könnte das nach der Wahl von der Aufsichtsratstantieme bezahlen. Ich antwortete, dass alle Tantiemen von S.P. grundsätzlich gespendet würden.“
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Zur selben Zeit verteilte der Kläger ein Flugblatt mit demselben Inhalt (Anlage B21 = Bl. 137f. d.A.).
9
Mit E-Mail vom 18.02.2019 (Anlage B23 = Bl. 142 d.A.) wandte sich der Kläger an die Compliance-Abteilung der Beklagten mit einer Beschwerde gegen Herrn N. Dieser habe ihn mit einem Angebot angesprochen, ihm seine Delegiertenstimme für die Aufsichtsratswahl zu geben. Im Gegenzug für seine und weitere Delegiertenstimmen habe der Kläger jeweils 30.000,00 € bezahlen sollen. Das Gespräch habe am 12.12.2018 im Betriebsratsbüro des Klägers stattgefunden.
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In der Folge leitete die Compliance-Abteilung der Beklagten eine Untersuchung ein, in deren Rahmen am 20.02.2019 ein Gespräch zwischen dem Kläger und den Mitarbeitern der Compliance-Abteilung stattfand.
11
Am 07.03.2019 versandte der Kläger eine E-Mail an einen größeren Adressatenkreis, nämlich insbesondere an Mitglieder des Betriebsrats, der Compliance-Abteilung sowie an seine eigene externe E-Mail-Adresse, die externe Adresse eines früheren Mitarbeiters der Beklagten und das türkische Generalkonsulat.
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Die Nachricht (Anlage B7 = Bl. 89 f. d.A.) lautet unter anderem:
„(…) Darüber hinaus brauchen wir eine sehr sehr sehr sehr große Runde um so schnell wie möglich zu klären wie und warum die türkische Sprache verboten worden ist.
Ich nehme das definitiv nicht so hin. In der Türkei wurde früher, durch die Militärdiktatur die kurdische Sprache verboten, nach dem immer mehr demokratische Verhältnisse geschaffen worden sind, hat sich das Parlament davon distanziert. Verfallen wir hier etwa, was die demokratischen Grundrechte der Völker betrifft, in der Zeitschiene zurück? Ich selbst bin ein Kurde der hier zwar nicht akzeptiert wird aber sich trotzdem zum Teil erfolgreich durchsetzt. Faschismus werde ich überall bekämpfen wo ich auch nur kann. Jetzt ist die türkische Sprache, morgen dann die slawischen Sprachen, übermorgen dann die griechische und in nahe Zukunft dann womöglich die polnische Sprache verboten zu sprechen. Ich will das wir alle hier am gleichen Strang ziehen. Es ist manch Führungskräfte anscheinen immer noch nicht bewusst das wir ein Weltkonzern sind und vielleicht die ja für sich ganz andere Ideologie und Weltanschauung haben und diese bei uns im Unternehmen fehl am Platz sind.
Wie speziell die türkischen Kollegen zur Zeit diskriminiert werden ist no Go! Wir müssen jetzt schon solche Vorhaben ein Riegel davor schieben bevor wir uns in das nächste Skandal verirren. Es gibt genügend Anhaltspunkte dafür das diese Völkergruppe gezielt angegangen wird.
Ich hoffe das auch Sie als PM alles daran setzen dies aufzuklären. Aber bitte aufzuklären und nicht zu vertuschen!“
Ein Mitglied der Compliance-Abteilung antwortete auf diese Nachricht mit einer E-Mail vom 12.03.2019 (Anlage B9 = Bl. 92 d.A.), in der er unter dem Betreff „Ihr Hinweis zu behaupteter Diskriminierung von Mitarbeitern“ insbesondere um eine weitere Sachverhaltsschilderung bat und zur Konkretisierung einige Fragen an den Kläger stellte.
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Diese Anfrage beantwortete der Kläger per E-Mail vom 13.03.2019 (Anlage B10 = Bl. 93 d.A.), die auszugsweise folgendermaßen lautet:
„(…) ich bitte First of all, nicht falsch verstanden werden.
Nicht gegenüber Ihrer Person, sondern gegenüber der Einrichtung ‚Firma B. Compliance‘ habe ich kein Vertrauen mehr. Frau W von der PM hat bereits ein Mail von einem Meister bekommen. Ich möchte nur um eins Bitten, bitte setzen Sie die betroffenen Kollegen nicht unter Druck so wie wir es in jüngster Vergangenheit erlebt haben. Nachdem sich auch die türkische Konsulat, sofern Die noch nicht Tätig waren, bereits Interesse für Aufklärung bekundet haben, werden die Kollegen bestens unterstütz. Was jedoch sehr auffällig ist, dass immer öfters Ausländer diskriminiert werden, Antisemitismus immer mehr zum Vorschein kommt und Rechtsgedanken ohne Folgen gelebt werden können. Dazu möchte ich Ihnen folgendes punktuell aufzählen.
Aufgrund fehlende Vertrauen kann ich Ihnen keine Angaben mehr geben. (…)“
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In der Folge führte die Beklagte Ermittlungen durch.
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Am 18.03.2019 fand von 10.30 bis 12.10 Uhr ein Gespräch zwischen dem Kläger und Mitgliedern der Compliance-Abteilung statt, an dem auch Herr B. teilnahm, ein ebenfalls der Gruppierung „S.P.“ zugehöriges Betriebsratsmitglied (vgl. Protokoll, von der Beklagten als Anlage B49 vorgelegt). In diesem Gespräch ging es zunächst um das vom Kläger behauptete Angebot des Kaufs von Delegiertenstimmen für die Aufsichtsratswahl und danach um die E-Mail des Klägers vom 07.03.2018.
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Hinsichtlich des zweiten Themenkomplexes wurde der Kläger unter anderem gefragt, wie die Beklagte solche Vorgänge aufklären solle, wenn der Kläger seine Angaben nicht konkretisiere. Der Kläger antwortete mit Verweis auf sein fehlendes Vertrauen und schloss einem kategorischen Ausschluss weiterer Informationen.
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Mit Schreiben vom 18.03.2019 (Anlage B11 = Bl. 94 ff. d.A.) hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat zu einer wegen der E-Mail vom 07.03.2019 geplanten außerordentlichen Kündigung des Klägers gemäß § 103 BetrVG an.
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Das Schreiben war gerichtet an:
„Betriebsrat der B AG Werk Stadt M
z. Hd. Herrn Betriebsratsvorsitzenden S.
Es ging (offenbar in mehreren Ausfertigungen, vgl. Bl. 94 d.A. einerseits und Bl. 428 d.A. andererseits) am 18.03.2019 um kurz vor sieben Uhr abends bei Herrn S ein.
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Ebenfalls am 18.03.2019 hörte die Beklagte die Schwerbehindertenvertretung an (Anlage B13 = Bl. 106ff. d.A.).
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Mit Schreiben vom 19.03.2019 (Anlage B12 = Bl. 105 d.A.) teilte der Betriebsratsvorsitzende der Beklagten mit, dass der Betriebsrat in seiner außerordentlichen Sitzung am 19.03.2019 dem Antrag des Arbeitgebers nach § 103 BetrVG vom 18.03.2019 auf Zustimmung zu einer beabsichtigten fristlosen außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers zugestimmt habe.
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Die Schwerbehindertenvertretung nahm mit Schreiben vom 19.03.2019 (Anlage B14 = Bl. 117 d.A.) abschließend dahin Stellung, dass kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem dem Kläger zur Last gelegten Fehlverhalten und seiner Schwerbehinderung festgestellt werden könne.
22
Am 20.03.2019 stellte die Beklagte beim zuständigen Inklusionsamt den Antrag auf Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Klägers, die das Inklusionsamt am 03.04.2019 erteilte. Am Tag darauf wurde die außerordentliche Kündigung von der Beklagten gegenüber dem Kläger mit mehreren gleichlautenden Originalschreiben erklärt.
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Am 20.03.2019 hörte die Beklagte den Betriebsrat sowie die Schwerbehindertenvertretung zur geplanten außerordentlichen Kündigung des Klägers im Hinblick auf die E-Mail und das Flugblatt zum angeblichen Stimmenkaufangebot an und ersuchte den Betriebsrat gemäß § 103 BetrVG um Zustimmung. Nach Zustimmung des Betriebsrats und abschließender Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung auch zu dieser außerordentlichen Kündigung stellte die Beklagte am 25.03.2019 beim Inklusionsamt auch hinsichtlich dieser geplanten Kündigung den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung und erklärte nach Zustimmung des Integrationsamts am 08.04.2019 noch am selben Tag die außerordentliche Kündigung gegenüber dem Kläger.
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Am 21.03.2019 erschien ein Artikel in der türkischsprachigen Zeitung S. Am 02.04.2019 bat die Beklagte den Kläger diesbezüglich um Stellungnahme, worauf der Kläger mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten am 08.04.2019 antwortete. Am 08.04.2019 hörte die Beklagte daraufhin den bei ihr gebildeten Betriebsrat gemäß § 103 BetrVG sowie die Schwerbehindertenvertretung an. Am 11.04.2019 erklärte der Betriebsrat auch zu dieser Kündigung seine Zustimmung, worauf die Beklagte am 11.04.2019 beim Inklusionsamt die Zustimmung zu einer erneuten Kündigung beantragte. Nachdem das Inklusionsamt am 25.04.2019 hierzu steine Zustimmung erteilt hatte, kündigte die Beklagte am 26.04.2019 erneut außerordentlich das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger.
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Mit der vorliegenden Klage wendet sich der Kläger gegen die Kündigungen vom 04.04.2019, 08.04.2019 und 26.04.2019 und macht im wesentlichen folgendes geltend:
26
Er ist der Meinung, der Betriebsrat sei bereits über die Sachverhalte nicht ordnungsgemäß unterrichtet worden, so dass die Kündigungen nach § 102 Abs. 1 S. 2, 103 BetrVG unwirksam seien.
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So habe die Beklagte nach der Anhörung des Betriebsrats zum Thema „Türkischverbot“ weiter intern ermittelt und über die Ermittlungsergebnisse den Betriebsrat nicht informiert. Anders als die Klageerwiderung schweige die Betriebsratsanhörung auch zu dem von der Beklagten behaupteten breiten Medienecho in Folge der E-Mail zum „Türkischverbot“.
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Weiterhin seien die Anhörungen auch fälschlicherweise an den Vorsitzenden des Betriebsrats übermittelt worden. Da der Betriebsrat der Beklagten mehrere Personalausschüsse gebildet habe, habe die Anhörung an den Vorsitzenden des zuständigen Personalausschusses adressiert werden müssen. Der Betriebsrat sei damit nicht wirksam angehört worden, §§ 102 Abs. 1 S. 2, 103 BetrVG.
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Schließlich bemängelt der Kläger das Verfahren des Betriebsrats als fehlerhaft.
30
Zuständig für Zustimmungen nach § 103 BetrVG sei einer der Personalausschüsse des Betriebsrats und nicht das Plenum. Für die Rücknahme der Delegation sei ein Beschluss erforderlich, wozu die Beklagte nichts vorgetragen habe.
31
Es verstoße auch gegen das Überrumpelungsverbot, wenn angesichts des Umfangs der Unterlagen noch am Tag nach dem Zugang der Anhörung nach § 103 BetrVG ein Beschluss gefasst wurde. Zu bezweifeln sei, ob es überhaupt möglich sei, so schnell ordnungsgemäß zu einer außerordentlichen Betriebsratssitzung zu laden.
32
Der Arbeitgeber müsse sich die Verfahrensfehler des Betriebsrats zurechnen lassen, so dass eine wirksame Zustimmung gemäß § 103 BetrVG nicht gegeben sei, denn die so genannte Sphärentheorie sei nur im Rahmen des § 102 BetrVG, nicht aber im Rahmen von § 103 BetrVG anwendbar.
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Es fehle auch am wichtigen Grund nach § 626 Abs. 1 BGB.
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Sowohl der Vorgang „Türkischverbot“ als auch der Vorgang „Stimmenkaufangebot“ stünden im Zusammenhang mit der Betriebsratsarbeit des Klägers und dem Wahlkampf für die Aufsichtsratswahl. Der Arbeitgeber hätte von daher nicht das Arbeitsverhältnis kündigen dürfen. Bei der E-Mail vom 07.03.2019 zum „Türkischverbot“ handle es sich zudem um eine Beschwerde nach § 83 BetrVG.
35
Im Übrigen sei der Inhalt der E-Mail vom 07.03.2019 zutreffend. Hierzu trägt der Kläger im Schriftsatz vom 11.10.2019 unter Angebot von Zeugenbeweis vor, Anfang März 2019 habe es in Stadt G in seinem „Betreuungsbereich“ eine Anweisung an die Mitarbeiter gegeben, kein Türkisch und auch keine anderen Muttersprachen zu sprechen, sondern nur Deutsch, dies auch in den Sozialräumen.
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Auch seine Darstellung zum Komplex „Stimmenkauf“ sei richtig. Die Beklagte habe insoweit von Anfang an einseitig ermittelt und habe nicht vertretbare Schlüsse gezogen. Der Kläger sei auch nicht ordnungsgemäß angehört worden.
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Den Artikel der Zeitung S habe er nicht zu verantworten, insbesondere habe er in diesem Zusammenhang kein Interview gegeben.
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Zudem sei die Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten. Die Beklagte habe nicht zügig ermittelt, so dass die Kündigung zu spät erklärt worden sei.
- 1.
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Es wird festgestellt, dass die mit drei Schreiben der Beklagten vom 04.04.2019 erklärten außerordentlichen fristlosen Kündigungen unwirksam sind und das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht aufgelöst haben.
- 2.
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Es wird festgestellt, dass die mit drei Schreiben der Beklagten vom 08.04.2019 erklärten außerordentlichen fristlosen Kündigungen unwirksam sind und das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht aufgelöst haben.
- 3.
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Es wird festgestellt, dass die mit drei Schreiben der Beklagten vom 26.04.2019 erklärten außerordentlichen fristlosen Kündigungen unwirksam sind und das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht aufgelöst haben.
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Die Beklagte beantragt
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Nach ihrer Auffassung sind alle drei jeweils als Tat- und Verdachtskündigungen erklärten Kündigungen wirksam.
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Man habe wenige Tage vor der ersten Betriebsratsanhörung dem Betriebsrat mitgeteilt, dass unter Umständen ein Antrag gemäß § 103 BetrVG hinsichtlich einer außerordentlichen Kündigung gegenüber dem Kläger zu erwarten sei und angefragt, ob in diesem Fall der Betriebsrat als Gesamtgremium beschließen würde. Dies sei bejaht worden und entsprechend habe man die Anhörung an den Betriebsratsvorsitzenden adressiert.
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Es habe dann angesichts der Mitteilung des Betriebsratsvorsitzenden keinen Grund gegeben, an der ordnungsgemäßen Beschlussfassung des Betriebsrats nach § 103 BetrVG zu zweifeln. Insofern gelte der Grundsatz des Vertrauensschutzes, zumal der Arbeitgeber keine Erkenntnisquellen über das Vorgehen des Betriebsrats habe.
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Kern des Kündigungsvorwurfs hinsichtlich der ersten Kündigung sei der Loyalitätsverstoß. Der Kläger habe trotz aufgrund eines ihm zu Ohren gekommenen Vorfalls eine Nachricht an einen größeren Verteilerkreis einschließlich des türkischen Generalkonsulats gesendet, anstatt sich an die Compliance zu wenden oder eventuell den Sachverhalt in seiner Eigenschaft als Betriebsrat selbst aufzuklären. Durch die Weiterleitung der E-Mail an Unternehmensfremde und insbesondere an das türkische Generalkonsulat sowie das folgende Presseecho habe die Beklagte einen erheblichen Imageschaden erlitten.
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Die von der Beklagten angestoßene Aufklärung in Sachen Türkischverbot habe ergeben, dass es lediglich die Aufforderung gegeben habe, bei der Arbeit in Arbeitsangelegenheiten deutsch zu sprechen. Die Aussagen des Klägers seien nicht erweislich wahr, so dass die Straftatbestände der Verleumdung und der üblen Nachrede erfüllt seien.
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Durch die Versendung der E-Mail „Stimmenkauf“ sei bereits durch den riesigen Verteilerkreis lediglich bei einer geschätzten durchschnittlichen Lesedauer von drei Minuten ein ganz erheblicher Schaden in Form von unnütz vertaner Arbeitszeit entstanden. Offenbar habe der Kläger gehandelt, um seine Chancen auf das angestrebte Aufsichtsratsmandat zu verbessern.
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Aus dem Foto und dem Zeitung S-Artikel vom 21.03.2019 folge, dass der Kläger mit dem Journalisten gesprochen und damit die für die Beklagte imageschädigende Pressenachricht platziert habe.
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Im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze einschließlich der Anlagen, die Sitzungsprotokolle und den gesamten Akteninhalt.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Bereits die Kündigung vom 04.04.2019 hat das Arbeitsverhältnis außerordentlich und fristlos beendet.
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Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist für die vorliegende Kündigungsschutzklage gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG eröffnet.
52
Der Gerichtsstand Stadt M ergibt sich aus dem Sitz der Beklagten, §§ 12, 17 ZPO.
53
Die außerordentliche Kündigung vom 04.04.2019 ist wirksam.
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1. Die Kündigung wurde gemäß §§ 4, 7, 13 KSchG in Dreiwochenfrist durch Kündigungsschutzklage angegriffen, so dass die Wirksamkeit der Kündigung nicht fingiert wird.
55
2. Die Kündigung ist nicht wegen unvollständiger oder irreführender Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG unwirksam.
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a. Soweit die Beklagte im gerichtlichen Verfahren Sachverhalte vorträgt, die erst nach der Anhörung und der Zustimmung des Betriebsrats vorgefallen sind, führt dies nicht zu einer unvollständigen Betriebsratsanhörung. Über in der Zukunft liegende Vorgänge wie z.B. das folgende Presseecho oder die noch weiter geführten Ermittlungen und deren Ergebnisse konnte die Beklagte den Betriebsrat noch gar nicht informieren. Die Vollständigkeit beurteilt sich nach dem zeitlichen Horizont der Information.
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Allerdings kann der Arbeitgeber im Kündigungsschutzverfahren nur mit den Tatsachen argumentieren, zu denen auch der Betriebsrat angehört wurde, nicht also etwa mit dem „Presseecho“.
58
b. Der Betriebsrat wurde auch nicht irreführend informiert.
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Allerdings wurde dem Betriebsrat und auch dem Gericht eine Ermahnung vorgelegt, die sich unstreitig nicht bzw. nicht mehr in der Personalakte des Klägers befindet, nämlich die Ermahnung vom 15.07.2016 (Bl. 85 d.A.).
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Hier wird offenbar, dass die Beklagte über den Kläger nicht nur eine Personalakte führt, sondern auch Unterlagen separat von dieser aufbewahrt.
61
Hierin liegt jedenfalls auf den ersten Blick ein Verstoß gegen § 83 BetrVG und gegen Datenschutzrecht.
62
Davon zu unterscheiden ist indes die vorliegend zu entscheidende Frage, ob der Betriebsrat durch Vorlage der Ermahnung getäuscht wurde. Diese Frage ist zu verneinen.
63
Der Kläger hat die Ermahnung unstreitig erhalten. Er hat die der Ermahnung zugrundeliegende Anzeige beim Gewerbeaufsichtsamt auch unstreitig erstattet.
64
Die Beklagte hat dem Betriebsrat daher den zutreffenden Sachverhalt mitgeteilt, wodurch eine Irreführung ausscheidet.
65
Ebenso verhält es sich mit dem in der Betriebsratsanhörung enthaltenen Bericht über Vorgänge, in deren Zusammenhang Abmahnungen aufgrund gerichtlicher Verfahren wieder aus der Personalakte des Klägers entfernt werden mussten.
66
c. Die Unterrichtung ist auch im übrigen vollständig.
67
Die Beklagte hat den Betriebsrat in einem ausführlichen Schreiben unter Beigabe von umfangreichen Anlagen den aus ihrer Sicht maßgeblichen Sachverhalt dargelegt. Nach Vorlage der Anlagen an das Gericht im Rahmen der Duplik vom 20.12.2019 hat der Kläger die Vollständigkeit der Betriebsratsanhörung nicht mehr in Abrede gestellt.
68
3. Der Betriebsrat hat seine Zustimmung gemäß § 103 BetrVG erteilt. Dabei kann die Frage offenbleiben, ob der Betriebsrat Verfahrensfehler begangen hat, denn die Beklagte durfte sich auf die Mitteilung des Betriebsratsvorsitzenden vom 19.03.2019 verlassen, nach der am 19.03.2019 ein Beschluss nach § 103 BetrVG gefasst worden war.
69
a. Nach der von beiden Parteien in Bezug genommenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 23.08.1984 (AZR 391/83, NZA 1985, 254) darf der Arbeitgeber auf die Wirksamkeit eines Zustimmungsbeschlusses nach § 103 BetrVG vertrauen, wenn ihm der Betriebsratsvorsitzende oder sein Vertreter mitteilt, der Betriebsrat habe die beantragte Zustimmung erteilt. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn der Arbeitgeber Tatsachen kennt oder kennen muss, aus denen die Unwirksamkeit des Beschlusses folgt. Eine Erkundigungspflicht des Arbeitgebers besteht insofern nicht.
70
b. Im vorliegenden Fall kann sich die Beklagte nach diesen Kriterien auf den Vertrauensschutz berufen.
71
Als der Beklagten bekannte Tatsachen, aus denen sich die Unwirksamkeit des vom Betriebsratsvorsitzenden mitgeteilten Zustimmungsbeschlusses ergeben soll, hat der Kläger zunächst die Delegation der Anhörungen nach §§ 102, 103 BetrVG auf zwei Personalausschüsse geltend gemacht.
72
Dabei übersieht er indes, dass Gesamtgremium die nach § 103 BetrVG zu treffende Entscheidung jederzeit durch einen entsprechenden Beschluss wieder an sich ziehen kann, §§ 28 Abs. 1, 27 Abs. 3 S. 4 BetrVG. Die Beklagte durfte angesichts der Mitteilung des Betriebsratsvorsitzenden vom 19.03.2019 davon ausgehen, dass dies im vorliegenden Fall auch geschehen ist.
73
Da der Kläger im fraglichen Zeitraum sowohl ein Verfahren zur Anfechtung der letzten Betriebsratswahl betrieb als auch andere Mitglieder des Betriebsrats der Korruption beschuldigte, war es auch sehr naheliegend, dass der Betriebsrat sich dieser konkreten Personalie im Gesamtgremium annehmen würde.
74
Auch die kurze Dauer bis zum Zustimmungsbeschluss und der Umfang der Unterlagen führt entgegen der Argumentation des Klägers nicht zu einem anderen Ergebnis.
75
Die Notwendigkeit eines sehr zügigen Vorgehens ergibt sich bereits aus der Kürze der Fristen in §§ 102, 103 BetrVG, 626 Abs. 2 BGB.
76
Gerade im Zeitalter von E-Mail-Kommunikation sind Ladung und Durchführung einer ordnungsgemäßen außerordentlichen Betriebsratssitzung auch praktisch ohne weiteres möglich. Dazu kommt, dass dem Betriebsrat nach dem vom Kläger nicht substantiiert in Abrede gestellten Vortrag der Beklagten der Eingang des Antrags nach § 103 BetrVG vorab avisiert worden war.
77
Der Umfang der von der Beklagten vorgelegten Unterlagen von nicht mehr als einem Ordner spricht auch nicht für eine Überrumpelung.
78
Die Beklagte konnte daher der Mitteilung des Betriebsratsvorsitzenden über den Beschluss nach § 103 BetrVG Vertrauen schenken. Konkrete Verfahrensfehler des Betriebsrats hat der Kläger im übrigen nicht vorgetragen.
79
c. Der Kläger dringt schließlich auch mit dem Argument nicht durch, die Anhörung sei schon gegenüber der falschen Person erfolgt.
80
Selbst wenn man den Betriebsratsvorsitzenden aufgrund der Delegation der Entscheidung nach § 103 BetrVG auf einen Ausschuss nicht als Empfangsvertreter ansehen möchte (so der Kläger unter Bezugnahme auf eine in einem anderen Kontext ergangene ältere Entscheidung), so ist der Betriebsratsvorsitzende jedenfalls Empfangsbote und hat in dieser Eigenschaft die Anhörung und den Zustimmungsantrag dem zuständigen Gremium übermittelt.
81
4. Es liegt auch ein wichtiger Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB, § 15 Abs. 1 KSchG vor.
82
a. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann ein Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund und ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist außerordentlich gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. In diesem Fall ist gemäß § 15 Abs. 1 KSchG auch die außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds zulässig.
83
Beim wichtigen Grund ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d.h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist oder nicht (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, vgl. etwa BAG vom 10.06.2010 - 2 AZR 541/09, NZA 2010, 1227, „Emmely“).
84
Nach diesen Grundsätzen liegt im vorliegenden Fall ein wichtiger Grund gemäß §§ 626 Abs. 1 BGB, 15 Abs. 1 KSchG vor.
85
b. Dabei ergibt sich der wichtige Grund „an sich“ allerdings nicht aus einer Beleidigung oder anderen Ehrverletzung des Arbeitgebers.
86
Ehrverletzende Äußerungen eines Arbeitnehmers wie der in der E-Mail vom 07.03.2019 angestellte Vergleich der Beklagten mit der türkischen Militärdiktatur können grundsätzlich „an sich“ einen wichtigen Grund für eine Kündigung abgeben, hierbei ist indes eine Abwägung mit dem für die freiheitliche Grundordnung überragend wichtigen Grundrecht der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG erforderlich (vgl. insbesondere BAG vom 24.11.2005 - 2 AZR 584/04, NZA 2006, 656). Bei dieser Abwägung der Grundrechtspositionen ist jeweils die am wenigsten anstößige Auslegung der fraglichen Äußerung zu Grunde zu legen. Einer Äußerung darf kein Sinn beigelegt werden, den sie nicht besitzt; bei mehrdeutigen Äußerungen muss eine ebenfalls mögliche Deutung mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen werden (BAG, a.a.O., Rz. 27).
87
Im vorliegenden Fall liegt es nahe, dass der vom Kläger angestellte Vergleich darauf zielt, dass bei der Beklagen auf Veranlassung der Unternehmensleitung ein Verbot der Verwendung der türkischen Sprache ausgesprochen wurde.
88
Daneben ist aber auch die Deutung möglich, dass der Kläger - sehr zugespitzt - auf eine von einem einzelnen Vorgesetzten ausgesprochene Aufforderung hinweisen wollte, die türkische Sprache nicht zu verwenden.
89
In diesem zweiten Sinne verstanden zielt die Äußerung des Klägers auf einen zutreffenden Tatsachenkern, da auch nach dem Ermittlungsergebnis der Beklagten von einem Vorgesetzten die Bitte ausgesprochen wurde, während der Arbeit deutsch zu sprechen.
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Damit ist die Äußerung des Klägers von der Meinungsfreiheit gedeckt.
91
c. Der wichtige Grund „an sich“ liegt jedoch in einem Verstoß gegen das arbeitsvertragliche Rücksichtnahmegebot nach § 241 Abs. 2 BGB, das den Arbeitnehmer verpflichtet, auf die geschäftlichen Interessen des Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen und sie in zumutbaren Umfang zu wahren. Aus letzterem ergibt sich insbesondere, dass ein Arbeitnehmer verpflichtet ist, den Arbeitgeber über alle wesentlichen Vorkommnisse im Betrieb in Kenntnis zu setzen und insbesondere nicht vor einer betrieblichen Prüfung ungeklärte Sachverhalte nach außen zu tragen (vgl. BAG vom 03.07.2003 - 2 AZR 235/02, NZA 2004, 427 - „Whistle Blower“).
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Hiergegen hat der Kläger verstoßen, indem er mit der E-Mail vom 07.03.2019 eine zugespitzte und für die Beklagte in dieser Form negative und potentiell sehr geschäftsschädigende Aussage über einen wesentlichen internen Vorgang nach außen trug, ohne zuvor oder auch nur gleichzeitig oder unmittelbar danach die Beklagte in die Lage zu versetzen, den Vorgang intern aufzuklären.
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i. Die Beklagte beschäftigt in Deutschland und im Konzern weltweit Mitarbeiter vieler verschiedener Nationalitäten und Ethnien. Dass es hierbei auch zu Konflikten kommt, die mit den Nationalitäten zusammenhängen, ist unvermeidlich. Für die Beklagte ist es von elementarer Bedeutung, diese Konflikte professionell zu bewältigen und idealerweise in einem frühen Stadium zu erkennen und gegenzusteuern.
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ii. Ein - wie in der E-Mail vom 07.03.2019 suggeriertes - generelles Verbot der Benutzung der Muttersprache für Mitarbeiter eines Herkunftslands ist kein zuträgliches Mittel zur Bewältigung solcher Konflikte, sondern verstärkt diese und stellt unter Umständen eine gravierende Diskriminierung und in jedem Fall ein Fehlverhalten des Vorgesetzten dar, der das Verbot ausspricht. Der Ausspruch eines solchen Verbots wäre für die Beklagte ein wesentliches betriebliches Vorkommnis, das das Ansehen der Beklagten auf dem Absatzmarkt, aber auch auf dem Arbeitsmarkt gefährden kann.
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iii. Der Kläger hat dieses Vorkommnis durch die Versendung der EMail vom 07.03.2019 an eine nicht mehr bei der Beklagten beschäftigte Person und an das türkische Generalkonsulat nach außen getragen, ohne der Beklagten zuvor die Möglichkeit gegeben zu haben, den Sachverhalt zu ermitteln und nötigenfalls abzustellen. Er hat der Beklagen auch bis zur letzten mündlichen Verhandlung nicht umfassend mitgeteilt, auf welchen konkreten Vorgängen und Hinweisen seine E-Mail vom 07.03.2019 beruhte.
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iv. Es wäre dem Kläger auch möglich gewesen, seiner Loyalitätspflicht zu genügen, ohne dadurch Kollegen in Schwierigkeiten zu bringen, die ihn über den Vorgang informiert hatten.
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Dabei verkennt die Kammer nicht, dass sich der Kläger insoweit in einem gewissen Loyalitätskonflikt befand: Eine Meldung an Personal- oder Complianceabteilung wird diese zu Ermittlungen veranlassen, in deren Verlauf die Beklagte früher oder später auch die Kollegen befragen wird, die den Kläger involviert bzw. informiert haben, und diese Befragung werden diese Kollegen unter Umständen als unangenehm empfinden.
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Zur Lösung dieses Konflikts hätten der Kläger hätte aber zunächst den Sachverhalt in seiner Eigenschaft als Betriebsratsmitglied selbst zunächst weiter aufklären und eventuell im Gespräch mit dem betroffenen Vorgesetzten abstellen können, hierbei hätte er andere Betriebsratsmitglieder um Unterstützung bitten können und er hätte vor allem eine Aufklärung in einer kleinen Runde anregen und diese dann aktiv unterstützen können. Wenn diese Bemühungen nicht erfolgreich gewesen wären, wäre es weiter möglich gewesen, die Thematik intern weiter zu eskalieren.
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Möglich wäre ihm insbesondere auch eine Beschwerde gemäß § 84 BetrVG gewesen. Eine solche Beschwerde ist die E-Mail vom 07.03.2019 entgegen der Auffassung des Klägers schon wegen der Versendung an eine unternehmensfremde Person und das türkische Generalkonsulat nicht.
100
v. Die Vorgehensweise des Klägers ist auch nicht in Anwendung der zum „Whistle Blower“ entwickelten Grundsätze gerechtfertigt. In den Whistle-Blower-Fällen setzt die Rechtfertigung von Strafanzeigen gegen den Arbeitgeber zum einen voraus, dass nicht leichtfertig unwahre oder infundierte Behauptungen aufgestellt werden und dass zum zweiten keine Anzeigen nach Außen erstattet wird, ehe eine interne Beschwerde versucht wurde. An beiden fehlt es hier.
101
vi. Der Kläger kann sich auch nicht damit rechtfertigen, dass er in Erfüllung seiner Aufgabe als Betriebsrat gehandelt habe.
102
Dabei ist zunächst zutreffend, das Fehlverhalten von Betriebsratsmitgliedern, die lediglich ihre Betriebsratstätigkeit betreffen, keine Kündigung des Arbeitsverhältnisses, sondern lediglich Maßnahmen gemäß § 23 BetrVG nach sich ziehen können.
103
Mit der Weiterleitung der E-Mail an das türkische Generalkonsulat und eine weitere außerbetriebliche Person hat der Kläger indes die Grenze der Betriebsratsarbeit überschritten.
104
d. Die Kündigung entspricht auch dem Prognoseprinzip.
105
Nach diesem Prinzip ist die Kündigung keine Sanktion eines Fehlverhaltens. Vielmehr ist eine Kündigung auf Grund eines Fehlverhaltens des Arbeitnehmers nur dann gerechtfertigt, wenn auf Grund des Verhaltens eine Prognose dahin möglich ist, dass der Arbeitnehmer dieses oder ein ähnliches Verhalten wiederholen wird. Zur Objektivierung dieser Prognose ist regelmäßig erforderlich, dass der Arbeitnehmer zuvor wegen eines vergleichbaren Verhaltens abgemahnt wurde. Ausnahmsweise ist eine Abmahnung dann entbehrlich, wenn der Vertrauensbereich betroffen ist bzw. wenn der Arbeitnehmer es unter keinem Gesichtspunkt für möglich halten konnte, dass der Arbeitgeber das Verhalten hinnimmt.
106
Im vorliegenden Fall ist der Kläger einschlägig abgemahnt.
107
Einschlägig ist insbesondere die Abmahnung wegen der Betätigung des Notstoppschalters. In dem der Abmahnung zugrundeliegenden Vorgang betätigte der Kläger den Notstoppschalter, als die die Beklagte seiner Forderung, einen bestimmten Arbeitsplatz mit einem zweiten Mitarbeiter zu besetzen, nicht unmittelbar nachkam. Auch hier - und das macht die Parallelität zum vorliegenden Vorfall aus - setzte sich der Kläger bei einem von ihm vermuteten Verstoß des Arbeitgebers über die üblichen Regeln zur Klärung einer solchen Thematik hinweg und schaffte durch einseitiges Eingreifen Fakten, wobei er mögliche erhebliche Schäden billigend in Kauf nahm.
108
Das Abschalten eines Bandes in der Pkw-Fertigung trägt ebenso ein erhebliches Schadenspotential in sich wie eine Meldung einer Diskriminierung ihrer Staatsangehörigen an das Konsulat eines wichtigen Absatz- und Arbeitnehmerlandes.
109
Das Versenden der E-Mail nach Außen trotz einschlägiger Abmahnung lässt die Prognose darauf zu, dass der Kläger auch in Zukunft nicht vor vergleichbaren Handlungen zurückschreckt.
110
Dies ergibt sich im Übrigen auch daraus, dass sich Kläger auch im Nachhinein nicht von seiner Vorgehensweise distanziert hat. Er hat vielmehr in der E-Mail vom 13.03.2019 zum Ausdruck gebracht, dass er es im Hinblick auf das beim türkischen Generalkonsulat für den Vorgang bestehende Interesse nicht für zweckmäßig ansieht, der Beklagten nähere Auskünfte zum Zweck der Aufklärung des Vorgangs zu erteilen.
111
e. Die allgemeine Interessenabwägung fällt zu Lasten des Klägers aus.
112
Für den Kläger spricht bei einer Abwägung, dass der Anlass der Äußerung in seiner Betriebsratstätigkeit zu finden ist. Für ihn spricht weiter seine langjährige Betriebszugehörigkeit.
113
Dem gegenüber steht indes das hohe Schadenspotential durch den drohenden Imageverlust auf dem Absatzmarkt Türkei und dem Arbeitsmarkt in Deutschland. Die Möglichkeit zur Begrenzung dieses Schadens durch Zusammenarbeit mit der Beklagten hat der Kläger in seiner E-Mail vom 13.03.2019 und bei seiner Befragung am 18.03.2019 nicht genutzt.
114
5. Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB ist eingehalten.
115
Die zweiwöchige Frist nach dieser Norm beginnt, wenn der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigungen maßgeblichen Tatsachen Kenntnis erlangt. Für den Fristbeginn kommt es auf die sichere und möglichst vollständige Kenntnis des Kündigungssachverhalts an; selbst grob fahrlässige Unkenntnis genügt nicht. Zu den für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen gehören nicht nur die konkreten Vorfälle, die einen Anlass für eine außerordentliche Kündigung bilden, sondern alle Umstände die bei der Zumutbarkeitsprüfung in die Gesamtwürdigung einzubeziehen sind. Die Aufklärung des Sachverhalts kann der Kündigungsberechtigte die ihm nach pflichtgemäßen Ermessen notwendig erscheinende Maßnahmen durchführen, insbesondere dem Kündigungsgegner Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Durch derartige Maßnahmen kann die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB aber nicht länger als unbedingt nötig herausgeschoben werden. Ihr Beginn ist nur so lange gehemmt wie der Kündigungsberechtigte aus verständigen Gründen mit der gebotenen Eile noch Ermittlungen anstellt, die ihm eine umfassende und zuverlässige Kenntnis des Kündigungssachverhalts verschaffen sollen (ständige Rechtsprechung, vgl. BAG vom 31.03.1993, 2 AZR 492/92, NZA 1994, 409).
116
Im vorliegenden Fall hat die Beklagte nach der E-Mail des Klägers vom 07.03.2019 zunächst unmittelbar den Kläger selbst um Konkretisierung seiner Angaben gebeten und in der Folge versucht, den Sachverhalt „Türkischverbot“ auch ohne eine Konkretisierung durch den Kläger zu ermitteln. Es war vertretbar, wenn sie sich zur Kündigung erst nach dem Gespräch mit dem Kläger am 18.03.2019 entschloss. In diesem Gespräch hat der Kläger nach Erläuterung der Schwierigkeiten für die Compliance-Abteilung, Sachverhalte ohne konkrete Hinweise aufklären zu können, jede Zusammenarbeit mit der Compliance-Abteilung kategorisch abgelehnt. Dies ist im Rahmen der Prüfung eines wichtigen Grundes nach § 626 Abs. 1 BGB ein entscheidender Punkt.
117
Es war nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Beklagte einerseits bis zu dieser Klärung weiter ermittelte und andererseits aber an diesem Punkt den Kündigungsentschluss erfasste.
118
6. Die Zustimmung des Inklusionsamts zur außerordentlichen Kündigung des Klägers wurde innerhalb der Zweiwochenfrist des § 174 Abs. 2 SGB IX beantragt und gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung erklärt.
119
Aus § 174 Abs. 5 SGB IX ergibt sich auch, dass der Arbeitgeber berechtigt war zunächst den Betriebsrat und danach das Inklusionsamt anzuhören.
120
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 91 ZPO. Als Streitwert wurden fünf Bruttomonatsentgelte festgesetzt, nämlich ein Quartalsentgelt für die Kündigung vom 04.04.2019 sowie je ein Bruttomonatsentgelt für die Kündigungsschutzanträge gegen die weiteren Kündigungen über die nicht mehr zu entscheiden war, da das Arbeitsverhältnis bereits mit Ablauf des 04.04.2019 beendet war.
121
Der Kläger kann gegen dieses Urteil gemäß § 64 Abs. 2 lit. c ArbGG Berufung zum Landesarbeitsgericht München einlegen.