Titel:
Streit um Anerkennung einer Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit
Normenkette:
SGB VII § 9 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Das Zeichen nach Schober 10/13 spricht für eine gute Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule. (Rn. 43 – 45)
2. Einem geringeren Finger-Boden-Abstand als 24 cm steht allein schon ein Body-Mass-Index von 36,7 kg/m² entgegen. (Rn. 43 – 45)
Schlagworte:
Arbeitsunfall, Bandscheibenschaden, Berufskrankheit, Lendenwirbelsäule, Unfallversicherung
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Urteil vom 16.09.2021 – L 17 U 98/20
BSG Kassel, Beschluss vom 20.04.2022 – B 2 U 186/21 B
Fundstelle:
BeckRS 2020, 56848
Tenor
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 21. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 2014 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Anerkennung seiner Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit nach dem Siebten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII).
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Der Kläger wurde 1969 geboren. Seine Ausbildung zum Kraftfahrzeugmechaniker absolvierte er 1985 bis 1988 bei der Firma E. Vom 01.02.1988 bis zum 31.12.1993 arbeitete er zusammen mit seiner Schwester als Inhaber der A. Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Ab 1993 war er als Handwerksmeister im Kraftfahrzeugtechnikerhandwerk (Kraftfahrzeugtechnikermeister, vgl. Verordnung über das Meisterprüfungsberufsbild und über die Prüfungsanforderungen in den Teilen I und II der Meisterprüfung im Kraftfahrzeugtechniker-Handwerk) tätig. Von 01.01.1994 bis 28.02.1995 war er in der H. GmbH am gleichen Standort in G. tätig. Vom 01.03.1995 bis 26.07.2004 war der Kläger Inhaber der Firma A. am gleichen Standort. Die Tätigkeit beendete der Kläger am 19.07.2007.
1991 erkrankte der Kläger an einem Bandscheibenvorfall an der Lendenwirbelsäule zwischen Wirbelkörper 4 und 5 sowie zwischen Wirbelkörper Lendenwirbelsäule 5 und S1 (Kreuzbein).
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Bei der Beklagten ging am 24.03.2010 eine Verdachtsmeldung Berufskrankheit ein.
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Eine erste Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition wurde am 30.03.2012 auf der Grundlage eines persönlichen Gesprächs mit dem Kläger und seinem Bevollmächtigten abgeschlossen. Während der Ausbildung bei der Firma E., G., wären Reparaturarbeiten vor allem in der Reparaturgrube mit einer Stehhöhe von ca. 1,50 m durchgeführt worden. Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung im Sinne der Berufskrankheit 2108 seien nicht ausgeführt worden. Für den Zeitraum 01.08.1985 bis 31.01.1988 sei eine Gesamtdosis von 1,3 Meganewtonstunden - MNh erreicht worden. Die Gesamtdosis für die Tätigkeiten zwischen 01.02.1988 und 19.07.2007 betrage 11,7 MNh. Zu diesem Tätigkeitszeitraum wurde vermerkt, dass es sich bei allen 3 Firmen um Kfz-Reparaturwerkstätten gehandelt habe. Die Beschaffung von Ersatzteilen, Handel mit Fahrzeugen sowie die administrativen Arbeiten hätten stets Dritte durchgeführt. Der Erkrankte habe angegeben, dass er in allen 3 Firmen im Durchschnitt ca. 60 bis 66 Stunden und dabei in allen 3 Firmen an durchschnittlich ca. 270 Schichten pro Jahr gearbeitet habe. Ganzkörper-Schwingungsbelastungen im Sitzen durch Fahren von Fahrzeugen und Fahren von Arbeitsmaschinen auf unebenen Fahrbahnen seien nicht vorgekommen.
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Die Beklagte veranlasste die Begutachtung bei Professor Dr. S. vom 17.04.2013.
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Am 09.12.2013 aktualisierte der Präventionsdienst der Beklagten seine Berechnungen nach dem Mainz-Dortmunder Dosismodell. Die Gesamtdosis wurde mit 0 MNh festgestellt, da im Zeitraum 01.02.1988 bis 26.07.2004 die Richtwerte (Druckkraft beziehungsweise Tagesdosis) nicht erreicht worden seien.
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Am 30.12.2013 gab Professor Dr. S. eine ergänzende Stellungnahme ab.
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Die Regierung von O. - gewerbeärztlicher Dienst - meinte in der Stellungnahme vom 22.01.2015, dass die Bewertung der Berufskrankheit nach den Konsensrichtlinien empfohlen werde. Nach Hinweisen der Beklagten meinte der gewerbeärztliche Dienst am 07.02.2014, dass die Berufskrankheit nicht zur Anerkennung empfohlen werde. Zum Zeitpunkt der Erstdiagnose sei der hälftige Orientierungswert nicht erreicht worden.
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Die Beklagte verfügte im Bescheid vom 21.02.2014, dass eine Berufskrankheit nach Nummer 2108 oder 2110 der Berufskrankheitenliste (bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule) und Ansprüche auf Leistungen nicht bestehen würden. Dies gelte auch für Leistungen oder Maßnahmen, die geeignet seien, dem Entstehen eine Berufskrankheit entgegenzuwirken. Die Feststellungen hätten ergeben, dass zwar schwere Lasten im Sinne der Nummer 2108 gehoben oder getragen worden sein, jedoch nicht in ausreichendem Maße. In extremer Rumpfbeugehaltung habe der Kläger nicht oder zumindest nicht häufig gearbeitet.
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Der Widerspruch vom 12.05.2014, begründet am 19.05.2014, wurde nach der Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 28.05.2014 mit Widerspruchsbescheid vom 25.06.2014 zurückgewiesen. Der hälftige Orientierungswert von 12,5 MNh sei bei 9,9 MNh unterschritten worden. Es sei keine pauschale Katasterbewertung durchgeführt worden. Der Bewertung seien eigentlich höhere Angaben zu Grunde gelegt worden, als der Kläger im Widerspruchsverfahren vorgetragen habe.
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Mit diesem Ergebnis des Verwaltungsverfahrens zeigt sich der Kläger nicht einverstanden und erhebt mit dem am 24.07.2014 per Telefax übermittelten Schreiben vom gleichen Tag Klage zum Sozialgericht Bayreuth.
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Nach der Klagebegründung vom 24.09.2014 meint der Kläger, dass Abweichungen vom üblichen Berufsbild eines Kraftfahrzeugmeisters vorgelegen hätten. Der Orientierungswert sei überschritten. Der Gewerbearzt habe die Empfehlung der Anerkennung abgegeben. Die Berufsunfähigkeit sei auf die Erkrankung zurückzuführen.
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Am 01.11.2016 trägt der Kläger vor, dass die Erkrankung der Lendenwirbelsäule unstreitig sei. Die kumulative Belastungsdosis sei falsch berechnet. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass 13,0 MNh vorliegen würden und der Belastungsfall eingetreten sei. Für den Zeitraum 01.03.1995 bis 19.07.2007 sei eine Erhöhung um weitere 1,34 MNh angezeigt.
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Der Kläger rügt am 07.12.2016 die Begründung der Berechnung der kumulativen Gesamtdosis. Die Beweislast für die Berechnung läge bei der Beklagten.
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Am 19.10.2018 legt der Kläger das fachorthopädische Gutachten von Dr. C. vom 13.01.2012, das internistische Sachverständigengutachten von Professor Dr. N. vom 19.02.2014 sowie das neurologische Sachverständigengutachten von Professor Dr. D. vom 12.11.2012 vor.
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Am 12.11.2018 meint der Kläger, dass eine Bandscheibenoperation doch 1990 oder 1991 stattgefunden habe. Die Bauchstraffungsoperation seit 2004 durchgeführt worden.
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Zum Gutachten Professor Dr. M. nimmt der Kläger am 08.11.2019 Stellung. Dieses sei unzutreffend, soweit kein typisches funktionales Defizit festgestellt habe werden können. Die echte Versteifung der Wirbelsäule sei feststellbar nach dem Zeichen nach Schober. Der Finger-Boden-Abstand von 24 cm erbringe den Nachweis einer erheblichen Funktionsbeeinträchtigung. Die Ermittlung der arbeitstechnischen Voraussetzungen sei falsch. Die Exposition zum Beginn der Berufsausbildung bis zum erstmals gesicherten Bandscheibenvorfall 1991 habe zwar nur 6 Jahre betragen, dafür habe es eine sehr intensive Belastung gegeben. Der Gutachter möge sein festgestelltes Ergebnis nochmals prüfen. Der Kläger legte dazu das Attest des Arztes für Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapie, Dr. K. vom 25.10.2004 vor, nachdem bei Vorfußheberschwäche etwa der Achillessehnenreflex rechts festgestellt worden sei.
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Der Kläger beantragte die Verlegung des am 03.12.2019 geplante Erörterungstermins im Hinblick auf einen Auslandsaufenthalt. Der Kläger werde erst Anfang März 2020 wieder nach Deutschland zurückkehren. Zum Erörterungstermin solle Professor Dr. M. geladen werden. Er möge erläutern, inwiefern er die außergewöhnlichen und extremen Belastungen des Klägers während der Ausbildung berücksichtigt habe.
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Am 03.01.2020 beantragt der Kläger die Einholung eines Ergänzungsgutachten zur ausreichenden beruflichen Exposition im Sinne der Berufskrankheit Nummer 2108 die Berufskrankheitenverordnung.
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Die Ladung des Sachverständigen wurde am 17.01.2020 erneut beantragt. Funktionsbeeinträchtigungen ergäben sich bereits aus dem Merkblatt der Wirbelsäule. Die festgestellten Normabweichungen im Sachverständigengutachten sollten im Hinblick auf eine bandscheibenbedingte Erkrankung erläutert werden.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 21.02.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2014 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Erkrankung des Klägers an der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit Nummer 2108 beziehungsweise 2110 Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen und Termin zur mündlichen Verhandlung zu bestimmen und zu diesem den bestellten Sachverständigen, Herrn Professor Dr. M. gemäß § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG zu laden.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Beklagte erwidert am 08.10.2014, dass nach ihrer Auffassung die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.
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Am 16.11.2016 meint die Beklagte, dass keine Beweise für eine falsche Berechnung der arbeitstechnischen Voraussetzungen vorliegen würden.
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Im Erörterungstermin am 11.07.2016 meinte das Gericht, dass Bedenken bestünden, ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen mit 25 MNh erfüllt seien. Der Widerspruchsbescheid berücksichtige die Konsensempfehlungen nicht. Der Kläger stellte klar, dass die Feststellung der Berufskrankheiten Nummer 2108 und 2110 geltend gemacht würden.
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Das Gericht zog die Schwerbehindertenakte bei und holte Auskünfte der B.-Krankenversicherung AG und der F.-Krankenversicherung auf Gegenseitigkeit ein. Befundberichte und Krankenblätter wurden eingeholt bei den Kliniken I., der Klinik J., der Universitätsklinik L., dem P.-Klinikum, der Gemeinschaftspraxis Dres. Q., bei Professor Dr. S., bei Dr. T., bei Dres. U., sowie V., bei Dr. W., Anästhetische Gemeinschaftspraxis X. und bei Dr. Y.
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Das Gericht forderte ein Gutachten von Medizinalrat Professor Dr. M. (Facharzt für Chirurgie, Notfallmedizin) an. Unter dem 22.09.2019 berichtete der Gutachter über die ambulante Untersuchung vom 07.06.2019. Der Kläger habe seit 1995 Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule gehabt, die teilweise das rechte Bein ausgestrahlt hätten. Beschwerden seien auch an der Halswirbelsäule aufgetreten. Es sei ein Bandscheibenvorfall des 6. Halswirbelkörpers nachgewiesen worden. Zum objektiven Befund wurde ermittelt, dass der Kläger 180 cm groß sei und ein Körpergewicht von 119 kg aufweise. Das Achsenorgan Wirbelsäule sei frei beweglich, wobei sich die Bewegungsmaße vollständig im Bereich der physiologischen Norm nach der Neutral-Null-Methode bewegten. Der Finger-Boden-Abstand betrage 24 cm. Die Dehnbarkeit der Wirbelsäule anhand des Zeichens von Ott sei normal zu ermitteln. Die Dehnbarkeit der Lendenwirbelsäule nach Schober ist leicht vermindert zu bestimmen. Es bestehe kein typisches funktionales Defizit. Das Beweisthema sei dahingehend zu bewerten, dass der Kläger von einer Gesamtexposition von 13 MNh auszugehen sei. Dies ergebe sich auf eine Exposition während der Ausbildungszeit von 1,3 MNh und 11,7 MNh für die berufliche Tätigkeit. Der Beratungsarzt habe zutreffend festgestellt, dass der Bandscheibenschaden an der Halswirbelsäule schwächer ausgeprägt sei als eine Lendenwirbelsäule. Der Bandscheibenvorfall bestehe beim Kläger seit 1991 und sei damit bereits im Alter von 21 Jahren aufgetreten. Berufliche Belastungen hätte zu diesem Zeitpunkt nicht bestanden, sodass es sich um einen schicksalhaften Befund handele. Die Erkrankung der Lendenwirbelsäule muss fortbestehend sein und damit auch nach dem Ende der schädigenden Exposition vorliegen. Zum Untersuchungszeitpunkt habe eine mit dem Bandscheibenschaden korrelierende klinische Symptomatik nicht vorgelegen. Es bestehe eine sehr viel höhere Korrelation von chronischem Rückenschmerz zum Sozialstatus, Arbeitsplatz-Unzufriedenheit, Alter/Übergewicht, mangelnde Fitness und Schmerz-Fehlverarbeitung als zur berufsbedingten Bandscheibenerkrankung. Im vorliegenden Fall sei festzustellen, dass zwar eine Erkrankung der Bandscheiben an der Hals- und Lendenwirbelsäule des Klägers vorliegt, wobei der Beginn der Bandscheibenerkrankung in der Lendenwirbelsäule auf das 21. Lebensjahr zurücklegt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger noch keine ausreichende Exposition im Sinne der Berufskrankheit Nummer 2108 Berufskrankheitenverordnung erreicht Da bereits das typische und in den Konsensempfehlungen geforderte Krankheitsbild nicht vorliegt, sind weitere Untersuchungen zum Chondrosegrad, zum Auftreten von Begleitspondylosen usw. vollständig entbehrlich. Beim Kläger liege der Befund Konstellation A1 vor. Eine ausreichende Exposition liege zumindest grenzwertig vor. Nach dem Messblatt ist eine Seitneigung rechts/links von jeweils 40° und Drehung rechts links von jeweils 70° möglich. Zeichen nach Schober beträgt 10/13.
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Die Beteiligten wurden zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.
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Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Prozessakten sowie auf die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Nach § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (Satz 1). Die Beteiligten sind vorher zu hören (Satz 2).
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Der Sachverhalt ist nach Einholung des Gutachtens von Professor Dr. M. vom 22.09.2019 hinreichend geklärt. Es bedurfte auch nicht der Ladung des Gutachters, da der Kläger Fragen zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen formulierte, die der Gutachter aber als gegeben erachtet („Konstellation A1“ Konsensempfehlung). Zudem war der Beweisantrag des Klägers fehlerhaft gestellt, da Professor Dr. M. Gutachter nach § 106 Abs. 3 Nummer 4 SGG war und nicht nach § 109 SGG. Anträge nach § 109 SGG waren binnen 6 Wochen nach Zugang des Gutachtens zu stellen. Der Antrag vom 03.01.2020 dient damit ersichtlich der Verzögerung des Verfahrens. Die Interpretation des Messblatts ist keine gutachterliche Tatsachenfeststellung, sondern auf der Grundlage der unfallrechtlichen Standardliteratur und durch Kenntnis der Rechtsprechung des Bayerischen Landessozialgerichts für jedermann möglich.
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Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 21.02.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2014, mit dem die Feststellung einer Berufskrankheit und die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung abgelehnt wurden.
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Die Klage ist zulässig, insbesondere statthaft. Dem Anliegen des Klägers entspricht die erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Versicherte haben bei Eintritt einer Berufskrankheit Anspruch auf deren Feststellung.
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Die Klage ist unbegründet, da die angefochtenen Bescheide rechtmäßig sind und der Kläger keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung hat.
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Rechtsgrundlage für die Anerkennung der begehrten Berufskrankheit ist § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII i.V.m. Nr. 2108 und 2110 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung. Berufskrankheiten sind gem. § 9 Abs. 1 SGB VII grundsätzlich nur diejenigen Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet (Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. In der Anlage 1 zur BKV ist die BK 2108 als bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können bezeichnet.
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Zur näheren Interpretation besteht das Mainz-Dortmunder-Dosismodells (MDD). Allerdings sind dort die unbestimmten Rechtsbegriffe „langjähriges“ Heben und Tragen „schwerer“ Lasten oder „langjährige“ Tätigkeit in „extremer Rumpfbeugehaltung“ nur ungenau und allenfalls nur richtungsweisend umschriebenen Einwirkungen genannt. Das Bundessozialgericht hat das MDD weiterentwickelt und in mehreren Punkten modifiziert. Deshalb ist nunmehr die Hälfte des Orientierungswertes nach MDD von dann 12,5 MNh der Dosisbelastung zu Grunde zu legen (jüngst etwa Urteil vom 06.09.2018 - B 2 U 13/17 R -, Rn. 16 f.)
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Eine Berufskrankheit Nummer 2110 besteht bei einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können bezeichnet.
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Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt für die Beweiswürdigung, dass die Tatsachen, die die Tatbestandsmerkmale „versicherte Tätigkeit“, „Verrichtung“, „Einwirkungen“ sowie „Gesundheitsschaden“ im Grad des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen müssen. Demgegenüber genügt für den Nachweis der naturphilosophischen Ursachenzusammenhänge zwischen diesen Voraussetzungen der Grad der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die Glaubhaftmachung und erst recht nicht die bloße Möglichkeit.
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Für die Anerkennung einer Berufskrankheit bzw. von Berufskrankheitenfolgen gelten in der gesetzlichen Unfallversicherung folgende Grundsätze: Es müssen die gesundheitsschädlichen beruflichen Einflüsse, d. h. hier die arbeitstechnischen Voraussetzungen, und die Erkrankung als solche mit Gewissheit bewiesen werden. Für die Feststellung eines Zusammenhanges zwischen der versicherten Tätigkeit und den beruflichen Einwirkungen (haftungsbegründende Kausalität) und den Zusammenhang zwischen den beruflichen Einwirkungen und dem Gesundheitsschaden (haftungsausfüllende Kausalität) ist darüber hinaus ein hinreichender Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich. Dieser ist nach der Rechtsprechung erst dann erreicht, wenn bei einem vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf eine berufliche Verursachung hinweisenden Faktoren deutlich überwiegen. Eine Entstehungsmöglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden.
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Der Kläger war bei seiner beruflichen Tätigkeit Versicherter im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII. Ob der Kläger Einwirkungen ausgesetzt war, die zu Berufskrankheit nach BK 2108 oder 2110 führen können, kann dahinstehen, da es am erforderlichen Vollbeweis eines Gesundheitsschadens fehlt. Der Kläger kann damit nicht geltend machen, dass seine Lendenwirbelbeschwerden Folgen einer Berufskrankheit nach BK 2108 oder 2110 sind.
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Das Gericht folgt bei seiner Beurteilung den überzeugenden Darlegungen des Gutachters Professor Dr. M. im Gutachten vom 22.09.2019. Professor Dr. M. hat überzeugend herausgearbeitet, dass beim Kläger die Konstellation A1 gegeben ist (dazu Bolm-Audorff/Brandenburg/Brüning/Dupuis/Ellegast/Elsner/Franz/Grasshoff/Grosser/Hanisch/Hartmann/Hartung†/Heuchert/Jäger/Krämer/Kranig/Hering/Ludolph/Luttmann/Nienhaus/Pieper/Pöhl/Remé/Riede/Rompe/Schäfer/Schilling/Schmitt/Schröter/Seidler/Spallek/Weber, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule - Konsensempfehlungen, Trauma und Berufskrankheit 2005/3, S. 217). Danach ist eine Berufskrankheit abzulehnen, wenn der Exposition ausreichend ist, aber keine gesicherte bandscheibenbedingte Erkrankung vorliegt.
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In der Tat liegt beim Kläger keine wesentliche bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule vor. Professor Dr. M. hat eine Seitneigung rechts/links von jeweils 40° und Drehung rechts/links von jeweils 70° festgestellt. Das Zeichen nach Schober beträgt 10/13. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017 8.3.1.9, Seite 470 erläutert diese Messmethode. Dabei wird im Stehen des Probanden ein Punkt 10 cm oberhalb des Dornfortsatzes am Kreuzbein kranial (zum Kopf hin) ausgemessen. Nach einer Beugung des Probanden nach vorne wird der Abstand zwischen den beiden Punkten erneut bestimmt. Diese Entfernung ist bei bester Beweglichkeit dann 15 cm, also 10/15. Die Verkürzung um 2 cm deutet, wie Dr. M. zutreffend wertet, auf eine leichte Verminderung der Dehnbarkeit hin. Der Finger-Boden-Abstand wurde mit 24 cm bestimmt.
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Die Messwerte sprechen für eine gute Beweglichkeit. So hat das Bayerische Landessozialgericht (Urteil vom 12. Juli 2017 - L 2 U 100/11 -, Rn. 87) eine solche bei möglicher Seitneigung um 30°, Drehung um 50°, Finger-Boden-Abstand von 30 cm, Zeichen nach Ott von 30 zu 31 cm und lumbalem Schober von 10 zu 14 cm angenommen.
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Bei einer Größe von 180 cm und einem Gewicht von 119 kg des Klägers besteht ein Body Maß Index von 36,7 als Orientierungswert. Damit dürfte von einer Adipositas II nach WHO Standard auszugehen sein, die allein schon einem geringeren Finger-Boden-Abstand entgegensteht.
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Damit trägt weder das Zeichen nach Schober noch aus den Finger-Boden-Abstand die Feststellungen des Klägers, dass eine echte Versteifung der Wirbelsäule und eine erhebliche Funktionsbeeinträchtigung vorliegt. Das Attest von Dr. K.D.
vom 25.10.2004 ist nicht beweiserheblich, da Bandscheibenschäden teilweise remittiert werden können. Dazu führen Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO., 8.3.1.7.3, S. 462 aus, dass ich pädagogische Vorgänge nach einer Bandscheibenverletzung einsetzen. Meist sprießen Blutgefäße von den Längsbändern und der Knochenhaut in die sich zurückbildende Bandscheibe. Dadurch bildet sich als Zwischenstadium ein derbes Narbengewebe, dass letztlich zu einer bindegewebigen narbigen Verbindung der Wirbelkörper führt und genügend festen Halt gibt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.