Titel:
Keine Gruppenverfolgung kurdischer Volkszugehöriger in der Türkei
Normenketten:
EMRK Art. 3, Art. 15 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
AsylG § 3, § 4, § 77 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Kurdische Volkszugehörige unterliegen in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B. v. 23.1.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89, BeckRS 9998, 48099 m.w.N.; BVerwG, B. v. 24.2.2015 - 1 B 31/14, BeckRS 2015, 43199). (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. Kurdischen Volkszugehörigen steht in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U. v. 7.4.2016 - 3 A 557/13.A, BeckRS 2016, 45428; BayVGH, B. v. 22.9.2015 - 9 ZB 14.30399, BeckRS 2015, 53580). (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es besteht aber eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (vgl. VG Aachen, U. v. 5.3.2018 - 6 K 3554/17.A, BeckRS 2018, 4654). (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
türkischer Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, Ausreise auf dem Landweg, Verhaftung und Verurteilung wegen angeblicher Selbstjustiz als Mitglied in einem Verein für Menschen- und Frauenrechte bei einer versuchten privaten Konfliktlösung, Verhaftung und Verurteilung in der Türkei u.a. wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation, Anerkennung als Asylberechtigter, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Lebensunterhalt, Furcht vor Verfolgung, Untersuchungshaft, politische Lage, Türkei, Rückkehrgefährdung, Gruppenverfolgung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 5649
Tenor
I. Unter Aufhebung von Ziffer 1, 3 bis 6 ihres Bescheids vom 19. Oktober 2018, soweit sie der folgenden Verpflichtung entgegenstehen, wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt mit seine Klage die Zuerkennung von Flüchtlings- und subsidiärem Schutz sowie die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
2
Der durch Nüfus und Reisepass ausgewiesene und am ... 1992 in ... in der Türkei geborene ledige Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit ohne Religionszugehörigkeit und hielt sich vor seiner Ausreise zuletzt in ... in der Provinz ... in der Türkei auf (BAMF-Akte Bl. 57). Er reiste nach eigenen Angaben am 10. Oktober 2017 aus der Türkei aus und per Lkw am 16. Oktober 2017 unerlaubt nach Deutschland ein, wo er Asyl beantragte.
3
In seiner auf Türkisch geführten Dublin-Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 26. Oktober 2017 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 32 ff.), er habe keine Verwandten in Deutschland und schilderte seinen Reiseweg.
4
In seiner auf Türkisch geführten Anhörung vor dem Bundesamt am 21. November 2017 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 56 ff.), sein Vater sei verstorben, seine Mutter lebe unter seiner Heimatanschrift. Zwei Brüder seien Studenten, der ältere habe ein Stipendium; sie bestritten ihren Lebensunterhalt mit Hilfe der Hinterbliebenenrente des Vaters. Weitere Verwandte im Heimatland seien drei ledige Brüder und sechs Schwestern mit ihren Familien, Großfamilie. Ihnen gehe es soweit gut. Es gebe keine Probleme (ebenda Bl. 58).
Der Kläger habe die Grundschule und die Mittelschule besucht und mit Abitur abgeschlossen. Danach habe er 6 Semester Wirtschaft an der Universität ... in ... studiert, jedoch nicht abgeschlossen. Später habe er an der Universität ... in ... Ersthelfer studiert. Er habe keinen richtigen Beruf erlernt, sei nur Schüler und Student gewesen und habe seinen Lebensunterhalt im Heimatland bestritten, indem ihn die Familie mit Hilfe der Rente nach seinem Vater versorgt und er manchmal in der Gastronomie ausgeholfen habe (ebenda Bl. 58 f.). Wehrdienst habe er nicht geleistet; er sei politisch aktiv gewesen und habe Probleme mit der Polizei oder anderen staatlichen Behörden gehabt (ebenda Bl. 59).
Zu den Gründen für seinen Asylantrag gab der Kläger an, im Jahr 2010 habe er in ... eine Zulassung an der Universität erhalten. ... sei eine Stadt, in der Kurden nicht so willkommen seien. In dieser Stadt würden sie gehasst. Die Stadt sei konservativ. Er habe sehr viel Wert auf Frauenrechte gelegt. Er habe im Verein für Menschenrechte gearbeitet. Der Verein sei durch Demonstrationen und verschiedene Aktivitäten sehr bekannt gewesen, ihre Aktivitäten seien legal und friedlich. Es habe seitens des Staates Angriffe auf diesen Verein gegeben - z. B. in 2013 sei eine Frau namens ... misshandelt und vergewaltigt worden und habe ihnen erzählt, dass ... sie vergewaltigt habe. Er machte sie mit Hilfe von Drogen bewusstlos und machte anschließend Fotos von ihr und vergewaltigte sie. Er drohte, die Aufnahmen ihrer Familie zu zeigen. Sie sei zum Verein gekommen, um Hilfe zu bekommen. Daraufhin seien sie zu ... gegangen, um mit ihm zu sprechen und wollten, dass er ihnen die Aufnahmen aushändige. Er habe den Besitz der Fotos verneint. Er habe sie anschließend bei der Polizei angezeigt und dort eine Falschaussage bei der Polizei gemacht, gemäß derer sie Terroristen seien und ihn bedroht, entführt und geschlagen hätten. Deshalb habe der Kläger den Studienplatz an der Universität verloren und sei ein Jahr inhaftiert gewesen und sollte zu einer elfjährigen Haftstrafe verurteilt werden (ebenda Bl. 59).
Dieses Urteil sollte von einer gerichtlichen Instanz noch bestätigt werden. Alles, was er in der Türkei getan habe, sei als Terroraktivität eingestuft und er gesellschaftlich von allen Seiten unterdrückt worden. Er sei nur ein einfacher Student und nicht bewaffnet gewesen. Obwohl es keine Beweise gab, habe er eine Haftstrafe über 11 Jahre bekommen. Die Polizei sei vor ihrem Haus aufgefahren und habe die Familie bedroht, dass sie ihn mitnehmen würden. Er habe kein Führungszeugnis bekommen können (ebenda Bl. 60).
Er sei nicht nach Deutschland gekommen, um staatliche Hilfe zu bekommen. Er wolle wie ein Mensch friedlich leben. Da sie Kurden seien, würden sie in der Türkei unterdrückt. Die Türkei habe keinen Respekt gegenüber Frauen- und Kinderrechten, gegenüber Freiheit und der Politik. Besonders in den letzten vier Jahren habe die Zusammenarbeit der Türkei mit dem IS - Islamischer Staat - im Krieg gegen die Kurden dazu geführt, dass die Türkei aus der Situation nicht mehr rauskomme. Er habe die Türkei verlassen, um nicht politisch verfolgt zu werden und im Gefängnis gefoltert und getötet zu werden. Sofern man gegen die Erdogan-Regierung sei, könne man nicht arbeiten oder leben (ebenda Bl. 60).
Er sei einige Male in Untersuchungshaft gewesen und psychisch unter Druck gesetzt und von der Polizei und dem Wachpersonal bedroht worden im Zeitraum 2012 bis 2014 (ebenda Bl. 60).
Er sei beschuldigt worden, ... an Stelle der Polizei bestraft und geschlagen zu haben, letztlich im Namen der Terrororganisation eine Strafe für ... beschlossen zu haben (ebenda Bl. 60). Auf Frage, ob er nicht ganz normal Anzeige gegen ... hätte erstatten können, gab der Kläger an, es handelte sich um einen legalen Verein für Menschenrechte und sie hätten lediglich versucht, ... zu helfen und dieses Problem zwischen den beiden friedlich zu lösen. Der Verein habe nicht das Recht, diese Strafe zu beschließen. Sie hätten sich der Angelegenheit nur freundschaftlich angenommen. […] Dabei habe ... das gegenüber den Behörden so dargestellt, als ob es sich um einen Fall von Selbstjustiz handelte; er habe zusammen mit einigen Freunden eine Falschaussage gemacht (ebenda Bl. 60).
Der Kläger sei ein Jahr inhaftiert gewesen ab Sommer 2013. Am 13. Mai 2014 sei er freigesprochen worden (ebenda Bl. 60 f.). Es habe ein Haftbefehl vorgelegen; nach einem Jahr Haft hätten vier Gerichtsverhandlungen stattgefunden. Anschließend sei er vorerst freigesprochen worden. Das Strafmaß habe 11 Jahre Haft betragen und darüber musste noch eine höhere Instanz entscheiden (ebenda Bl. 61).
Der Tatvorwurf sei eine Tat im Namen einer Terrororganisation gewesen; später seien weitere Anklagen dazu gekommen. Auf Frage nach der Urteilsbegründung für den Freispruch gab er an, seiner Meinung nach, da die Richter der ersten privaten Instanz Gülen-Anhänger waren. Danach sei die Instanz geschlossen und die Akte zur zweiten Instanz weitergeleitet worden; es sei eine Entspannungszeit zwischen Kurden und Türken gewesen. Nachdem ihre Adressen bekannt waren, seien sie vorerst freigelassen worden. Ein Grund sei eigentlich nicht bekanntgegeben worden (ebenda Bl. 61). Es sei in der Türkei so. Man werde zwar freigelassen, aber als Abschreckung gebe es noch eine ungerechtfertigte Strafe und man stehe ständig unter Beobachtung. […] Man habe festgestellt, dass man eine Verurteilung auf dieser Grundlage nicht erreichen kann, sodass versucht werde, etwas anderes zu finden (ebenda Bl. 61).
Auf Vorhalte, dass er im Jahr 2014 freigesprochen worden sei und ein neues Studium in ... habe aufnehmen können, gab der Kläger an, er habe zwar weiter studieren können, aber es sei schwierig gewesen, da seine vorausgegangenen Telefonate abgehört wurden und es so dargestellt worden sei, als ob er mittels Telefon Terroraktivitäten ausgeübt hätte. Deswegen habe er auch zu Gerichtsverhandlungen müssen (ebenda Bl. 61). Hierzu legte er einen Auszug aus seinem aktuell laufenden Gerichtsverfahren vor. Der Auszug sei nicht komplett und enthalte die Protokolle Nr. 1-12 der entsprechenden Anhörungen zwischen 18. Februar 2016 und 12. Oktober 2017. Im Rahmen des Dossiers Nr. 2015/247 wäre ihm die Mitgliedschaft und Propaganda in einer Terrororganisation auf Grund von abgehörten Telefonaten vorgeworfen worden. Es ginge auch darum, dass der Kläger Vollzugsbeamte an der Ausführung ihrer Arbeit behindert habe (ebenda Bl. 61).
Auf Frage nach der ihm vorgeworfenen Mitgliedschaft in der Terrororganisation nannte der Kläger die PKK, wobei er für sich ebenso verneinte, Mitglied in der PKK zu sein, wie Unterstützer der PKK oder Sympathisant der PKK (ebenda Bl. 62). Auf Frage nach den Motiven der Behörden, ihm die Mitgliedschaft in der PKK vorzuwerfen, gab er an, der einzige Grund sei, dass er Kurde sei. Es ginge auch um die Falschaussage des, obgleich diese Hilfsaktion für ... gegen ... eine private Auseinandersetzung gewesen sei, um - wie er bejahte - ... freundschaftlich zu helfen. Der Kläger und seine Freunde hätten auf privater freundschaftlicher Basis agiert und mit dem Verein nichts zu tun. Der Verein versuche, für die Rechte dieser Frau im Rahmen des Gesetzes zu kämpfen und im Rahmen von Demonstrationen über einzelne Fälle zu informieren. Es sei der Verein „Menschenrechtsverein - ...“ und sei überall in der Türkei vertreten (ebenda Bl. 62).
Auf Frage nach Beweisen im Rahmen des Gerichtsverfahrens für den Vorwurf der PKK-Mitgliedschaft verwies der Kläger auf die Falschaussage des ... und seiner Freunde. Auf Vorhalt, diese Falschaussage stamme jedoch aus dem Jahr 2013 und habe nur mit der Angelegenheit von Frau ... und dem privaten freundschaftlichen Einsatz zu tun, erklärte der Kläger, ... habe über die Mitgliedschaft im Menschenrechtsverein Bescheid gewusst und deswegen habe er die Falschaussage gemacht. Die Polizei habe darauf hingewirkt, dass ... so aussage, dass der Verein als Terrororganisation erscheine (ebenda Bl. 62).
Auf Vorhalt, der Menschenrechtsverein bestehe offensichtlich noch, statt als vermeintliche Terrororganisation verboten zu sein, erklärte der Kläger, nicht der Verein sei eine Terrororganisation, nur dessen Anhänger bildeten eine Terrororganisation. Es werde versucht, die Kurden, die Anhänger dieses Vereins seien, als Terrororganisation einzustufen (ebenda Bl. 63).
Auf Nachfrage, dass der Kläger vom Vorwurf der PKK-Mitgliedschaft ja freigesprochen worden sei, erklärte er, nachdem einige Personen ihre Aussagen zurückgezogen hätten, sei er nach einem Jahr freigesprochen worden (ebenda Bl. 63).
Der Grund für den erneuten Vorwurf der Mitgliedschaft in der PKK im Jahr 2015 sei seine Teilnahme an Demonstrationen für Demokratie, die als Terrordemonstrationen eingestuft wurden, obwohl sie legal waren, und der Abhörung seiner Telefonate. Von wem diese Demonstrationen von 2010 bis 2012 in ... organisiert wurden, wisse er nicht, es seien viele Studenten darunter. […] Diese Angelegenheit sei nicht im Rahmen des ersten Verfahrens sondern im zweiten Verfahren behandelt worden; im ersten Verfahren handelte es sich um die Angelegenheit der Vergewaltigung und um die Falschaussage und eigentlich könne er es auch nicht nachvollziehen, weshalb er im ersten Verfahren freigesprochen wurde (ebenda Bl. 63).
Auf Nachfragen bestätigte er, die Türkei am 10. Oktober 2017 verlassen zu haben; nach seiner Freilassung im Jahr 2014 nach ... umgezogen zu sein, um weiter zu studieren, und in ... sei drei Jahre lang bis 2017 alles soweit in Ordnung gewesen (ebenda Bl. 63).
Auf Frage nach einem speziellen Ausreiseanlass gab der Kläger an, eigentlich keiner. Es sei darum gegangen, dass viele Festnahmen stattgefunden hätten und dass die höhere Instanz eine Zeit von 4-5 Jahren benötige und es bald soweit gewesen wäre. Es ginge zuletzt auch darum, dass er auf Grund der Eintragung im Führungszeugnis keine Arbeit finden konnte (ebenda Bl. 64).
Auf Nachfrage nach der erst drei Jahre nach den geschilderten Vorfällen getroffenen Entscheidung zur Ausreise räumte der Kläger ein, ihm sei in dieser Zeit in der Türkei persönlich nichts passiert (ebenda Bl. 64).
Sonst habe er innerhalb der Türkei keinen Schutz finden können, da man in der Türkei sowohl als Kurde, als auch als Gülen-Anhänger, festgenommen werde. Dadurch bestehe kein Schutz in der Türkei. Im Fall einer Rückkehr in die Türkei befürchte er, wegen des Ausnahmezustands auch ohne Haftbefehl festgenommen zu werden (ebenda Bl. 64).
5
Auf dem Kontrollbogen bestätigte der Kläger, es habe bei der in türkischer Sprache durchgeführten Anhörung keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben, das rückübersetzte Protokoll entspreche seinen Angaben und diese seien vollständig und entsprächen der Wahrheit (BAMF-Akte Bl. 105).
6
In seiner auf Türkisch geführten Anhörung vor der Zentralen Ausländerbehörde am 27. Februar 2018 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 118 ff.), er habe zehn Semester Notfall-Management in ... studiert und sein ganzes Leben in ... mit der Familie gelebt. Die Reise habe ihn ca. 3.000 Euro gekostet.
7
Der Kläger reichte noch türkische Unterlagen ein (BAMF-Akte Bl. 66-102), welche das Bundesamt teilweise übersetzen ließ (ebenda Bl. 131 ff.).
Einer Übersetzung eines Urteils der 1. Kammer des Schwurgerichts ... vom 13. Mai 2014 (Az. 2013/7) ist u.a. zu entnehmen, dass der Kläger mit weiteren Angeklagten beschuldigt wurde, als Anführer der YDGH als Jugendorganisation der PKK an der Universität ... beschlossen zu haben, die Wohnung von ... zu durchsuchen, um die Richtigkeit einer Beschwerde von ... zu überprüfen. Der Kläger sei als Anführer mit weiteren Angeklagten nachts in die Wohnung des ... gegangen, welcher die Durchsuchung geduldet habe. Man habe die in dieser Wohnung gefundenen Beweise mitgenommen und in der Wohnung eines weiteren Angeklagten überprüft und daraufhin beschlossen, ... über den Vorfall anzuhören. Unter einem anderen Anführer hätten die Angeklagten ... nachts aus seiner Wohnung geholt und in der Wohnung eines anderen Angeklagten befragt. Da ... gewusst habe, dass sie ihn im Namen der Terrororganisation auch zwangsweise mitnehmen würden, sei er mitgegangen und an Händen, Füßen und Mund gebunden bis in den Morgen gegen seinen Willen festgehalten worden. Er sei auch vom Kläger verhört worden und darüber sei ein Protokoll verfasst worden. Als ... mitbekommen habe, dass ihm wahrscheinlich eine schwere Strafe auferlegt würde, sei er aus dem 2. Stockwerk des Gebäudes in den Garten gesprungen, geflohen und habe anschließend den Vorfall den Sicherheitskräften gemeldet. Gegen den Kläger und weitere Angeklagte habe die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung nach Art. 314 Abs. 2 TCK (türkisches Strafgesetzbuch) und nach Art. 37 Abs. 1 TCK beantragt und Beweise vorgelegt. Die Angeklagten hätten sich damit verteidigt, dass ... entführt, sexuell belästigt, gequält und unter Gewaltanwendung misshandelt worden sei, sodass es richtig gewesen sei, gegen dieses unmoralische Handeln vorzugehen. Alles sei seitens der Polizei aber entsprechend inszeniert worden, um kurdische Studenten vom Studieren abzuhalten; sie beantragten Freispruch und Freilassung. Der Kläger sei wegen Freiheitsberaubung zu einer Haftstrafe von 5 Jahren und wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation zu einer Haftstrafe von 6 Jahren und 3 Monaten und damit insgesamt zu einer Haftstrafe von 11 Jahren und 3 Monaten verurteilt worden, wobei die Dauer der Untersuchungshaft von einem Jahr auf die Haftstrafe angerechnet wurde und er unter der Bedingung gerichtlicher Auflagen freigelassen wurde. Weitere Dokumente wurden durch das Bundesamt nicht übersetzt (ebenda Bl. 134 ff.), sondern zusammengefasst (ebenda Bl. 156 ff.), wonach es sich um das Protokoll über die richterliche Befragung der Angeschuldigten einschließlich des Klägers am 21. Juni 2013 bis 22. Juni 2013 handelte, worin ihnen Freiheitsberaubung und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation vorgeworfen werde und der Kläger eine Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation bestreite. Gegen den Beschluss des Einzelrichters über die Fortdauer der Untersuchungshaft habe ein Anwalt vergeblich Beschwerde eingelegt. Weiter handele es sich um die staatsanwaltschaftliche Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ... vom 25. September 2013 über die Daten der Tat, die Festnahme der Angeklagten und die näheren Personendaten des Klägers mit näherer Begründung dahin, dass es allein Aufgabe des Staats sei, Befragungen durchzuführen, Verurteilungen auszusprechen und Bestrafungen zu vollstrecken; da die PKK mit Personen mit kurdischen Wurzeln in kurdischen Gebieten einen eigenen Staat aufbauen wolle und auch Studenten hierzu Vereinigungen bildeten, werde dies auch im vorliegenden Fall als Anschlag auf die staatliche Hoheit angenommen. Weiter sei das Protokoll der Gerichtsverhandlung vom 11. November 2013 (Az. ...) enthalten, wobei der Kläger eine teilweise falsche Aussage aus Angst bei der Polizei einräumte und behauptete, mit den anderen Angeklagten zusammen ... auf dessen Einladung hin in dessen Wohnung besucht zu haben und aufgefordert zu haben, Bilder der ... zu löschen; da ... seine Bilder gezeigt und sich darunter kein Foto der Frau befunden habe, sei die Sache geklärt gewesen. Der Kläger habe auch jeden Bezug zur PKK bestritten. Weiter sei eine Entscheidung über die Vertagung der Gerichtsverhandlung vom 18. Februar 2016 auf den 13. April 2016 enthalten. Von dieser wiederum sei das Protokoll (Az. 2015/247) wiedergegeben einschließlich der Einlassung des Klägers und des Bestreitens der gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Er räume darin allerdings auch ein, bei einer Pressekonferenz hinsichtlich Uludere teilgenommen zu haben, welche rechtlich genehmigt gewesen sei. Weiter räumte er anhand von vorgelegten Fotos die Teilnahme an Demonstrationen ein. Der Kläger sei weiter vom Erscheinen zu künftigen Gerichtsterminen entbunden worden. Ein weiterer Gerichtstermin mit Protokoll vom 12. Oktober 2017 (Az. ...) sei auf den 16. Januar 2017 (möglicherweise 2018 gemeint) verlegt worden und beschlossen worden, dass der Kläger, der aufgrund beruflicher Hindernisse nicht an der Verhandlung habe teilnehmen können, über die nächsten Gerichtstermine durch das System UYAP Kenntnis erlangen dürfe.
8
Auf dem Kontrollbogen bestätigte der Kläger, es habe bei der in türkischer Sprache durchgeführten Anhörung keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben, das rückübersetzte Protokoll entspreche seinen Angaben und diese seien vollständig und entsprächen der Wahrheit (BAMF-Akte Bl. 105).
9
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 19. Oktober 2018 den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) sowie auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG ab (Nr. 4). Die Abschiebung in die Türkei wurde androht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen, weil der Kläger eine Verfolgung im Herkunftsstaat nicht habe glaubhaft machen können. Zwar sei der Kläger von der 1. Kammer des Schwurgerichts ... am 13. Mai 2014 wegen Freiheitsberaubung und wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation zu 11 Jahren und 3 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden und in einem weiteren Verfahren (Az. ...) vom 13. April 2016 werde dem Kläger Antragsteller die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, Propaganda für eine bewaffnete Terrororganisation und Widerstand gegen Streitkräfte zur Last gelegt. Doch sei der Kläger vor legitimer Strafverfolgung geflohen und damit grundsätzlich kein Flüchtling; Anhaltspunkte für eine willkürliche Bestrafung wegen unterstellter politischer Anschauungen („Politmalus“) lägen hingegen nicht vor. Nach eingehender Sichtung der vom Kläger eingereichten Beweismittel habe der Entscheider die notwendige Gewissheit erlangt, dass das Verfahren in der Türkei rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprochen habe; so sei der Kläger von der 1. Kammer des Schwurgerichts ... unter gerichtlichen Auflagen freigelassen worden und habe in ... ein weiteres Studium beginnen können; von einer weiteren Verhaftung seit der Freilassung im Jahr 2014 bis zu seiner Ausreise im Jahr 2017 habe er nichts berichtet noch beweiskräftiges Material dem Bundesamt vorgelegt. Zudem sei das Urteil vor dem Putschversuch im Juli 2016 ergangen, also vor dem Beginn der massenhaften Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten. Auch bei der neuerlichen Anklage wegen der Teilnahme an Demonstrationen in den Jahren 2010 bis 2012 sei nicht zu erkennen, dass dies zur Verfolgung eines politischen Gegners instrumentalisiert wurde. So sei der Kläger anwaltlich vertreten und das Gerichtsverfahren verlegt worden, da der Kläger aufgrund beruflicher Hindernisse nicht an der Verhandlung teilnehmen konnte. Auch sei der Kläger nachweislich nicht am Putschversuch im Jahr 2016 beteiligt, was ein gesteigertes strafrechtliches Interesse an seiner Person begründen könnte. Dass der türkische Staat den Kläger auf freiem Fuß belassen und ihm sogar noch am 18. September 2017 einen Reisepass ausgestellt habe, spreche gegen ein gesteigertes Interesse an einer strafrechtlichen Verfolgung seiner Person. Dass der Kläger die Türkei auch deswegen verlassen habe, weil er aufgrund der Eintragungen in seinem Führungszeugnis in der Türkei keine Arbeit gefunden habe, lasse erkennen, dass seine begründete Furcht vor Verfolgung nicht so gravierend sei, dass sie eine schwerwiegende Verletzung seiner grundlegenden Menschenrechte darstelle. Daher bestehe keine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung des Klägers, weil er in der Türkei als tatsächlicher oder potentieller Unterstützer etwa der PKK oder anderer terroristischer eingestufter Organisationen angesehen würde. Sonstige asylrelevante Übergriffe gegen sich habe er nicht berichtet. Ihm drohe auch nicht die Verhängung oder Vollstreckung der in der Türkei abgeschafften Todesstrafe oder Folter in Haft. Seine gegenteilige Befürchtung, wie zuvor behauptet psychisch unter Druck gesetzt und von der Polizei bedroht worden zu sein und bei einer Rückkehr in die Türkei im Gefängnis gefoltert und getötet zu werden, sei übersteigert und nicht glaubhaft. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen daher ebenfalls nicht vor. Auch Abschiebungsverbote seien nicht ersichtlich. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in der Türkei würden nicht zu der Annahme führen, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege, insbesondere er menschenunwürdigen Haftbedingungen. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei angemessen. Schutzwürdige Belange seien nicht vorgetragen worden.
10
Gegen diesen am 25. Oktober 2018 zur Post gegebenen Bescheid ließ der Kläger am 2. November 2018 Klage erheben mit dem Antrag:
11
Der Bescheid des Bundesamts vom 19. Oktober 2018 wird mit Ausnahme der Ziffer 2 aufgehoben.
12
Die Beklagte wird verpflichtet,
dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen, höchsthilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
13
Weiter begehrte er Prozesskostenhilfe und ließ zur Begründung ausführen, im Protokoll der Anhörung befänden sich Übersetzungsfehler, denn der Kläger habe Rettungssanitäter studiert, also ein eigenes Studienfach in der Türkei. Weiter sei er mit zwei anderen Vereinsmitgliedern zu ... gegangen, um die Aufnahmen ausgehändigt zu erhalten. Zudem sei er nicht freigesprochen sondern freigelassen worden, der Dolmetscher habe dies beim Bundesamt ins Deutsche falsch übersetzt (tahliye - Freilassung), aber bei der Rückübersetzung das richtige Wort im Türkischen verwendet, so dass der Fehler dem Kläger nicht aufgefallen sei. Sein Verfahren laufe in der zweiten Instanz weiter; kurz vor dessen und des weiteren Verfahrens Abschluss sei der Kläger aus Furcht vor einer hohen Haftstrafe ausgereist, nicht wegen Arbeitslosigkeit. Nicht nur die vorausgegangenen sondern alle Telefonate des Klägers seien abgehört und ihm seine politischen Aktivitäten als Terroraktivität ausgelegt worden. Die Polizei habe ... zu einer Aussage derart bewogen, dass diese den Kläger als Mitglied der PKK erscheinen lasse. Der Kläger habe nur einen Reisepass erhalten, weil der zuständige Beamte Gülen-Anhänger gewesen sei.
Der Kläger legte einen Beschluss der 1. Strafkammer des Schwurgerichts in ... vom 13. Mai 2014 (Az. ...) über seine Haftentlassung mit Nachweis über eine Akten-Übersendung an das Kassationsgericht wegen einer Berufung mit Übersetzung vor (Aktenkonvolut vom 21.3.2019 Teil 1); einem undatierten e-Devlet-Auszug mit Übersetzung ist zu entnehmen, dass dieses Verfahren noch anhängig ist. Der Kläger legte weiter einen Eröffnungsbeschluss des 2. Schwurgerichts in ... vom 12. November 2015 (Az. ...) mit Übersetzung vor, wonach eine Anklage gegen den Kläger und weitere Angeklagte wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zugelassen wurde, der Kläger zu laden sei und die Verhandlung für den 18. Februar 2016 terminiert wurde, sowie ein Verhandlungsprotokoll der 2. Strafkammer des Amtsgerichts ... vom 15. November 2018 (Az. ...) mit Übersetzung vor, dem u.a. zu entnehmen ist, dass sich der Verteidiger des Klägers aus beruflichen Gründen als abwesend entschuldigt hätten und eine Fristgewährung zur Vorbereitung der Verteidigung beantragten, was ihm genehmigt wurde. Ein weiterer Auszug mit Übersetzung ist nicht zuzuordnen.
Der Kläger legte weiter einen e-Devlet-Auszug vom 12. September 2019 mit Übersetzungen vor, wonach gegen den Kläger fünf Verfahren in ... beim Bezirksgericht bzw. Schweren Strafgericht anhängig seien (Az. ... Eröffnungsdatum 22.10.2013; Az. ... Eröffnungsdatum 13.3.2014; Az. ... Eröffnungsdatum 12.11.2015; Az. ... Eröffnungsdatum 2.4.2019; Az. ... Eröffnungsdatum 27.6.2019; Aktenkonvolut vom 21.10.2019 Teil 2). Auf diesem e-Devlet Auszug sei der Name des Klägers nicht ersichtlich, er habe aber nur mit seinem Passwort die ihm betreffende Seite öffnen können, wobei auch die anderen Angeklagten im Verfahren genannt würden. Auch die weiteren Beweismittel gehörten zusammen, wobei der Name des Klägers nur einmal genannt werde. Die Nennung des T.C. Verkehr- und Infrastrukturamts sprechen nicht für ein Verkehrsdelikt, sondern nenne die Behörde, welche das e-Devlet im Auftrag des Präsidialamtes unterhalte. Die unterschiedlichen Aktenzeichen ergäben sich daraus, dass im einen Fall das Aktenzeichen der ersten Instanz und im anderen Fall das Aktenzeichen der Rechtsmittelinstanz genannt werde. Der Kläger könne auch in der mündlichen Verhandlung noch mal seinen Zugriff auf das UYAP-System zeigen, wo er unter seinem Namen und seinem Passwort ebenfalls begrenzt Zugriff habe.
14
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie führt aus, angesichts des Tatvorwurfs einer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung könne es sich auch um eine legitime Strafverfolgung des türkischen Staates handeln. Ob hier tatsächlich ein Politmalus angenommen werden könne, sei der Tat-Bezeichnung als solcher nicht zu entnehmen. Dies sei auch im angefochtenen Bescheid ausgeführt. Die ergänzend vorgelegten Unterlagen (Auszüge aus e-Devlet bzw. UYAP) enthielten vielfach keine Namensangabe und seien dem Kläger nicht zuzuordnen; andere Unterlagen nannten andere Aktenzeichen als die den Kläger betreffenden Aktenzeichen der bereits aktenkundigen Verfahren.
15
Die Regierung von ... als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.
16
Mit Beschluss vom 19. November 2019 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen und mit Beschluss vom 15. Januar 2020 Prozesskostenhilfe gewährt. Mit der Ladung übersandte das Gericht eine aktuelle Erkenntnismittelliste.
17
In der mündlichen Verhandlung öffnete der Kläger für den Einzelrichter e-Devlet und zeigte, unter welchen Aktenzeichen die sich auf ihn beziehenden Strafverfahren dort gelistet sind.
Weiter legte er eine strafgerichtliche Entscheidung vor, deren nachgereichter Übersetzung zu entnehmen ist:
„Republik Türkei Verhandlung am 21.12.2018
2. Strafkammer des Schwurgerichts ... Az. ... Protokoll der Verhandlung Rubrum mit Richterbesetzung u.a.
B) soweit sich am Ende der Verhandlung und aus dem Akteninhalt ergibt, haben sich die Angeklagten […, darunter der Kläger] durch die ihnen vorgeworfene Straftat der „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ schuldig gemacht.
1 - sie werden daher gemäß Art. 314 Abs. 2 des Strafgesetzbuches ausgehend von der Untergrenze der Strafzumessung und unter Beachtung der Art der Begehung, der Bedeutung, des Tatortes und der Tatzeit zu einer Freiheitsstrafe von jeweils 5 Jahren verurteilt.
2 - da die Angeklagten der Organisation wissentlich und billigend Hilfe geleistet haben, sie jedoch kein Bestandteil der hierarchischen Struktur der Organisation waren, wird ihr Strafmaß gemäß Art. 220 Abs. 7 des Strafgesetzes bis zu einem Drittel der ursprünglichen Strafe vermindert. Ihre Freiheitsstrafe beträgt ein Jahr und 8 Monate.
3 - gemäß Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 3713 zur Terrorbekämpfung ist die Strafe um die Hälfte zu erhöhen und beträgt für jeden Angeklagten 2 Jahre und 6 Monate.
4 - gemäß Art. 62 des Strafgesetzbuches wird die Freiheitsstrafe unter Beachtung, dass die Angeklagten nicht vorbestraft waren, um 1/6 vermindert und beträgt 2 Jahre und einen Monat.
5 - es sind keine weiteren gesetzlichen oder persönlichen Faktoren zu berücksichtigen, die das Strafmaß erhöhen oder vermindern würden.
6 - als eine gesetzliche Folge der Freiheitsstrafe aufgrund des Vorsatzes bei der Straftat sind die […] Artikel zu beachten. Art. 53 Abs. 1, 2 und 3 des Strafgesetzes Nummer 5237 finden Anwendung.“
18
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten vorgelegte Behördenakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
19
Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 19. Oktober 2018 ist daher in diesem Umfang rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und ist daher aufzuheben.
20
1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
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Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen - den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG - muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
23
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
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Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - juris) entspricht.
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Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 32).
26
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 - 10 B 18/12 - juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 - 10 C 21/08 - juris Rn. 25). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
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Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
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Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
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a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
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Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der - im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte - Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Durch die Verfassungsänderungen des Jahres 2018 ist die Türkei in eine Präsidialrepublik umgewandelt worden, in welcher Staats- und Regierungschef personenidentisch sind: Staatspräsidenten Erdoğan (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 6 f. m.w.N.).
Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan die zahlenstärkste Fraktion darstellt. Die heutige Parteienlandschaft in der Türkei ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die pro-kurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert. Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethno-kulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichten-spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkisch-national empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkisch-säkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnisch-nationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkisch-kurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der Türkei bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Erdoğan und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik - SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f., www.swp-berlin.org).
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In der Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Erdoğans war der o.g. Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzte. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Erdoğan ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl mit 42,5% der Stimmen die relative Mehrheit und zusammen mit den 11,2% Stimmenanteil der mit ihr verbündeten MHP auch die Mehrheit der Parlamentssitze (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 5, 7 f. - im Folgenden: Lagebericht; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 6 f.).
Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wurde Staatspräsident Erdoğan zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 7; Lagebericht ebenda S. 7).
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In der Nacht vom 15./16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdoğan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegen stellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdoğan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung (zu ihrer Entwicklung Lagebericht ebenda S. 4 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 12 f.) für den Putsch verantwortlich. Diese wurde als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 511.646 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 30.000 Personen befinden sich in Haft, darunter fast 20.000 Personen auf Grund von Verurteilungen. Über 154.000 Beamte und Lehrer an Privatschulen wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumte, mehrfach verlängert wurde und zwar am 19. Juli 2018 auslief, aber in einigen Bereichen in dauerhaft geltendes Recht überführt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 4 f. - im Folgenden: Lagebericht; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 7; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 9, 15, 31). Zu diesen Regelungen gehören insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik - SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www.swp-berlin.org; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 8).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9) und dem Verteidigungsminister als ziviler Instanz unterstellt mit der zusätzlichen Befugnis des Staatspräsidenten, den Kommandeuren der Teilstreitkräfte direkt Befehle zu erteilen (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 28). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
33
Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 - (GASP) 2017/1426, Anhang Nr. II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/af-auslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-ist-auslaenderextremismus/ arbeiterpartei-kurdistans-pkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).
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b) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden hat der Kläger nicht zu befürchten. Er gehört zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor.
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Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.
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Kurdische Volkszugehörige zählen etwa 13 Mio. bis 15 Mio. Menschen auf dem Gebiet der Türkei und stellen noch vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 12 f. - im Folgenden: Lagebericht); sie unterliegen demnach aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel - sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden - nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 3.8.2018, S. 15). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 13; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 68). Seit der Verhängung des Notstands aber hat sich die Lage verändert: Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Lagebericht vom 3.8.2018, S. 15).
37
Kurdische Volkszugehörige unterliegen damit in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 - 1 B 31/14 - juris). Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass eine Verfolgung kurdischer türkischer Staatsangehöriger jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zu einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt (im Ergebnis wie hier VG Aachen, U.v. 5.3.2018 - 6 K 3554/17.A - juris Rn. 51 m.w.N.). Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U.v. 7.4.2016 - 3 A 557/13.A; BayVGH, B.v. 22.9.2015 - 9 ZB 14.30399, alle juris). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben (Lagebericht ebenda S. 20).
38
Dies gilt auch für den Kläger, der nicht wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit sondern wegen einer Selbsthilfe zu Gunsten von ... sowie seines Engagements für kurdische politische Belange bei Kundgebungen in den Blick des türkischen Staats geraten ist (dazu sogleich).
39
c) Eine individuelle Verfolgung wegen einer Zurechnung zur PKK hat der Kläger nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in die Türkei zu befürchten.
40
Eine Gruppe, die staatlichen Nachstellungen ausgesetzt ist, sind Personen, denen eine Nähe zur kurdischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) vorgeworfen wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 6, 10 f. - im Folgenden: Lagebericht). Seit Sommer 2015 war die Türkei Ziel terroristischer Anschläge, welche seitens der türkischen Regierung u.a. der PKK zur Last gelegt wurden und Vorwand boten, den zwischen der Regierung und PKK-Chef Öcalan zur Beendigung des seit den 80er Jahren blutig ausgefochtenen Konflikts um eine kurdische Autonomie (zur Vorgeschichte und Entwicklung der PKK vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 17 m.w.N.) erfolgversprechend eingeleiteten Befriedungsprozess mit der PKK abzubrechen. Flankiert von einem nationalistisch ideologisierten Kurs geht die Türkei bedingungslos gegen die PKK vor und nutzt den Vorwurf des Terrorismus auch für weitergehende Freiheitsbeschränkungen und Repressalien. Der seit Juli 2015 nach - der PKK zugeschriebenen - Attentaten wieder militärisch ausgefochtene Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK forderte erhebliche Opfer auf beiden Seiten sowie unter Zivilisten (vgl. AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1). Schwere Waffen wie Panzer und Artillerie sollen dabei sogar in Wohngebieten eingesetzt worden und nach Informationen der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) 321 Zivilpersonen getötet worden sein (vgl. AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 2; dazu auch Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 2 ff.). Neben Angriffen türkischer Sicherheitsorgane auf Stellungen der PKK im Südosten der Türkei kam es dort auch in Städten zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Armee einerseits und Mitgliedern der PKK-Jugendorganisation andererseits (vgl. AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1, 2). Mittlerweile hat die Intensität der Kämpfe auf türkischem Territorium seit Spätsommer 2016 deutlich nachgelassen (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 10 a.E.).
41
Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können (Lagebericht ebenda S. 23; auch BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 11 a.E.).
42
Daher besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 - 6 K 3554/17.A - juris Rn. 51 m.w.N.; auch BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 11 a.E.).
43
aa) Der Kläger ist nicht nach § 3 Abs. 3 und § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Satz 2 AsylG von der Zuerkennung von Flüchtlingsschutz und subsidiärem Schutz ausgeschlossen, da keine Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
44
Der Kläger ist nach den Einlassungen in seiner Klagebegründung und der o.g. Verurteilung zwar wegen des Vorwurfes einer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (PKK) erstinstanzlich und noch nicht rechtskräftig verurteilt worden, allerdings hat er sich, soweit den dokumentierten Vorwürfen und seinem Vorbringen hierzu zu entnehmen, keineswegs aktiv für die in der Türkei, Deutschland und Europa als terroristische Organisation verbotene PKK eingesetzt, sondern dieser Vorwurf wurde gegen ihn im Zusammenhang mit einer letztlich privaten Streitigkeit erhoben. Dass der Kläger deswegen eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt, ist daraus nicht ableitbar.
45
Dies ergibt sich auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Verurteilung durch die 2. Strafkammer des Schwurgerichts ... nach Verhandlung am 21. Dezember 2018 (Az. ...) wegen „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“. Es handelt sich um eine weitere Verurteilung, ohne dass die konkret gegen den Kläger erhobenen Strafvorwürfe ersichtlich sind. Dass er die Tat tatsächlich begangen hat, diese nicht schon in der früheren Verurteilung durch die 1. Strafkammer des Schwurgerichts ... (Az. ...) enthalten ist und er sich erneut einer Straftat schuldig gemacht haben soll, lässt sich den Unterlagen nicht entnehmen, dafür aber die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und einem Monat. Da dem Kläger aber nur die Mitgliedschaft zur Last gelegt wird, jedoch weder an prominenter Stelle in der Hierarchie noch in gewalttätiger Weise, ist keine vom Kläger ausgehende Gefahr auch auf dem Gebiet der Bundesrepublik ableitbar.
46
bb) Der Kläger muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Fall seiner Rückkehr in die Türkei mit einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung rechnen. Ihm droht bei einer Rückkehr eine Strafverfolgung wegen Zurechnung zur PKK und nach den Entlassungen in der Justiz in Folge des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 ist nicht mehr mit einem rechtsstaatlichen Verfahren - sowohl im ersten Strafverfahren in der Berufungsinstanz als auch in einem zweiten erstinstanzlichen Verfahren - zu rechnen.
47
Für die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz kommt es nach § 3 AsylG nicht auf die subjektive Haltung des Schutzsuchenden, sondern auf die ihm vom Verfolger zugeschriebene Haltung an, woraus sich objektiv eine hinreichende Zurechnungswahrscheinlichkeit ergeben muss. Diese liegt hier in der bereits erfolgten erstinstanzlichen Verurteilung vor.
Die Auswertung des vom Kläger in Kopie vorgelegten und von der Beklagten bereits für ihren Bescheid ausgewerteten (BAMF-Akte Bl. 66-102; Übersetzung Bl. 131 ff.) Urteils der 1. Kammer des Schwurgerichts ... vom 13. Mai 2014 (Az. ...) ergibt, dass der Kläger mit weiteren Angeklagten beschuldigt wurde, als Anführer der YDGH (als Jugendorganisation der PKK an der Universität ...) eine mit einer Einzelstrafe/Haftstrafe von 5 Jahren geahndete Freiheitsberaubung begangen und weiter eine mit einer Einzelstrafe/Haftstrafe von 6 Jahren und 3 Monaten geahndete Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation verwirklicht zu haben. Er ist insgesamt zu einer Haftstrafe von 11 Jahren und 3 Monaten verurteilt und wegen des laufenden Rechtsmittelverfahrens vorübergehend auf freien Fuß gesetzt worden. Die Verurteilung erfolgte auch nach Art. 314 Abs. 2 TCK (türkisches Strafgesetzbuch - wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation) und nach Art. 37 Abs. 1 TCK.
48
Dies ergibt sich auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Verurteilung durch die 2. Strafkammer des Schwurgerichts ... nach Verhandlung am 21. Dezember 2018 (Az. ...) wegen „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ (vgl. oben).
49
Dies zusammen genommen, ist damit beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger auf Grund seiner spezifischen Biografie bei einer Rückführung in die Türkei an der Grenze nicht nur identifiziert, sondern auf Grund der o.g. Umstände auch dem Sympathisanten-Umfeld der PKK zugerechnet würde.
50
cc) Dem Kläger droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Fall seiner Rückkehr.
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(1) Vorliegend ist davon auszugehen, dass der Kläger, würde er zurückkehren, dort erneut Ziel solcher staatlicher Maßnahmen werden könnte.
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Wie ausgeführt, ist davon auszugehen, dass er auf Grund der glaubhaft geschilderten strafgerichtlichen Verfahren und des damals nur außer Vollzug gesetzten Haftbefehls im Blickfeld der türkischen Sicherheitsbehörden bliebe und daher die beachtlich wahrscheinliche Gefahr mindestens einer Festnahme bei einer Rückführung bestünde.
53
Ungeachtet der Frage, ob der Kläger bei dieser - im Strafmaß im Vergleich zu den Vorwürfen harten - Verurteilung durch Urteil der 1. Kammer des Schwurgerichts ... vom 13. Mai 2014 (Az. ...) wegen einer ihm vom türkischen Staat zugeschriebenen politischen Haltung zur PKK eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung erlitten bzw. bei einer Rückkehr zu befürchten hat, ist angesichts des Berufungs- und des weiteren noch gegen ihn geführte Verfahrens wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation bei der 2. Strafkammer des Schwurgerichts ... mit Verhandlung am 21. Dezember 2018 (Az. ...) jedenfalls davon auszugehen, dass der Kläger von türkischer Seite der PKK zugerechnet wird. Ob das Strafverfahren damals vor dem Putsch noch rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprach, kann dahinstehen; eine Rechtsmittelentscheidung und eine Entscheidung im neuen Strafverfahren würden jedenfalls heute von der nach den Entlassungswellen personell deutlich veränderten Justiz erlassen, so dass nicht mehr damit zu rechnen ist, dass es sich - sowohl im ersten Strafverfahren in der Berufungsinstanz als auch in einem zweiten erstinstanzlichen Verfahren - noch um ein rechtsstaatliches Verfahren handelte. Darin läge eine Verfolgungsmaßnahme i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung vor:
54
Hinsichtlich der Strafzumessungs- und Strafverfolgungspraxis in der Türkei zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits wurden der Türkei Fortschritte im Bereich der Justiz bescheinigt, andererseits bestehen auch erhebliche Defizite (z.B. teilweise exzessiv lange Dauer der Strafverfahren und der Untersuchungshaft). Die Notstandsdekrete und Gesetzesänderungen im Nachgang des Putschversuchs vom Juli 2016 haben die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt; Massenentlassungen und der Ersatz erfahrener Richter und Staatsanwälte durch unerfahrenes Personal haben zu Kapazitätsengpässen in der Justiz geführt und neben dem auf die Justiz ausgeübten politischen Druck die Aussicht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren eingeschränkt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 14 f. - im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, Stand: 21.8.2019, S. 28 ff.). Ebenso wurde im zweiten Anlauf der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK), welcher u.a. über Verwarnungen, Versetzung oder den Verbleib im Beruf dieser Justizbediensteten entscheidet, einer stärkeren Kontrolle des Justizministeriums unterworfen; im Nachgang zum Putschversuch wurde ein nicht unerheblicher Teil des HSK-Personals (insgesamt 14.993) im Rahmen von Versetzungen ausgetauscht. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden außerdem 4.166 Richter und Staatsanwälte entlassen (vgl. Lagebericht ebenda S. 14; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 13; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, Stand: 21.8.2019, S. 30). Insbesondere in Verfahren wegen des Vorwurfs einer Mitgliedschaft in der PKK, DHKP-C und „FETÖ“ könne nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 14; auch Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 12 ff.).
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Anders als die Beklagte meint, sind die noch laufenden Gerichtsverfahren auch zur Überzeugung des Einzelrichters nachgewiesen; es deutet nichts darauf hin, dass der Kläger freigesprochen worden wäre; nach den Unterlagen ist lediglich der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt und er freigelassen worden:
Gegen das Urteil der 1. Kammer des Schwurgerichts ... vom 13. Mai 2014 (Az. ...) wurde die Berufungsinstanz angerufen. Der Kläger legte auch einen Beschluss der 1. Strafkammer des Schwurgerichts in ... vom 13. Mai 2014 (Az. ...) über seine Haftentlassung mit Nachweis über eine Akten-Übersendung an das Kassationsgericht wegen einer Berufung mit Übersetzung vor (Aktenkonvolut vom 21.3.2019 Teil 1); einem undatierten e-Devlet-Auszug mit Übersetzung ist zu entnehmen, dass dieses Verfahren noch anhängig ist.
Weiter ist ein Gerichtsverfahren anhängig, von dem zunächst das Protokoll (Az. ...) vorgelegt worden ist einschließlich der Einlassung des Klägers und des Bestreitens der gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Der Kläger legte weiter einen Eröffnungsbeschluss des 2. Schwurgerichts in ... vom 12. November 2015 (Az. ...) mit Übersetzung vor, wonach eine Anklage gegen den Kläger und weitere Angeklagte wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zugelassen wurde, der Kläger zu laden sei und die Verhandlung für den 18. Februar 2016 terminiert wurde, sowie ein Verhandlungsprotokoll der 2. Strafkammer des Amtsgerichts ... vom 15. November 2018 (Az. ...) mit Übersetzung vor, dem u.a. zu entnehmen ist, dass sich der Verteidiger des Klägers aus beruflichen Gründen als abwesend entschuldigt hätten und eine Fristgewährung zur Vorbereitung der Verteidigung beantragten, was ihm genehmigt wurde. Zuletzt hat er die Verurteilung durch die 2. Strafkammer des Schwurgerichts ... nach Verhandlung am 21. Dezember 2018 (Az. ...) wegen „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ belegt.
Der Kläger legte weiter einen e-Devlet-Auszug vom 12. September 2019 mit Übersetzungen vor, wonach gegen den Kläger fünf Verfahren in ... beim Bezirksgericht bzw. Schweren Strafgericht anhängig seien, darunter das bekannte (Az. ... Eröffnungsdatum 12.11.2015 Aktenkonvolut vom 21.10.2019 Teil 2), was sich mit dem o.g. Eröffnungsbeschluss gleichen Datums deckt. Zudem öffnete er e-Devlet im Gerichtssaal und zeigte, dass sich die vorgelegten Auszüge auf seine namentlich genannte Person beziehen, der Name lediglich als Teil der Abfragemaske nicht mit ausgedruckt wird (Protokoll vom 4.2.2020 S. 3).
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Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Anders als bei Fällen von allgemeiner Kriminalität sind in Verfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet, insbesondere werden im Südosten Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK oder KCK sowie Fälle mit Gülen-Bezug häufig als geheim eingestuft und eine Akteneinsicht von Verteidigern, bisweilen auch ihre Teilnahme an Befragungen unterbunden. Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung des Putschversuches vom Juli 2016 schränkte das Dekret 668 am 27. Juli 2016 die regulären Verfahrensgarantien für Personen weitreichend ein, auch wenn es mittlerweile entschärft wurde. So reicht für diese Personengruppe u.a. die maximale Dauer des Polizeigewahrsams zunächst 7 Tage mit einer einmaligen Verlängerung um weitere 7 Tage. Außerdem wurde für die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit geschaffen, das Recht von inhaftierten Beschuldigten, ihren Verteidiger zu treffen, für 24 Stunden einzuschränken bzw. für diese Zeit auch jeden Kontakt zu verbieten, nachdem Teile dieser Bestimmungen durch eine Änderung der Notstandsdekrete vom 23. Januar 2017 rückgängig gemacht wurden. Die Kommunikation zwischen Mandanten und Verteidigern kann audio-visuell überwacht werden; in zahlreichen Fällen im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen wurde der überwachte Kontakt mit dem Verteidiger auf bis zu eine Stunde pro Woche in Anwesenheit eines Beamten reduziert und wird mittlerweile wieder zeitlich unbeschränkt gewährleistet (vgl. Lagebericht ebenda S. 15; zu den Verurteilungen am Putsch Beteiligter BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 28).
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Grundsätzliche Probleme werfen die Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte auf, die wegen PKK- oder „FETÖ“-Verdachts Angeklagten beistanden und teils deswegen selbst verhaftet wurden. Angeklagte in diesen Verfahren wegen „Terrorismus“-Verdachts haben Schwierigkeiten, überhaupt noch vertretungsbereite Rechtsanwälte zu finden (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 14 ff.)
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Dass dem Kläger Strafverfolgung droht, ist nach dem Vorstehenden und der Gesamtwürdigung der verfolgungsrelevanten Aspekte also beachtlich wahrscheinlich (vgl. oben).
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(2) Weiter ist davon auszugehen, dass der Kläger, würde er zurückkehren, im Zuge einer Inhaftierung in der Türkei nicht hinreichend sicher ist vor einer Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch Anwendung physischer oder psychischer sowie sexueller Gewalt.
60
In der Behandlung Straftatverdächtiger zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits verfolgt die Türkei offiziell eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter des Staates und hat seit dem Jahr 2008 ihre vormals zögerliche strafrechtliche Verfolgung von hiergegen verstoßenden Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten nachweisbar verbessert. Allerdings kommt es vor allem mangels Kooperation der Behörden bei der Tatsachenfeststellung nur in wenigen Einzelfällen tatsächlich zu Verurteilungen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 16, 22 - im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 33 ff.) Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 kommt es wieder vermehrt zu Folter- und Misshandlungsvorwürfen gegen Strafverfolgungsbehörden. Zwar rückt die Türkei nach Ansicht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen über Folter nach seinem Besuch im November 2016 nicht von ihrer Null-Toleranz-Politik ab. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Putschversuch und im Rahmen des Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die PKK im Südosten des Landes kamen bzw. kommen allerdings Misshandlungen von in Gewahrsam befindlichen Personen vor. Dem entsprechend weist auch der Sonderberichterstatter auf das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit der Null-Toleranz-Politik hin. Ob es darüber hinaus wieder vermehrt zu Misshandlungen im Polizeigewahrsam kommt, kann nach Auffassung des Auswärtigen Amts noch nicht abschließend beurteilt werden, zumal Menschenrechtsorganisationen davon berichten, dass Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert wird und eine unabhängige Überprüfung von Foltervorwürfen nur schwer möglich ist (vgl. Lagebericht, ebenda S. 16, 22; eine Zunahme der Berichte über Misshandlungen in Polizeigewahrsam bestätigt AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2; AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 2; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 17 f.; Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 3). Teils wird auf im Erlassweg eingeräumte Straffreiheit der entsprechend der Notstandsverordnungen tätigen Staatsbediensteten verwiesen (vgl. AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 34). Misshandlungen von am Putschversuch Beteiligter wie Piloten und Offiziere in den ersten Tagen nach dem Putschversuch im Juli 2016 werden aber als gesichert angesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 3; offiziell genehmigte Fotos gefolterter Offiziere bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 20; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 19 f.).
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Das Risiko solcher Misshandlungen ist für der PKK oder der Gülen-Bewegung zugerechnete Personen erhöht, nicht aber für Inhaftierte aus dem Bereich des islamistischen Extremismus wie IS-Verdächtige. Für ein strukturell bestehendes Risiko von Misshandlungen von IS-Verdächtigen oder gehäufte Einzelfälle solcher Misshandlungen gibt es nach Recherchen des Auswärtigen Amts unter Einbeziehung von Menschenrechtsorganisationen keine Anhaltspunkte (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 12.3.2018). Gleichwohl gibt es auch Hinweise, dass selbst wegen der Vertretung von wegen PKK- oder „FETÖ“-Verdachts angeklagter Personen selbst verhaftete Rechtsanwälte in staatlicher Haft misshandelt wurden und das türkische Parlament entsprechenden Beschwerden nicht nachgeht (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 15 ff.)
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Sollte das erste Urteil bestätigt oder gar das weitere gegen ihn rechtskräftig werden, drohte dem Kläger jedenfalls wegen des zugerechneten Terrorbezugs eine Inhaftierung in der Türkei möglicherweise zu unmenschlichen Bedingungen:
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Die Haftbedingungen in der Türkei sind insgesamt schwierig. In der Türkei gibt es zurzeit 389 Gefängnisse, darunter 14 sog. F-Typ-Hochsicherheitsgefängnisse für wegen Terror oder organisiertem Verbrechen verurteilte Häftlinge. In den vergangenen Jahren wurden insgesamt 214 Haftanstalten geschlossen und 164 neue Gefängnisse eröffnet. Die türkischen Gefängnisse waren in den letzten Jahren regelmäßig überfüllt; die Kapazität der Haftanstalten wurde auf 213.862 Plätze bei 260.144 tatsächlich Inhaftierten erhöht; unter den Inhaftierten befanden sich über 57.000 Untersuchungshäftlinge. Mittlerweile seien seit Inkrafttreten des Dekrets Nr. 671 am 17. August 2016 insgesamt 44.800 Häftlinge aus der Strafhaft entlassen worden, darunter Strafhäftlinge, die sich ununterbrochen seit sechs Monaten in einer offenen Haftanstalt befinden oder in einer Jugendhaftanstalt ein Fünftel der Haftstrafe verbüßt haben sowie Strafhäftlinge nach hälftiger Verbüßung ihrer zeitlich begrenzten Haftstrafe, sofern die Straftaten vor dem Stichtag 1. Juli 2016 begangen wurden. Wegen Terrordelikten und Kapitaldelikten wie vorsätzlicher Tötung, schwerer Körperverletzung oder sexuellen Missbrauchs Verurteilte waren hiervon ausgenommen (vgl. Lagebericht ebenda S. 23).
Wegen Terrorismus verurteilte Straftäter verbüßen ihre Haftstrafen in o.g. Hochsicherheitsgefängnis, dessen Bedingungen strenger sind, d.h. in einer Zelle werden z.B. weniger Personen untergebracht (1- bis 4-Personen-Zellen) als in anderen Haftanstalten und die Besuchszeiten für Familienangehörige oder Prozessbevollmächtigte sind kürzer (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21.8.2019 an das VG Augsburg zu Frage 5). Handelt es sich nicht um Terrordelikte, erfolgt der Strafvollzug in gewöhnlichen Haftanstalten (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21.8.2019 an das VG Augsburg zu Frage 6c).
Die Grundausstattung der türkischen Gefängnisse wurde vom Ausschuss des Europarats für die Verhütung der Folter (CPT) im Jahr 2011 als im Großen und Ganzen adäquat eingestuft, wenngleich die Haftbedingungen aufgrund der Überbelegung der Haftanstalten dennoch schwierig seien. Das UN-Komitee gegen Folter (CAT) bemängelte einen Mangel an Gefängnispersonal und medizinischem Personal. Berichte über mangelnden Zugang zur medizinischen Versorgung von kranken Häftlingen seien demzufolge besorgniserregend (vgl. Lagebericht ebenda S. 23 f.; dazu auch BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, Stand: 21.8.2019, S. 62 f.).
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dd) Dem Kläger steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, da derart verdächtige Kurden wie er bereits bis zum Jahr 2016, erst recht aber in der Folgezeit in den Blick der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind und im vorliegenden Einzelfall angesichts des Gesamtzusammenhangs mit seiner persönlichen Vorgeschichte und des Verhaltens der türkischen Justiz, wie es in den vorgelegten Unterlagen dokumentiert ist, von einem nicht nur lokalen oder regionalen sondern landesweiten staatlichen Ergreifungsinteresse unter Invollzugsetzung des geltenden Haftbefehls auszugehen ist.
65
ee) Der Kläger ist zwar wegen seines fast dreijährigen weiteren Aufenthalts in der Türkei nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft im Jahr 2014 nicht mehr in einem schon bestehenden sachlichen und zeitlichen Verfolgungszusammenhang ausgereist. Doch für den Fall der Rückkehr würde eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bevorstehen (vgl. oben).
66
2. Da dem Kläger ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz zukommt, braucht über die gegenüber § 3 AsylG nachrangigen Gewährleistungen des § 4 AsylG und des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht mehr entschieden zu werden. Die weiteren negativen Entscheidungen wie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind daher ebenfalls aufzuheben.
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3. Daher war der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.