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LG Ingolstadt, Endurteil v. 07.02.2020 – 31 O 2539/18
Titel:

Schadensersatz wegen Erwerbs eines vom Dieselskandal betroffenen Fahrzeugs

Normenketten:
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
BGB § 823 Abs. 2
Leitsätze:
1. § 27 Abs. 1 EG-FGV macht die Veräußerung, das Angebot und das Inverkehrbringen eines neuen Fahrzeuges davon abhängig, dass es mit einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung gemäß Anhang IX [Typgenehmigungsverfahrens-RL versehen ist. Mit dieser Bescheinigung erklärt der Hersteller des Fahrzeugs gegenüber dem Fahrzeugkäufer, dass es im Zeitpunkt seiner Herstellung den einschlägigen Rechtsakten entspricht. Diese Norm ist jedenfalls auch dazu bestimmt, einen betroffenen Einzelnen vor Beschädigungen zu schützen. Dabei ist es unschädlich, dass die Norm auch oder möglicherweise sogar in erster Linie dem Interesse der Allgemeinheit dienen soll, da der Individualschutz auch im Aufgabenbereich der Norm liegt. (Rn. 11 – 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Übereinstimmungsbescheinigung nicht bereits dann gültig nach § 27 EG-FGV, wenn sie den an sie gerichteten formellen Vorgaben entspricht. Die Angaben des Herstellers im Genehmigungsverfahren zur Erlangung einer Typengenehmigung wären überflüssig, wenn die Genehmigungsbehörde trotz der getätigten Angaben bei der Überprüfung des Fahrzeugs davon ausgehen müsste, dass das Fahrzeug auch über verbotene Einrichtungen verfügen könnte. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abgasskandal, Motor des Typs EA 189, Übereinstimmungsbescheinigung, Individualschutz, RL 2007/46/EG
Rechtsmittelinstanzen:
OLG München, Verfügung vom 22.09.2020 – 28 U 1417/20
OLG München, Endurteil vom 01.12.2020 – 28 U 1417/20
BGH Karlsruhe, Urteil vom 24.03.2022 – VII ZR 266/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 56562

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 17.665,67 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 14.12.2018 Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs Audi A4 mit der Fahrgestellnummer W...4 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte seit dem 14.12.2018 mit der Rücknahme des in Ziff. 1 des Tenors bezeichneten Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von 1.100,51 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 14.12.2018 zu zahlen.
4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
5. Von den Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger 25 % und die Beklagte 75 %.
6. Das Urteil ist für die Parteien jeweils gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar. 
Beschluss
Der Streitwert wird auf 23.600,00 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten um Ansprüche nach einem Pkw-Kauf im Zusammenhang mit dem in den Medien sogenannten Abgasskandal.
2
Der Kläger erwarb am 14.09.2015 von der A. M. GmbH & Co. KG, Düsseldorf, einen Pkw Audi A4 als Gebrauchtwagen. Das Fahrzeug wies eine Laufleistung von 5.406 km auf. Der Kaufpreis belief sich auf 23.600,00 €. Übergabe des Fahrzeugs an den Kläger und Zahlung des Kaufpreises durch den Kläger erfolgten.
3
In das Fahrzeug ist ein Motor des Typs EA 189 der Beklagten verbaut. Das Fahrzeug ist damit unstreitig von dem sogenannten Abgasskandal betroffen.
4
Der Kläger trägt vor, die Laufleistung des Fahrzeugs habe zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung am 08.01.2020 79.483 km betragen. Weiter behauptet der Kläger, die Beklagte habe in der Motorsteuerung des Motors EA 189 eine illegale Abschalteinrichtung verbaut, um die geltenden Abgasnormen zu umgehen. Das Fahrzeug sei daher durch die Beklagte hinsichtlich der zu erwartenden Schadstoffwerte manipuliert worden.
5
Der Kläger meint, das Fahrzeug leide damit an einem erheblichen Mangel, der bereits im Zeitpunkt des Gefahrübergangs auf den Kläger vorgelegen habe. Damit sei die Beklagte gegenüber dem Kläger schadensersatzpflichtig. Der Kläger sei so zu stellen, als hätte er das Fahrzeug nicht erworben. Mithin habe die Beklagte dem Kläger den Kaufpreis für das streitgegenständliche Fahrzeug Zug um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs zu erstatten.
6
Der Kläger beantragt,
1.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei 23.600,00 € nebst Zinsen in Höhe von 4% seit dem 17.09.2015 bis 13.12.2018 und seither 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs Audi A4 mit der Fahrgestellnummer …34 zu zahlen.
2.
Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte seit dem 14.12.2018 mit der Rücknahme des im Klageantrag zu 1. bezeichneten Gegenstands in Annahmeverzug befindet.
3.
Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgungs in Höhe von 1.899,24 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14.12.2018 zu zahlen.
7
Die Beklagte beantragt,
Die Klage wird abgewiesen.
8
Die Beklagte trägt vor, das Fahrzeug sei nicht mangelhaft. Die Beklagte meint, dem Kläger stünden ihr gegenüber keine Ansprüche, insbesondere keine solchen aus § 823 Abs. 2 BGB i.V. m. einem Schutzgesetz oder aus § 826 BGB zu.
9
Das Gericht hat den Kläger angehört. Wegen der insoweit getätigten Angaben wird auf das Protokoll der Sitzung des Landgerichts Ingolstadt vom 28.08.2019 Bezug genommen. Weiter hat das Gericht in Vertretung des Klägers dessen Verfahrensbevollmächtigten angehört. Insoweit wird auf das Protokoll der Sitzung des Landgerichts Ingolstadt vom 08.01.2020 Bezug genommen. Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die gegenseitig gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

10
Die zulässige Klage ist zum Teil aus §§ 823 Abs. 2 BGB, 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV, 249 ff. BGB begründet.
11
1. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV sind Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB und wurden durch die Beklagte verletzt.
12
a) § 27 Abs. 1 EG-FGV macht die Veräußerung, das Angebot und das Inverkehrbringen eines neuen Fahrzeuges davon abhängig, dass es mit einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung gemäß Anhang IX der RL 2007/46/EG versehen ist. Mit dieser Bescheinigung erklärt der Hersteller des Fahrzeugs gegenüber dem Fahrzeugkäufer, dass es im Zeitpunkt seiner Herstellung den einschlägigen Rechtsakten entspricht.
13
Diese Norm ist jedenfalls auch dazu bestimmt, einen betroffenen Einzelnen vor Beschädigungen zu schützen. Dabei ist es unschädlich, dass die Norm auch oder möglicherweise sogar in erster Linie dem Interesse der Allgemeinheit dienen soll, da der Individualschutz auch im Aufgabenbereich der Norm liegt (BGH, NJW 2012, 1800; BGH NJW 2015, 2737).
14
Zur Überzeugung des Gerichts offenbaren Artikel 26 der RL 2007/46/EG und § 27 Abs. 1 EG-FGV ihren individualschützenden Charakter dadurch, dass sie auf Anhang IX der Richtlinie verweisen, in dem Sinn und Zweck der Übereinstimmungsbescheinigung beschrieben wird. Demnach versichert der Fahrzeughersteller gegenüber dem Erwerber, dass das Fahrzeug gemäß den in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Regelungen hergestellt ist (vgl. Harke, Herstellerhaftung im Abgasskandal, VuR 2017, 83 ff.). Damit hat die Übereinstimmungsbescheinigung quasi den Charakter einer Garantieerklärung.
15
Kommt der Übereinstimmungsbescheinigung somit eine individualschützende Funktion zu, kann nichts anderes für das hierauf aufbauende Verbot des Handelns ohne gültige Übereinstimmungsbescheinigung gelten.
16
b) Die von der Beklagten für das streitgegenständliche Fahrzeug verwendete Übereinstimmungsbescheinigung war zur Überzeugung des Gerichts unrichtig und ungültig im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 1 EG-FGV. Insbesondere ist die Übereinstimmungsbescheinigung nicht bereits dann gültig nach § 27 EG-FGV, wenn sie den an sie gerichteten formellen Vorgaben entspricht. Die Angaben des Herstellers im Genehmigungsverfahren zur Erlangung einer Typengenehmigung wären überflüssig, wenn die Genehmigungsbehörde trotz der getätigten Angaben bei der Überprüfung des Fahrzeugs davon ausgehen müsste, dass das Fahrzeug auch über verbotene Einrichtungen verfügen könnte. Die Beklagte hat bei dem Antrag auf Erteilung der Typengenehmigung das Vorhandensein der im Motor EA189 verbauten Abschalteinrichtung verschwiegen.
17
2. Der Verstoß gegen das Schutzgesetz war kausal für die Kaufentscheidung des Klägers. Es ist davon auszugehen, dass die Daten der Übereinstimmungsbescheinigung auf die Kaufentscheidung des Käufers Einfluss haben, ohne dass es darauf ankäme, welchen konkreten Inhalt die Kaufverhandlungen, die zum Erwerb des streitgegenständlichen Fahrzeugs führten, hatten. Der Käufer wird regelmäßig ein Fahrzeug erwerben wollen, das den gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Vorschriften entspricht.
18
3. Die Täuschungshandlung ist der Beklagten als Herstellerin des Fahrzeugs zuzurechnen.
19
Die jeweils verantwortlichen Mitarbeiter der Beklagten haben vorsätzlich eine falsche Übereinstimmungsbescheinigung im Sinne des § 6 Abs. 1 EG-FGV für das Fahrzeug
ausgestellt. Der Beklagten als etablierter Fahrzeugherstellerin muss die Kenntnis der Typengenehmigungsvoraussetzungen für ihre eigenen Fahrzeuge unterstellt werden, so dass die Abgabe der Übereinstimmungserklärung, die auf falschen Tatsachenangaben beruht, nur vorsätzlich denkbar ist.
20
Die Handlungen, die zur Erteilung einer unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung geführt haben, sind der Beklagten nach §§ 831, 31 BGB zurechenbar.
21
Über § 831 BGB ist der Beklagten das Verschulden der Mitarbeiter zuzurechnen, die in den für die Motorenentwicklung zuständigen Abteilungen für die Entwicklung und den Einsatz des Motors EA189 verantwortlich waren. Der bewusste Einbau der von der Beklagten so bezeichneten „Umschaltlogik“ in die Motorsteuerungssoftware durch diese Mitarbeiter steht für das Gericht außer Zweifel.
22
Zudem haftet die Beklagte gemäß § 31 BGB für ihre Repräsentanten, also ihren Vorstand. Dabei bedarf es keiner konkreten Feststellung, welcher Repräsentant der Beklagten vorsätzlich handelte. Dies festzustellen ist dem Kläger, der keine Einblicke in die betriebsinterne Aufgabenverteilung der Beklagten hat, nicht möglich. Der Beklagten wäre es im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast obliegen, den entsprechenden klägerischen Vortrag zu entkräften oder die für sie handelnden Repräsentanten zu benennen. Beides ist nicht erfolgt.
23
Es kann damit dahinstehen, ob auch ein etwaiges eigenes Organisationsverschulden der Beklagten vorlag, ob also die unrichtige Erteilung der Übereinstimmungsbescheinigung hätte abgewendet werden können, wenn andere Angestellte oder Organe der Beklagten ihrer Überwachungsfunktion gerecht worden wären und den Einsatz der Software im Motor entdeckt hätten.
24
Dem Kläger ist durch die Bindung an den nicht erwartungsgerechten Kaufvertrag ein Schaden entstanden, der einen Schadensersatzanspruch auf Rückabwicklung des Fahrzeugerwerbs auslöst; §§ 249 ff. BGB. Ohne das haftungsauslösende Verhalten der Beklagten, die Ausstellung der unrichtigen Bescheinigung, hätte der Kläger den Kaufvertrag über das streitgegenständliche Fahrzeug nicht geschlossen.
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5. Im Rahmen der Rückabwicklung ist auf den Rückzahlungsanspruch des Klägers eine Entschädigung für die Nutzung des Fahrzeugs durch den Kläger anzurechnen.
26
Aufgrund der Angaben des Bevollmächtigten des Klägers in der Sitzung des Gerichts vom 08.01.2020, die dem Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung entspricht, ist das Gericht davon überzeugt, dass das streitgegenständliche Fahrzeug zu diesem Zeitpunkt einen Kilometerstand von 79.483 aufwies. Das Gericht schätzt nach § 287 ZPO die potentielle Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs auf 300.000 km. Damit ergibt sich eine dem Kläger anzurechnende Nutzungsentschädigung von 5.934,33 €. Sie errechnet sich aus der zum Zeitpunkt des Kaufs noch möglichen (fiktiven) Gesamtfahrleistung und der tatsächlich vom Kläger gefahrenen Kilometerleistung in der Relation zum Kaufpreis. Mithin verbleibt ein klägerischer Anspruch auf Rückzahlung von 17.665,67 €.
27
6. Der Anspruch auf Rückforderung des Kaufpreises ist wie aus dem Tenor ersichtlich zu verzinsen, §§ 286, 288 BGB. Eine Verzinsung für den vorangegangenen Zeitraum nach § 849 BGB erfolgt nicht. § 849 BGB erfasst bereits seinem Wortlaut nach nur die „Entziehung einer Sache“ oder die „Beschädigung einer Sache“ und kann nicht erweiternd ausgelegt werden.
28
Dem klägerischen Antrag entsprechend war festzustellen, dass die Beklagte mit der Rücknahme des streitgegenständlichen Fahrzeugs sich im Annahmeverzug befindet. Der Kläger hat mit Anwaltsschriftsatz vom 06.12.2018 der Beklagten die Übergabe des Fahrzeugs in einer den Annahmeverzug begründenden Weise angeboten.
29
Der klägerische Anspruch auf Ersatz außergerichtlich entstandener Rechtsverfolgungskosten beruht auf §§ 286, 288 BGB. Er errechnet sich aus einem Gegenstandswert von 17.665,67 € mit 1.151,00 € (1,3 Geschäftsgebühren zzgl. Telekommunikationspauschale von 20,00 € und MwSt.). Eine höhere Geschäftsgebühr von 2,0, wie sie von dem Kläger begehrt wird, ist nicht anzusetzen. Zwar ist Gegenstand des Rechtsstreits ein komplexer Sachverhalt mit überdurchschnittlicher Schwierigkeit der rechtsanwaltlichen Arbeit. Dem steht aber gegenüber, dass diese Komplexität sich in zahlreichen ähnlich gelagerten Fällen wiederholt. Mit der Vielzahl der Fälle reduziert sich der Aufwand, der für eine singuläre Fallgestaltung eine 2,0 Geschäftsgebühr rechtfertigen würde, jedenfalls für die Anwaltskanzleien, zu denen auch, wie gerichtsbekannt ist, die Klägervertreter gehören, die zahlreiche vergleichbare Fälle bearbeiten. Ein Abweichen von einer 1,3 Gebühr ist damit nicht veranlasst.
30
7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 ZPO.